Arthur Eloesser als akademisches Studienobjekt
Im Jahr 2022 auf sechzig Jahre akademische Arthur-Eloesser-Forschung zurückzublicken, ist kaum vergnügungssteuerpflichtig. Schon der Beginn steht unter keinem guten Stern. Doris Schaaf (nähere Daten zur Person bisher unauffindbar), veröffentlichte 1962 ihre Dissertation „Der Theaterkritiker Arthur Eloesser“ im Colloquium Verlag Otto H. Hess Berlin-Dahlem in der dort erscheinenden Reihe „Theater und Drama“ als Band 21, Herausgeber Hans Knudsen. Die Arbeit ist eingehenderer Kritik keineswegs unwert, doch führt die fleißige Sammeltätigkeit, die sich in ihr manifestiert, zu keinem von einem oder mehreren tragenden Gedanken origineller Art gekennzeichneten Ergebnis. Der zweifellos übermächtige Eindruck, den Hans Knudsen auf seine Doktorandin machte, wäre leichter zu tolerieren, stünde der Name Knudsen nicht für eine ganz bestimmte Tradition, die erst kürzlich wieder von Götz Aly benannt und angeprangert wurde. Knudsen gesellte sich nicht nur zu jenen 80 Personen, die sich mit einer Treuebekundung an Adolf Hitler wandten im Herbst 1933, er verdrängte auch den Begründer der Berliner und deutschen Theaterwissenschaft, Max Hermann, aus dem Lehrstuhl und sorgte sich um ähnliche Wirkungen für jüdische Theaterautoren und jüdische Kritiker. Dass er nach 1945 ausgerechnet diesem Personenkreis akademische Zuwendung besorgte, angehende Akademiker/innen dabei förderte, war nur zynisch und wirkt wie eine Weißwaschung.
Jahre vergingen, ehe sich erneut jemand aufmachte, am Objekt Arthur Eloesser zu akademischen Lorbeeren zu gelangen. Der 1971 geborene Andreas Terwey legte im Februar 2010 an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder seine Arbeit „Arthur Eloesser (1870 – 1938). Kritik als Lebensform“ zur Erlangung des Doktorgrades vor. Die 200 Seiten fußen bis in etliche Details auf seiner acht Jahre älteren Arbeit „Arthur Eloesser: Der Philologe als Kritiker“, am Institut für Geschichtswissenschaften der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin vorlegt zur Erlangung des Grades eines Magister Artium. Eine teilweise Vorveröffentlichung erschien unter selbigem Titel im Sammelband „Berliner Universität und deutsche Literaturgeschichte“, herausgegeben von Gesine Bey 1998 im Verlag Peter Lang. Terwey zeichnet zudem verantwortlich für den Artikel „Arthur Eloesser“ im Internationalen Germanistenlexikon 1800 -1950, 2003 im Verlag de Gruyter erschienen und als Neuware für 650 Euro zu erwerben, was die wenig rasante Nachfrage selbst bei Bibliotheken hinreichend erklärt. Andreas Terwey lebt heute in der Schweiz und hat sich von seinem einstigen Forschungsgegenstand vollständig verabschiedet. Das trifft auch auf Tina Krell zu (Jahrgang 1988), die in London lebt und mit völlig anderen Themen und Dingen beschäftigt ist als dem Feuilleton von Arthur Eloesser.
