Anna Seghers: Briefe an Leser

Einer von den vielen Sätzen, die Christa Wolf über und an Anna Seghers geschrieben hat, lautet: „Über Anna Seghers zu schreiben, kommt mir jedesmal schwieriger vor.“ Es ist der Satz, mit dem sie „Fortgesetzter Versuch“ beginnt. Tatsächlich hat sie früh begonnen, über Anna Seghers zu schreiben und wenn die DDR nicht die DDR gewesen wäre mit ihren bekannten und auch weniger bekannten Eigenheiten, dann wäre Christa Wolf die erste Biographin von Anna Seghers geworden. Das Buch wäre im Leipziger Reclam-Verlag erschienen, möglicherweise sogar schon zum 65. Geburtstag der Jubilarin, aber es hat nicht geklappt. Liest man heute den nicht sehr umfangreichen Briefwechsel der beiden Frauen, dann findet sich da eben auch so ein halber Satz der Seghers: „… schreibe Dir lieber schnell, weil man sich am Telefon schlecht versteht …“. Das war kein stiller Hinweis auf mithörende Genossen in verantwortlicher Stellung, das war die ganz normale Telefon-Erfahrung für DDR-Bürger, die überhaupt ein Telefon hatten, es waren immer Privilegierte. Ich beispielsweise fuhr als Berliner Student ab August 1975 zum Ostbahnhof, wo es Telefonzellen gab, für die man aufgerufen wurde, wenn das Amt dort die Verbindung hergestellt hatte, um mit meiner späteren Frau zu sprechen. Ich musste sehr laut sprechen, dafür war es dann unverschämt teuer.

1970, als der Aufbau-Verlag Berlin und Weimar seiner Hausautorin das Büchlein „Briefe an Leser“ zum runden Geburtstag schenkte (im Schuber, 60 Exemplare gab es dann sogar mit persönlicher Widmung der Autorin), war ich ein Abiturient. Ich hatte, als dieser 70. Geburtstag am 19. November 1970 in wohl allen Zeitungen des selbsternannten Leselandes DDR gewürdigt wurde (damals archivierte ich noch nicht), stolze 17 Bücher von ihr gelesen, keineswegs nur „Das siebte Kreuz“, weil es Schulpflichtlektüre war. Ich las auch solche Bände wie „Der Bienenstock“, von dem es, wenn ich es richtig sehe, zwei gab, ich las „Über Tolstoi – Über Dostojewski“ in der separaten Ausgabe, als ich weder von Tolstoi noch von Dostojewski sonderlich viel wusste. Den Briefband bekam ich erst sehr viel später in die Hände. Man liest ihn schnell, wenn man ihn schnell lesen will. Man muss aber nicht. Ich habe mir, was tut man nicht alles, um einem unspektakulären Bändchen ein paar überraschende Aspekte abzugewinnen, ein paar statistische Fingerübungen erlaubt: von den 29 abgedruckten Briefen, deren frühester vom 18. Mai 1957, deren spätester vom 10. September 1969 stammt, wurden die meisten im Februar und März geschrieben (je sechs), im August keiner, nur je einer im Juli, Oktober, November und Dezember. Es gab also Zeiten für sie.

