Arnold Zweig und Arthur Eloesser

Wie oft sie sich getroffen, wie gut sie sich gekannt, wie sympathisch sie einander vielleicht waren – wir wissen es nicht. Ein einziges gesichertes Zeugnis eines vermutlich längeren Gespräches ist überliefert: der reichlich siebzehneinhalb Jahre jüngere Arnold Zweig sprach mit Arthur Eloesser im Vorfeld seines 1927 gedruckten Buches „Juden auf der deutschen Bühne“, das meines Wissens seither noch nicht neu gedruckt wurde. Anders als „Bilanz der deutschen Judenheit“ oder „Caliban oder Politik und Leidenschaft“, die man neu innerhalb der auf 19 Bände veranschlagten Berliner Ausgabe des Aufbau-Verlages finden kann, wie zuvor bereits als Leipziger Reclam-Buch (RUB 1391) respektive als Aufbau Taschenbuch AtV 5201. In beiden Büchern taucht der Name Arthur Eloesser nicht auf, obwohl er durchaus hinein gepasst hätte. Umgekehrt taucht der Name Arnold Zweig in Arthur Eloessers am meisten verbreiteten Buch nicht auf – in „Elisabeth Bergner“, obwohl er dort sehr gut hinein gepasst, ja vielleicht sogar unbedingt hinein gehört hätte. Denn die Bergner spielte in einem Stück von Arnold Zweig für sie folgenreich die Rolle des Jungen Moritz Scharf. Darüber schrieb Alfred Polgar in der „Weltbühne“. Und das weckte überregionale Neugier auf sie.

Warum Arthur Eloesser in seinem Buch über die Bergner (vgl. dazu http://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/3095-arthur-eloesser-elisabeth-bergner) diese Rolle und dieses Stück von Arnold Zweig nicht erwähnt, vermag ich nicht zu sagen. Dass er Verfasser und Werk nicht kannte, darf als ausgeschlossen gelten, denn Zweig bekam für sein Stück (das erst „Die Sendung Semaels“ hieß, später aber als „Ritualmord in Ungarn“ gespielt wurde) 1915 den Kleistpreis. Vertrauensmann war in diesem Jahr Paul Wiegler, der den Preis auch an Robert Michel vergab. Zwei Preisträger in einem Jahr waren keine Seltenheit. Arthur Eloesser als Vertrauensmann 1914 hatte seinerseits den Preis an Fritz von Unruh und Hermann Essig vergeben, das „Literarische Echo“ vermeldete in seiner Dezember-Ausgabe: „Beide Dichter stehen zur Zeit im Felde.“ Und gehörte als Beisitzer zum Vorstand der Kleiststiftung e.V., war also in jedem Fall bestens informiert. Was wir ausschließen können: eine irgendwie geartete Verärgerung Zweigs zu dieser Fehlstelle bei Eloesser, er hat im Gegenteil sogar gerade auf „Elisabeth Bergner“ in seinem Buch mehr als einmal hingewiesen und sein eigenes sehr rundes Kapitel über die Bergner ganz sicher daran orientiert.

„Juden auf der deutschen Bühne“ ist ein überraschend gut informiertes, ein überraschend sinnvoll strukturiertes und nicht zuletzt auch in vielen Passagen brillant geschriebenes Buch. Sein Schicksal scheint das leider übliche von Büchern zu sein, deren Verfasser sich einem Gegenstand widmen, für den sie ungeprüfter Übereinkunft nach nicht als kompetent gesehen werden. Etwa, als schriebe ein reiner Naturlyriker plötzlich engagiert über Großstadtarchitektur. Im Fall von Arnold Zweig ist die Annahme, er wäre für Theatergeschichte bestenfalls als interessierter Laie zu sehen, natürlich purer Unfug. Und das nicht nur, weil er selbst eine Reihe von Stücken schrieb, die durchaus gespielt wurden und Erfolg hatten. Er war offenbar auch ein sehr eifriger Theatergänger mit detaillierten Kenntnissen und daraus erwachsenden soliden Urteilsgrundlagen, nur eben hatte er sich nie unter die Kritiker des Bühnengeschehens gemischt. Doch er kannte, wie sein Kapitel über die Kritiker ausweist, sich auch hier bestens aus. Und so ist es mehr als folgerichtig, wenn er sein Kapitel über Dramaturgen just mit Arthur Eloesser beginnt und ihn sogleich ausführlich zitiert, obwohl Eloesser 1927 seine aktive Dramaturgenzeit (1913 – 1920) schon etliche Jahre hinter sich gelassen hatte.