Das aber bleibt ihr als Verdienst, sich als erste der mit einem gewaltigen Recherche-Aufwand verbundenen Aufgabe gestellt zu haben, aus einer zweimal täglich erscheinenden Tageszeitung, der seit 1704 existierenden „Vossischen Zeitung“, jene Werke Arthur Eloessers herauszusuchen, die sie ihrer allerdings arg willkürlichen, rein äußerlichen Bestimmung „Feuilleton“ zuordnen konnte. Sie beschränkte sich aus nachvollziehbaren Gründen auf die Jahre 1899 bis 1913, in denen Eloesser als Theater- und Literaturkritiker zur Redaktion gehörte. Seine zweite Zugehörigkeit zum Blatt in den Jahren 1928 bis1934 klammerte sie aus, ebenso alles, was in der ersten Phase nicht „Unterm Strich“ erschien. Das ergab als erste und Hauptfolge ein sehr schiefes Bild dessen, was Eloesser wirklich geschrieben und veröffentlicht hatte, nicht zu reden von den oft haarsträubenden Mängeln der schließlichen Buch-Publikation „A. E. Die frühen Feuilletons Arthur Eloessers von 1900 – 1913“, ediert im Vergangenheits-Verlag Berlin 2013. (Vgl. hierzu: http://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/4441-tina-krell-sammelt-fruehe-eloesser-feuilletons). Nicht einmal die eigene Behauptung, sämtliche „Feuilletons“ der genannten Jahre ermittelt und neu publiziert zu haben, hielt einer Überprüfung stand, Tina Krell hat etliche Texte einfach übersehen. Über die Gründe dafür lässt sich nur spekulieren, denn einige waren in den Jahresinhaltsverzeichnissen leicht zu identifizieren.
Eine Arbeit von Jonah Mandel kann hier nur als existent erwähnt werden: „The Fluctuating identity of Arthur Eloesser“, 2009 auf Englisch als Buch gedruckt im Verlag der Universität Jerusalem, European Forum at the Hebrew University, Center for German Studies. Sie umfasst in einer mir vorliegenden deutschen Fassung 58 Seiten, enthält den Hinweis: Betreut von Dr. Jeanette Malkin, sonst aber keine weiteren Angaben. Die Übersetzung ins Deutsche ist kaum mehr als eine rohe Interlinear-Übersetzung und damit nicht wirklich zitierfähig. Ob es sich um eine Graduierungsarbeit handelt und wenn ja, welcher Art, ist dem Manuskript nicht zu entnehmen. Eine einfache Aussage wie „geboren 1870 in Ostberlin“ kann im angloamerikanischen Sprachraum vielleicht noch toleriert werden, in Berlin und im umgebenden Deutschland jedoch nicht. Es muss kaum darauf hingewiesen werden, dass Ost-Berlin zu keinem Zeitpunkt eine offizielle Bezeichnung für den Teil der Stadt war, der sich im Ergebnis des II. Weltkrieges zunächst als sowjetische Besatzungszone, später als „Berlin, Hauptstadt der DDR“ zu verstehen hatte, seit dem 13. August 1961 ummauert. Dr. Jeanette Malkin, geboren am 21. März 1951, ist aktuell „Senior Lecturer and Chair of the Theatre Studies Department at the Hebrew University of Jerusalem”. Zur näheren Identität von Jonah Mandel sind Hinweise durchaus willkommen, weil es mehrere in Frage kommende Träger seines Namens gibt.
Bis hier sind alle erwähnten akademischen Arbeiten zu Arthur Eloesser Leben und Werk insgesamt gewidmet, auch das Buch von Doris Schaaf ist nur bedingt als Spezialuntersuchung zu sehen. Dagegen betritt Kerstin Schoor (Jahrgang 1963) in ihrer Habilitationsschrift von 2009, die 2010 als Buch im Wallstein Verlag Göttingen erschien, insofern Neuland, als sie Arthur Eloesser in den Kontext einer übergreifenden Thematik stellt, ihm innerhalb des fast 600 Seiten starken Buches 15 Seiten widmet und sich dabei weitestgehend auf eine vergleichende Betrachtung zweier Arbeiten beschränkt, die 1919 und 1934 erschienen. Kerstin Schoors Buch trägt den Titel „Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto. Deutsch-jüdische literarische Kultur in Berlin zwischen 1933 und 1945“. Es ist durch ein Personenregister leidlich erschlossen, was man von einem weiteren Buch leider nicht sagen kann. Dem wertvollen Band „Zwischen Rassenhass und Identitätssuche. Deutsch-jüdische literarische Kultur im nationalsozialistischen Deutschland“ fehlt jegliches Register. Kerstin Schoor fungierte hier als Herausgeberin, der Schutzumschlag zeigt eine Reihe Buchrücken der Zeit, dabei vorn rechts auch das letzte Buch Arthur Eloessers, „Vom Ghetto nach Europa“. Kerstin Schoor hat nach dem Vorwort und dem Beitrag „Poetische Auseinandersetzungen mit Wirklichkeit im Spannungsfeld von Rassenhass und Identitätssuche“ eine Collage beigesteuert.