Sechs der 29 Briefe sind aus den 50er Jahren, aus den ersten zehn Jahren nach ihrer Rückkehr aus dem Exil sind ganze zwei präsentiert. Es gibt weder Vorwort noch Nachwort in diesem Büchlein, lediglich die Angabe vorn, dass der Verlag aus „dem erstaunlich umfangreichen Briefwechsel, den die Autorin mit ihren Lesern führt“, „charakteristische Beispiele, sämtlich aus den letzten Jahren“ gewählt hat. Wer aber ist der Verlag, könnte man mit Brecht fragen, sitzt er in einem Haus mit einigen Telefonen? Woher hatte er die Briefe, stellte die Autorin sie selbst zur Verfügung, traf sie eine Vorauswahl? Wenn ja, welche mit welchen erkennbaren Kriterien? Gemach, gemach: es handelt sich um eine Geburtstagsgabe, da gehören weder editorische Grundsatzerklärungen noch namentliche Bloßstellung des/der Verantwortlichen zwingend hinein. Eine winzige Erklärung, warum die Briefe nicht chronologisch sortiert sind, wäre dennoch hilfreich gewesen. Es scheint die Chronologie der Werke zugrunde zu liegen, die man aber erst kennen müsste, um das als Leser zu bemerken, zusätzlichen Sinn bringt das Wissen dann aber nicht. Man erfährt, dass Anna Seghers sehr oft sehr viel zu tun hat und deshalb wenig Zeit für ausführliche Antworten aufbringen kann. Keinem Leser begegnet sie rein ablehnend, sie dankt allen freundlich, sie freut sich über alle.

Es ist davon auszugehen, dass Briefe, die Verärgerung ausdrücken, nicht aufgenommen wurden, falls es denn im Angebot überhaupt solche gab. Verblüffend ist, dass unter den 29 Briefen einer an purem Umfang so sehr im Kontrast zu allen anderen steht, dass man sich, wiederum als Leser, milde wundern darf. Es handelt sich um den Brief vom 28. Februar 1963, der ganze dreizehn der insgesamt nur 87 Seiten in Anspruch nimmt. Der 28. Februar 1963 war ein Donnerstag, für mich der Tag nach dem Mittwoch, an dem ich meinen zehnten Geburtstag feierte: schon als eifriger Leser, aber natürlich nicht als Leser von Anna Seghers. Das dauerte noch bis zum Dezember 1967, da las ich „Die Kraft der Schwachen“ als Fahrschüler im Zug. Dieser lange Brief, der vielleicht nur im Rahmen dieses Bändchens lang ist, galt der Frage einer Germanistikstudentin nach Entstehung der „Karibischen Geschichten“. Die erschienen unter diesem Titel erstmals 1962 gesammelt im Aufbau-Verlag, später auch als bb-Taschenbuch Nr. 367. Enthalten waren „Die Hochzeit von Haiti“, die „Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe“ und „Das Licht auf dem Galgen“. Anna Seghers holt, ungewöhnlich, weil alle anderen Briefe ganz anders daherkommen, sehr weit aus, beginnt mit ihrer Überfahrt von Marseille zur Insel Martinique, um nach Mexiko zu kommen.

Martinique gehörte, für Emigranten unglücklicherweise, unmittelbar zum Territorium Frankreichs, man war, dort angekommen, dem Zugriff, dem man entfliehen wollte, nachdem die Deutschen Paris erobert hatten und es im von Petain beherrschten Süden Frankreichs so aussah, als würden die Eroberer rasch auch dorthin vordringen, immer noch oder wieder ausgeliefert. Der nach „Das siebte Kreuz“ bekannteste Roman der Seghers, „Transit“, zuletzt neu und modern verfilmt von Christian Petzold, führt eindrucksvoll vor, was da geschah, macht nachvollziehbar, warum in purer Panik wenig gesunde Menschen den gefährlichen Weg über die Pyrenäen suchten, und dort oder vorher den Tod. Das Jahr 1940 brachte eine Selbstmordwelle unter namhaften und weniger namhaften deutschen Emigranten. Bis dorthin führt Anna Seghers also die ungenannte Germanistikstudentin zurück und verweist selbst auf „Transit“. Von San Domingo und Haiti schreibt sie schlicht: „Beide sind Negerrepubliken.“ Dafür müsste sie heute insbesondere in Berlin einen Sprachkurs besuchen. Auch wegen der spanischen Frauen an Deck: „Sie sprachen spanisch mit den Negermatrosen.“ Die Studentin erfährt noch: „Die Schriftsteller stellen manchen Eindruck sofort dar und manchmal den gleichen nach Jahrzehnten.“ Es überraschte sie hoffentlich nicht. Wir werden es wohl nie erfahren.