„Dramaturgen? Ich sprach jüngst mit einem von ihnen, einem Schriftsteller von Ruf, Geschmack und Überlegenheit, der viele Jahre lang ein Berliner Theater mit literarischem Ehrgeiz und sehr geschmackvollem Repertoire beraten hatte, und er, Arthur Eloesser sagte: „Dramaturgen? Diese Gattung stirbt aus. Heute sucht man nicht Stücke, sondern Rollen, und nicht für ein Publikum, das nicht mehr existiert, sondern für Schauspieler, die man für beliebige Teile der Saison gerade zur Verfügung hat. Braucht man dafür Dramaturgen? Pressechefs, die gibt es noch, aber von denen reden wir ja nicht. Die letzten, die ich an der Arbeit sah, waren Paul Lindau, der sich verzweifelt bemühte, das Königliche Schauspielhaus zwischen dem Geschmack seines königlichen Herrn und den Bedürfnissen literarischen Gewissens hindurchzusteuern, Hollaender und Kahane, die den Spielplan des Deutschen Theaters machten, und ich. Sehen Sie, wer heute noch Dramaturg spielen wollte, dessen Ehrgeiz verstünde ich nicht recht.“ Das hört sich an wie die sehr kritische Bilanz eines Mannes, der einen Zeitenwandel erlebt hat, nicht unbedingt auch wie die Stimme eines gebrannten Kindes. Eloesser führte in seiner Dramaturgenzeit auch Regie: mindestens fünfmal.

Das von Arnold Zweig als wörtliches ausgewiesene Zitat zeugt auch von einem Selbstbewusstsein ohne alle gespielte Bescheidenheit: Eloesser stellt sich neben Paul Lindau (3. Juni 1839 – 31. Januar 1919), Felix Hollaender (1. November 1867 – 29. Mai 1931) und Arthur Kahane (2. Mai 1872 – 7. Oktober 1932), Männer also, die in der deutschen Theatergeschichte eine wichtige und vielfach prägende Rolle spielten. Eloesser selbst war als Kritiker bei der „Vossischen Zeitung“ längst mehr als ausgewiesen und etabliert, als er 1913 zur Bühne wechselte, zum Lessing-Theater. Eine seiner derzeit bekannten fünf Inszenierungen war 1917 dort zu erleben, die vier anderen am Deutschen Künstlertheater“, dessen Leitung der Direktor des Lessing-Theaters, Victor Barnowsky, 1915 zusätzlich übernommen hatte. Die wechselvolle Geschichte des Hauses, das ab 1913 Max Epstein als Eigentümer hatte, wäre eine eigene erzählenswerte Geschichte, die Ruine wurde 1963 gesprengt, auf dem Grundstück Budapester Straße 35 baute zunächst die Grundkreditbank, ihr bis 2016 stehender Neubau wurde abgerissen und 2017 durch einen Nachfolger ersetzt. Eloesser brachte dort Stücke von Ernst Hardt, Arthur Schnitzler, Thaddäus Rittner und Carl Sternheim auf die Bühne.