Diese Collage ist insofern interessant, als sie den ersten teilweisen Neudruck einer Artikelserie Eloessers aus dem Jahrgang 1934 der „Jüdischen Rundschau“ bringt, rund 75 Jahre nach der Erstveröffentlichung. Vgl. hierzu http://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/4509-arthur-eloesser-erinnerungen-eines-berliner-juden. Gerade die „Erinnerungen eines Berliner Juden“ werden immer wieder zitiert, obwohl sie viel weniger wirklich autobiografisches Material enthalten, als zu erwarten wäre. Selbst W. Michael Blumenthal, dessen lesenswertes Buch „Die unsichtbare Mauer. Die dreihundertjährige Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie“ (Hanser Verlag München 1999) gerade keine akademische Arbeit ist, hat kaum mehr an Lebensdokumenten zu seinem Onkel Arthur Eloesser zur Verfügung als diese „Erinnerungen“. Eigene Erinnerungen des 1926 geborenen Sohnes von Eloessers Schwester sind naturgemäß höchst spärlich und auf die kindliche Perspektive beschränkt. Sie betreffen die letzte Berliner Wohnung des Onkels am Lietzenseeufer, wohin die Familie nach einem Vierteljahrhundert in der Dahlmannstraße umziehen musste. Blumenthals Eloesser-Bild ist eine eigene Darstellung wert und wird sie auch bekommen. Spätestens hier muss der Name Horst Olbrich fallen. Der Antiquar und Publizist betreibt sein Antiquariat am Adenauerplatz in Nachbarschaft des einstigen Wirkungskreises von Arthur Eloesser.
Bei ihm bedanken sich außer Doris Schaaf alle, die bisher zu Eloesser gearbeitet haben. Auch ich habe mich bei ihm bedankt, als er mir großzügig Hilfe, Materialeinsicht, Austausch von Texten anbot. Andreas Terwey, Tina Krell und auch Kerstin Schoor griffen in ihren Arbeiten auf Olbrich zurück. Kerstin Schoor war bis jetzt die meiner Kenntnis nach einzige, die sich sogar ausdrücklich für Einblicke in die holländischen Arbeiten bedankte, die unter dem Pseudonym Marius Daalmann erschienen, ohne dann auch nur mit einem halben Satz auf sie einzugehen. Auch Horst Olbrich, wenn man sieht, welche Projekte er derzeit bearbeitet, ist nicht mehr exklusiv mit Eloesser befasst, sondern vorrangig mit Georg Hermann (7. Oktober 1871 – 19. November 1943), von dem in der „Vossischen Zeitung“ sehr regelmäßig Beiträge gedruckt wurden, auch und gerade in jenen Jahren, in denen Arthur Eloesser dort zum zweiten Male fest engagiert war. Eloesser hat sich zu Hermann zuerst 1908 selbst geäußert, doch das wäre bereits ein anderes und eigenes Thema. Man kann auf www.arthureloesser.de gleich zweimal Horst Olbrich hören, einmal im Radio-Gespräch mit einem Mitarbeiter des Deutschlandfunks anlässlich der Einweihung des Margarete- und Arthur-Eloesser-Parks 2011, einmal ausführlicher in einem Kurz-Film, eigens für das Portal in seinem Antiquariat Wilmersdorfer Straße aufgenommen. Es lohnt sich, hineinzuhören, bestens als Einstieg zu Eloesser.