Anna Seghers sah San Domingo nie wieder, aber sie liest in Mexico Bücher über die Insel: „Ich las in englischer Sprache die Biographie des Negers Toussaint l’Ouverture, der einer der bedeutendsten Menschen ist, die sich in der Zeit der Französischen Revolution entwickelt haben.“ Und dann hat sie gleich bis heute inklusive recht: „Wir lernen, wir wissen entsetzlich wenig von den Ereignissen und den Menschen Lateinamerikas.“ Auch wenn es heute ganze Menschengruppen gibt, die dem vehement widersprechen würden, namhafte Verleger inklusive. „Erst später haben mich manche Probleme bei unserem eigenen Aufbau an manche Probleme beim Aufbau jener Inselrepubliken zur Zeit der Französischen Revolution erinnert.“ Das führt sie nicht näher aus, sondern geht zum Titel der zuerst geschriebenen Geschichte über. Sie habe „wahrscheinlich“ bei „Die Hochzeit von Haiti“ an „Die Verlobung von St. Domingo“ von Kleist gedacht. „Kleist, den ich sehr bewundere, kann nichts dafür, dass er von der Negerrevolution nicht viel wusste und nicht viel verstand. Für ihn war San Domingo etwas Phantastisches, Exotisches.“ Später hat Anna Seghers mit „Sonderbare Begegnungen“ für allerhand Bewegung im Literaturbetrieb diesseits und jenseits der noch stehenden Mauer gesorgt. Zunächst aber benötigte sie noch Hilfe von Césaire, von Aime Césaire.

Der ist für sie „der französische Negerdichter“, ihn bittet sie in Paris um Material „über die Geschichte der Neger von Guadeloupe“. Mit der dritten Geschichte klappt es zunächst einmal nicht, „Das Licht auf dem Galgen“ braucht Zeit, braucht Material: „Aus England und Frankreich schickten mir Freunde alte Geschichts- und Reisebücher, die mir halfen.“ Am Ende der 13 Druckseiten steht schließlich: „Jetzt haben Sie es fertig gebracht, die Entstehungsgeschichte der drei Novellen aus mir herauszufragen …“. Es muss eine sehr besondere Germanistikstudentin gewesen sein, der das gelang, in anderen Briefen des Bändchens waltet dagegen geradezu Kargheit. Eine Pädagogikstudentin wird am 18. März 1968 freundlich belehrt: „Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, dass man nie allzu schnell und allzu schroff ein Urteil über Personen fällen soll.“ Ob Walter Janka, der 1989 Anna Seghers, die schon tot war, posthum an den moralischen Pranger stellte, diesen Satz gelesen und verstanden hat? Studenten der Arbeiter- und Bauernfakultät Leipzig erfuhren am 28. Oktober 1957: „Man kann weder das Leben, noch kann man eine literarische Darstellung in einzelne Begriffe aufteilen.“ Seghers wusste das, die DDR hat es fast bis zu ihrem Ende einfach nicht begreifen wollen. Und dabei sagte sie es so deutlich und einfach.

Am 20. März 1961 ging es in einem Brief um „Das siebte Kreuz“: „Das wichtigste ist aber, dass man weiß: Die Schriftsteller arbeiten nicht nach literaturhistorischen Begriffen.“ Und wenig später: „Ein Mensch kann bekanntlich sich großartig benehmen in einer außergewöhnlichen Situation, und er kann im Alltag unangenehme Eigenschaften haben.“ Einmal im Büchlein hat ein Adressat sogar beinahe einen Namen: „ Lew K. aus Moskau erhielt vom Verlag „Goslitisdat“, Moskau, den Auftrag, für die russische Übersetzung des Romans „Transit“ von Anna Seghers ein Vorwort zu schreiben; er wandte sich mit einigen Fragen an die Autorin.“ So steht es als Vortext vor dem Brief vom 7. März 1960, wir erfahren, dass Lew Kopelew, um den handelt es sich nämlich, am 27. Februar an Anna Seghers schrieb und sie sich darüber sehr freute: „Hier gibt es viele Leute, die es nicht leiden können, ja, die es gar nicht „verstehen“, das heißt, sie verstehen nicht, welche Anweisung darin gegeben ist, das Leiden dieser Erde wirksam zu bekämpfen.“ Kopelew versteht auch Anspielungen wie diese: „Racine habe ich erst verstanden, als ich in Angst vor Verfolgung in dem deutschbesetzten Paris war. Da verstand ich erst, wie gut eine klare einfache Welt ist.“ Der Schluss des Briefes klingt fast erschrocken: „Jetzt habe ich Ihnen einen ganzen Haufen verraten“.