„Dieser Schriftsteller und Theaterliebhaber, der gerade erst jüngst noch einem seiner Lieblinge eine Schrift, das geschmackvolle und entzückende Bergerbuch gewidmet hatte, sprach natürlich nur vom Berliner Theater und von der Gegenwart, sie sehe so schlimm aus und da stimmte es. Obwohl, wenn man vom heutigen Staatstheater spräche, immerhin eine andere Tonart am Platze wäre. Denn dort gibt es auch heute noch Dramaturgie“, so Arnold Zweig weiter. Ohne Eloessers Namen hier noch einmal zu nennen, formulierte er Sätze über den Dramaturgen allgemein, die natürlich auf seinen Gesprächspartner bezogen werden dürfen: „Kein Mensch des gesamten Theaterlebens saß so im Zentrum der theatralischen Aufgabe wie der Dramaturg.“ „Er, der Dramaturg musste die erste Vision nach der Arbeit des Dichters haben“, „... der Dramaturg musste in seinen Instinkten – wenn nicht auch in seinem Wissen – die Forderung nach dieser großen Form selbst in sich pochen fühlen, drängen fühlen. Die Bühne ohne Drama ist ein Geschäft.“ Und schließlich: „Und der Dramaturg war die verkörperte Pflicht der Bühne zu ihrer eigentlichen Aufgabe.“ In Ermangelung direkter Zeugnisse aus Eloessers Dramaturgenjahren haben wir hier etwas wie eine Stellenbeschreibung.

Im Kapitel über die Kritiker, insbesondere die Berliner Kritik, führt Arnold Zweig den Namen Eloesser abermals ins Feld. „Da sah man neben der unbeirrbar reagierenden Theaterleidenschaft Siegfried Jacobsohns die tiefe Bildung Julius Babs, neben Gustav Landauers Zukunft bereitender Lebensänderung die feine skeptische Gescheitheit Eloessers, neben Fritz Engels gewissenhaftem Abwägen die programmatische Schärfe Leo Bergs, neben Willi Handls unantastbarer Noblesse das geistreiche, etwas verspielte Urteilsvermögen Felix Poppenbergs, neben Monty Jacobs jugendfördernder Nachsicht die Qualitätsfreude Paul Wieglers, den wachen Spürsinn Stefan Großmanns und die dem modernen Geiste zugekehrte Aufnahmefähigkeit Emil Faktors.“ Was Zweig hier in einen summarischen Satz zusammenzieht, ist gewissermaßen die Creme de la Creme der Berliner Theaterkritik, den hier ausgelassenen Namen Alfred Kerr holt er anschließend sofort hinzu: ihm widmet er den meisten Platz. Für Eloesser aber können wir festhalten: seine „feine skeptische Gescheitheit“, „Ruf, Geschmack und Überlegenheit“ ergänzend, die ihm oben bereits konzediert worden sind. Zweig charakterisiert die Gesamtheit aller dennoch als als eine Diktatur.

„Die Diktatur der Berliner Kritik wird lediglich gemildert durch den hohen Standard der Kritiker, nicht durch den des Publikums.“ Das bezog er auf die bis heute bekannteren wie auch auf Leo Berg (29. April 1862 – 12. Juli 1908), Willi Handl (12. Februar 1872 – 26. Mai 1920) oder Felix Poppenberg (13. Oktober 1869 – 27. August 1915). Jeder einzelne von ihnen verdiente es, wie Arthur Eloesser gegenwärtig, wenigstens mit diesem oder jenem Werk, neu entdeckt zu werden. Arnold Zweig nutzte in „Juden auf der deutschen Bühne“ selbstredend die Gelegenheit, bezüglich Elisabeth Berger das zu ergänzen, was bei Eloesser, siehe oben, fehlte. „Eloesser hat in seinem charmanten Bergnerbuch geschildert, wie sie zwischendurch immer wieder versucht in Berlin anzukommen, von dem glitschigen Boden des direktorialen Geschmacks immer wieder abgleitend.“ Dass es sein eigenes Stück war, in dem die Bergner glänzte, erwähnt er nur indirekt. Schloss aber ganz im Sinn von Eloesser ihr Porträt so: „Sie hat schon viele Leute glücklich gemacht durch Sein und Kunst, und mehr kann man von keinem Künstler sagen, im Großen wie im Kleinen.“ In den Jahren der Weimarer Republik waren Eloesser und Zweig auch ständige Autoren der „Weltbühne“.