Kerstin Schoor verweist in ihrem Buch-Beitrag auf einen Text von Utz Held, den Peter Sprengel in seinen Sammelband „Berlin-Flaneure“ aufnahm, 1998 im Weidler-Verlag Berlin erschienen. Es handelt sich um eine studentische Arbeit aus dem germanistischen Seminar der FU Berlin, speziell Eloessers „Die Straße meiner Jugend“ gewidmet. Sechzig Jahre akademische Eloesser-Forschung sind damit, so merkwürdig es klingen mag, schon erschöpft. Ich bin in der leicht peinlichen Lage, auf mich selbst verweisen zu müssen, zwei Dutzend Umgänge mit Arthur Eloesser sind auf www.eckhard-ullrich.de jederzeit nachlesbar, www.arthureloesser.de nutzt sie mit meiner Erlaubnis nach. Der vergleichenden Betrachtung von „Die Straße meiner Jugend“ und „Erinnerungen eines Berliner Juden“ von Kerstin Schoor soll im folgenden nähere Aufmerksamkeit gelten. Dass ich als ausübender Kritiker mit Einwänden beginne, liegt in der Natur meines Metiers begründet. Ich halte es dezidiert für nicht angeraten, Arbeiten von Arthur Eloesser durch die Brille zweier Autoren zu sehen, die sich unter jeweils sehr speziellen Umständen mit ebenso speziellen Ambitionen mit ihm beschäftigt haben. Die Rede ist von einer Besprechung Kurt Tucholskys in der „Weltbühne“ und von einer Passage im berühmten Buch „LTI“ von Victor Klemperer. Letztere hat besonders in der DDR eine merkliche und nachweisbare Tradition negativer Sicht auf Arthur Eloesser bewirkt.
Genau das aber liegt sicher nicht im Interesse der Autorin (und Professorin) Kerstin Schoor, denn sie erklärt ausdrücklich: „Schließlich ist es ein Anliegen des Buches, einige der im geteilten Nachkriegsdeutschland in Vergessenheit geratenen Autoren wie Leo Hirsch, Arno Nadel, Arthur Eloesser, Herbert Friedenthal, Max Samter, Meta Samson oder Karl Escher, deren literarische Arbeiten für das Schaffen jüdischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach 1933 in Deutschland exemplarischen Charakter tragen, wieder bzw. erstmals einem größeren Publikum zugänglich zu machen.“ Dass schon diese Namensreihung zu diskutieren wäre, liegt auf der Hand, das Ansinnen ist jedoch ohne jede Einschränkung begrüßens- und unterstützenswert. Wenn aber Arthur Eloesser latent als Mann gelesen wird, der einen problematischen Umgang mit den Themen Krieg und Militär hatte, so letztlich Tucholsky, oder gar, wie bei Klemperer unterstellt, sich der herrschenden Nazi-Sprache sorglos und unreflektiert bedient in seinem letzten Buch „Vom Ghetto nach Europa“, dann führt das auf interpretatorische Abwege. Da man Kerstin Schoor selbst den Vorwurf nicht ersparen kann, allzu unreflektiert mit Doris Schaaf gearbeitet zu haben, sie einfach nur als Quelle und nichts als Quelle behandelt zu haben, ist sehr genaues Hinschauen vonnöten. Das betrifft insbesondere Schaafs Aussagen zu Eloessers späten Theaterkritiken für die „Jüdische Rundschau“.