Weil sich eine Pädagogikstudentin nach der Darstellung des Lehrers und seines Einflusses auf die Hauptgestalten in den Romanen „Die Toten bleiben jung“ und „Die Entscheidung“ erkundigte, schrieb Anna Seghers am 25. Januar 1964 wieder einen sehr schlichten Satz, der im Hause der seinerzeit frisch und bis zum bitteren Finale nicht mehr ganz so frisch agierenden Ministerin für Volksbildung der DDR, Margot Honecker, wohl keine pure Begeisterung ausgelöst hätte: „Aber für einen Lehrer gilt, was für jeden Menschen und jeden Beruf gilt.“ Am 27. April 1966 beantwortete Anna Seghers einen Brief, in dem sie gefragt wurde, warum sie, Autorin von „Das siebte Kreuz“, sich mit dem Schreiben von Liebesgeschichten aufhalte. „Weil ich glaube, dass eine gute und stolze Liebe den Menschen sehr stark macht, und das hat er wohl nötig in seinem Leben. Die Leser würden abstumpfen, wenn sie immer nur von schweren Opfern, von großer Tapferkeit lesen würden.“ Die Antwort auf die ganz allgemeine Frage eines Studenten, warum sie überhaupt Bücher schreibe, beschließt den Band auf Seite 87: „Wenn mich deshalb etwas freut oder sogar quält, wenn ich für oder gegen etwas bin, dann teile ich diese Gefühle und Erfahrungen mit vielen Menschen. Es ist aber meine spezielle Fähigkeit, diese Erfahrungen und Gefühle künstlerisch auszudrücken.“

Christa Wolf, auf sie zurückzukommen, nahm den 70. Geburtstag von Anna Seghers zum Anlass, einen Text zu schreiben, der unter unterschiedlichen Titeln in mehreren Büchern zu finden ist. „Zaubern“ ist er in einem Band überschrieben, der den Titel trägt „Liebes- und andere Erklärungen. Schriftsteller über Schriftsteller“. In „Fortgesetzter Versuch“ steht er unter „Begegnungen mit Anna Seghers“, In „Die Dimension des Autors“ heißt er „Bei Anna Seghers“, so heißt er auch in „Das dicht besetzte Leben“. Und immer enthält er eine Anekdote aus dem Jahre 1954. Christa Wolf begleitete im Auftrag der NDL eine Schriftstellerdelegation nach Moskau, Anna Seghers hatte laut Wolf die Angewohnheit, zu spät zu kommen oder auf den letzten Drücker. „Schweigend löffelt sie ihre Suppe, aber es arbeitet in ihr. Schließlich muss es heraus: Du – ob der Marx das gewusst hat? – Was denn, Anna? – Na. Wie viele Blusen diese großen Völker brauchen! Im GUM sind nämlich gerade Berge von Blusen angekommen …“. Zum 100. Geburtstag von Anna Seghers trägt Christa Wolf in ihrer Gedenkrede die Anekdote erneut vor: „Meint ihr, fragte sie uns, der Marx hat gewusst, wie viele Blusen diese östlichen Völker brauchen? – Sie hatte gerade im GUM den Ansturm der Käuferinnen auf eine neue Lieferung von Blusen erlebt.“ Ein sehr schönes Thema.


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