Von Zweig erschienen beginnend mit dem 26. Dezember 1918 und endend mit dem 19. Januar 1932 insgesamt 48 Beiträge. Von Eloesser waren es zwischen dem 23. November 1922 und dem 11. Februar 1930 insgesamt 73 Beiträge. Auch hier darf es als sehr wahrscheinlich gelten, dass beide sich gelegentlich begegneten. In Arthur Eloessers großer Literaturgeschichte jedenfalls, „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“, Band 2, „Die deutsche Literatur von der Romantik bis zur Gegenwart“ (Berlin 1931), hat auch Arnold Zweig seinen Platz bekommen, sehr weit hinten zwar und keineswegs alle bis dahin erschienen Bücher einbeziehend, aber bis zum größten Bucherfolg vor 1933: „Aus der Etappe entstand der „Kampf um den Sergeanten Grischa“ von Arnold Zweig, trotzdem ein echtes Kriegsbuch, eine einsichtige und gerechte Kritik des Militarismus, die auch in der Welt und als überall gültig verstanden wurde. Der Schriftsteller Arnold Zweig hatte sich schon vor dem Kriege bestätigt mit den „Novellen um Claudia“, die zwischen Künstlern, komplizierten modernen Menschen spielend, die Brautstandsgeschichte eines ungleichen Paares mit warnenden oder belehrenden Bezüglichkeiten umrahmen.“ Eloesser relativiert deutlich.

Er schreibt deshalb: „Die Erfindung scheint da mehr geistreich als zur Ruhe des Tatsächlichen ausgewirkt, auch in der tragischen Liebesgeschichte „Pont und Anna“, wo ein etwas weicher Wortschaum auf der schwankenden Bewegung des Geschehens liegt. Mit seinem Kriegsroman hat sich Zweig in epischer Ruhe ausgebreitet; er schuf sich mit dem Fall des russischen Kriegsgefangenen, eines gutmütigen Halbwilden, der recht unschuldig und fast unversehens exekutiert wird, einen geringen Anlass, der aber seine Folgerungen in der militärischen Hierarchie bis in die Spitzen hinauftreibt und das ganze System der Mechanisierung, der seelischen Austilgung, allein durch ruhige Selbstdarstellung sich kritisieren lässt. Was ist ein Menschenleben in diesem Millionensterben! Indem Zweig sich des Geringsten annahm, des Fremden, des harmlosen Analphabeten, dem auch die Sache seines eigenen Staates fremd ist, trat er mit einem Ethos, das nach keiner Seite verzerrend Gerechtigkeit ausübt, für den Menschen ein, den viele schonen wollen, und den das maschinelle System doch zermalmt.“ Was Arthur Eloesser komplett mit seiner Charakteristik ausklammerte: Arnold Zweigs dramatische Arbeiten für die Bühne.

Dass er die wenigstens teilweise zur Kenntnis genommen hat, ist oben begründet vermutet worden, ausdrücklich bestätigt wird es nun mit folgenden Zeilen: „Arnold Zweig (geb. 1887), der Schlesier ist, wurde mit wiederholtem Irrtum ins Donaugebiet verwiesen, wahrscheinlich weil er den „Ritualmord in Ungarn“ dramatisiert hat. Die seinerzeit viel gelesenen „Novellen um Claudia“ zeigen eine ungemein sorgsame Filigranarbeit. Aber er konnte auch mit längerem Atem in größeren epischen Schritten gehen, besonders mit dem „Streit um den Sergeanten Grischa“, Roman von einem Justizmord in der Etappe, dem Mittelstück einer Roman-Tetralogie, von der als erster Teil „Junge Frau von 1914“ erschienen ist. A. Zweig hat mit dem „Grischa“ die dann stark angeschwollene Serie der „Kriegsbücher“ in der deutschen Epik eingeleitet. Die erste Besinnung oder Beruhigung nach dem ersten Weltkriege vermochte die Autoren und auch die Leser nach einiger Diskreditierung der Gattung auf den historischen Roman zurückzubringen.“ Nachzulesen ist das im Kompendium „Juden im deutschen Kulturbereich“, für das Arthur Eloesser die knapp 70 Seiten „Literatur“ verfasste. Sie sind, weil das Sammelwerk in zweiter, stark erweiterter Ausgabe 1959 neu erschien, zugleich der erste längere zusammenhängende Text von ihm, der deutsche Leser nach 1945 erreichte. Arnold Zweig lebte bis zu seinem Tod am 26. November 1968 in der DDR.


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