Zu Tucholsky und seiner Kritik an Eloesser kann ich verweisen auf http://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/4283-arthur-eloesser-berliner-landsturm, zu Victor Klemperer und den Wirkungen auf die Eloesser-Rezeption in der DDR ist eine Arbeit in Vorbereitung, die jedoch noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird. In Kerstin Schoors Aufsatz „Poetische Auseinandersetzungen mit Wirklichkeit im Spannungsfeld von Rassenhass und Identitätssuche“ fällt der Name Eloesser nicht, auch bei Gert Mattenklott in seinem „Juden in NS-Deutschland. „Der Morgen“ 1933 – 1938“ nicht, der im Buch auf Schoor folgt, und das, obwohl doch Arthur Eloesser mehrfach in „Der Morgen“ als Autor in Erscheinung getreten ist, obwohl Aussagen und Erkenntnisse Eloessers in den „Erinnerungen eines Berliner Juden“ durchaus wie Paraphrasen dessen gelesen werden können, was Schoor aus der schieren Überfülle des Gelesenen herausgreift. Das Operieren mit zahlreichen zum Teil sehr langen Fußnoten erschwert die Lektüre außerordentlich. Das oben angesprochene größere Publikum wird auf alle Fälle dadurch regelrecht abgeschreckt. Wie anders, besser und lesbarer es gemacht werden kann, hat gerade Arthur Eloesser mit seinen literatur- und theatergeschichtlichen Büchern beispielhaft vorgeführt. Eben deshalb verdient er ja heute neue intensive Aufmerksamkeit.
Dennoch ist das Anliegen natürlich ohne Einschränkung zu begrüßen, das Kerstin Schoor in diese Worte fasst: „… im Folgenden verdeutlichen, wieweit die Suche nach neuen Anknüpfungspunkten eines kollektiven Gedächtnisses in einer literarischen Re-Lektüre des Ortes zu Umformulierungen, Umdeutungen und Neukonstruktionen kultureller Erinnerungsräume führen konnte, zur Schaffung sowohl einer neuen Ich- als auch kulturellen Identität.“ Doch, mit Verlaub, darf ein Buch wirklich auf das Interesse nicht-akademischer Leser hoffen, das solche Zielstellungen propagiert? Mich, und ich sehe mich in einer schwankenden Mitte zwischen dem zu gewinnenden Leser (für den ich zum Beispiel schreibe) und dem akademischen Fachleser, interessieren Erinnerungsräume, alt oder nun neu konstruiert, gar nicht. Ich bin auch von tiefster Skepsis befallen, wenn ich von literarischen Re-Lektüren von Orten lese. Die Termini erkenn ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, würde ich da sagen wollen. Literatur, und Feuilletons und/oder Essays rechnen wohl dazu, ist immer konkret: wenn von der Prenzlauer Straße die Rede ist, dann geht es um die Prenzlauer Straße. Wenn von der Nachbarschaft des Scheunenviertels die Rede ist, darf man nicht, weil es zur eigenen Fragestellung zu passen scheint, dortige Zustände und Situationen rückprojizieren, die zum gegebenen Zeitpunkt noch gar nicht charakteristisch waren. Scheunenviertel hieß zunächst Rotlicht und Kriminalität.
Das Gruseln des sein eigenes Judentum noch nicht reflektierenden jungen Eloesser kam just daher und nicht von Straßenzügen (überschaubar wenigen übrigens, gemessen an der Größe des Viertels), die Kenner ostjüdischer Materie heute an polnische „Schtetl“ gemahnen. Erst nach 1918 ist sinnvoll von polnischen Örtlichkeiten zu reden, davor, bei Joseph Roth ist das in bis heute unübertroffener Weise nachlesbar, auch teilweise bei Isaac B. Singer, waren das Gegenden im Grenzbereich von Russland, k. u. k. Österreich und Deutschland. Wenn solche Rangfolgen überhaupt akzeptierbar sind, ging es den Juden im Vielvölkerstaat relativ am besten, in Russland relativ am schlechtesten. Nichts davon schlägt sich in der 1919er Sammlung „Die Straße meiner Jugend“ wirklich nieder. „Beide Sammlungen essayistischer Texte entstammen der Feder eines Autors, der im deutschen und Berliner Kulturbetrieb lange vor 1933 fest verwurzelt war und dem die Stadt zeit seines beruflichen Lebens Gegenstand feuilletonistischer Reflexionen gewesen ist.“ Doch schon der nächste Satz trifft die Texte nur noch partiell: „Beide Sammlungen beschreiben 1919 bzw. 1934 die gleiche Berliner Kindheit, den gleichen Ort, die gleiche Straße, ja, den gleichen Hinterhof. – Beide skizzieren jedoch diesen Ort schließlich aus einer völlig anderen Perspektive, finden neue Anknüpfungspunkte eines kollektiven Gedächtnisses in einer literarischen Re-Lektüre dieses Ortes.“ Was zu beweisen wäre.
Kerstin Schoor beginnt ihre Re-Lektüre der „Erinnerungen eines Berliner Juden“ nicht vorn mit der Einleitung. Das würde, bin ich mir sicher, alles andere stören. Schon beim Terminus „kollektives Gedächtnis“ bin ich, was immer Maurice Halbwachs und/oder Aleida Assmann dazu publiziert haben, sehr skeptisch. Denn auch die Rede von den Narrativen, die dies oder jenes bestimmen, ist Lehrmeinung, nicht zwingend zugleich Realitätsbeschreibung. Immer, wenn ein neu erfundener Terminus einer Fachsprache ins allgemeine Reden gerutscht ist, muss Sprachsensibilität hellhörig werden. Gegenwärtig werden wir zum Beispiel von Ukraine-Narrativen belagert, denen wir mehr glauben wollen als müssen. Schoor beginnt mit Klemperer und setzt damit ein Vorurteil. Man kann nicht wie er in seinem Dresdener Versteck, einem Mann vorwerfen, dass er keine revolutionäre Leistung vollbrachte. Man kann nicht, wie Klemperer, die Worte brav und liberal koppeln und es unreflektiert lassen, wie der Romanist einen heute längst suspekt gewordenen „kommunistischen Hochmut“ kultiviert gegenüber den potentiellen „Bündnispartnern“, um einmal das Offizialsprech der DDR zu bemühen, in der gerade „LTI“ hohe Auflagen erzielt, aber eben ganz anders gelesen wurde. Nämlich als exemplarisch kritisch auch für die Sprache des Arbeiter- und Bauernstaates. Das muss man nicht zwingend wissen, wenn man west-sozialisiert ist, hilfreich wäre es jedenfalls.
In den früheren Arbeiten, für die Schoor mal das Wort Essay, mal Feuilleton, mal Skizze benutzt, obwohl gerade Philologen sonst halbe Bücher damit füllen, ob etwas noch eine Erzählung oder schon ein Roman sei, eher eine Groteske oder doch Satire, war Arthur Eloesser noch näher an den Jahren seiner Studentenzeit, da ihm allein durch die Bekanntschaft mit Kreisen, die sich mit Marx befassten, soziale Differenzen wichtiger waren als nationale oder gar religiöse. Dass es reiche und arme, auch sehr arme Juden gab, war ihm, wenn überhaupt, wichtiger als Differenzpunkt, als alle möglichen und tatsächlichen Schnittmengen. Auf brutale Weise bestätigte noch der staatlich organisierte Massenmord an den Juden Europas und auch Deutschlands eine Doppelerfahrung: für die Massenerschießung oder die Gaskammer reichte es, Jude zu sein, für das Entkommen aber war es elementar wichtig, nicht zu den armen oder sehr armen Juden Berlins oder Deutschlands zu gehören. Es gibt genügend Daten, die belegen, dass Wohlhabenheit, gar Reichtum, signifikant eher den Weg ins Exil ebnete. Was natürlich niemals als Vorwurf gelesen werden darf. Die spätere Sicht Eloessers ist für mich eher auch Sicht des privilegierten Juden des Tiergartenviertels auf die ihm von außen aufgedrängte Wahrnehmung von Schnittmengen. Lektüre des Ortes finde ich da nicht, es sei jenes Ortes, der mit seinen drei Buchstaben durch Verortung geistert, als wäre das etwas.
Es war keine Frage, ob Eloesser seine „Erinnerungen eines Berliner Juden“ noch hätte woanders drucken lassen können oder nur noch in der „Jüdischen Rundschau“. Man kann den Punkt genau fixieren, ab wann der Theaterkritiker keine Theaterkritiken mehr für die Vossische Zeitung schrieb, man kann sogar einen Zusammenhang mit einer Kritik an einer Inszenierung von „Wilhelm Tell“ unterstellen, (Vgl. http://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/4465-arthur-eloesser-sieht-wilhelm-tell), am Ende, als Juden nur noch jüdisches Theater sehen durften, schrieb er wieder über Theater, und zwar sicher merklich anders als früher. Dem Kulturbund aber gehörte er nicht nur pro forma als Präsidiumsmitglied an, er engagierte sich dort überdurchschnittlich. Seine Vorträge (Julius Bab war in der Struktur des Kulturbundes sein unmittelbarer Vorgesetzter) fanden Aufmerksamkeit, und noch der uralte Marcel-Reich-Ranicki behauptete auf Befragen vor einer Kamera, er könne sich an diese Vorträge erinnern (obwohl der Name Eloesser meines Wissens sonst nirgends je bei ihm fiel). Den Kulturbund und seine Aktivitäten kann man vielleicht, um heutigen Ahnungslosen verständlich zu werden, mit dem Kreis vergleichen, der in Mannschaftssportarten vor Beginn gebildet wird: der Gegner wartet, letzte Aufmunterung kollektiver Art vor dem Kampf soll helfen. Wir wissen längst, dass der jüdischen Kultur in Deutschland nach 1933 nur eine Galgenfrist blieb.
Wenn Kerstin Schoor dieser oder jener These von Andreas Terwey im Text oder in einer Fußnote beipflichtet oder ihr widerspricht, liest sich das heute natürlich mit dem Wissen anders, dass Terweys Magister-Arbeit mit ihren alles in allem knapp 120 Seiten schon sieben Jahre vorlag, als die Autorin ihre Habilitationsschrift abschloss, die Dissertation dagegen war definitiv nicht mehr zu berücksichtigen. Sollte es nicht üblich sein im akademischen Alltagsbetrieb, Magisterarbeiten zu berücksichtigen, dann wäre freilich zu fragen, warum studentische Seminarbeiträge berücksichtigt werden, wenn sie in einem Buch gedruckt sind. In Zeiten, da Printprodukte von vielen schon als vom Aussterben bedrohte Art gesehen werden, ist akademische Beschränkung auf sie natürlich problematisch (das ist allgemein gesprochen, ausdrücklich nicht als Kritik an Kerstin Schoor). Schon wenn sie vom „Verlust“ jüdischer Tradition schreibt auf Kindheit und Jugend, letztlich auf das Leben bis 1933 bezogen, dann ist das rückblickende Sicht. Zeitkonform und treffender wäre von „Abwesenheit“ jüdischer Tradition im Alltag zu reden. Der rückblickende Arthur Eloesser gräbt voller Absicht, auch autotherapeutisch, gerade jene Momente und Umstände aus, die für ihn, seine Geschwister, seine Eltern und sehr viele „assimilierten“ Juden in Berlin eben abwesend waren. Abwesenheit in diesem Sinne ist gerade nicht zu verwechseln mit Nicht-Existieren, das ist wichtig.
Es ist absurd zu unterstellen (wieder nur in einer Fußnote), es hätte für Arthur Eloesser eines besonderen Grundes bedurft, „Berliner Landsturm“ in „Die Straße meiner Jugend“ aufzunehmen. In der Regel sehen Autoren, noch dazu, wenn sie vom Geschriebenen leben wollen (oder müssen), nie Gründe, etwas nicht in ein Buch aufzunehmen, es sei denn, sie schämten sich eines Werkes. Von Goethe, dem Eloesser bekanntlich sehr viel Aufmerksamkeit widmete, auch in den „Erinnerungen eines Berliner Juden“ steht er sehr weit vorn, wissen wir, dass er eigens Zeitschriften gründete (oder gründen ließ), um dort noch das letzte Nebenwerk seiner späteren Jahre gedruckt sehen zu können. „Berliner Landsturm“, Essay, Skizze oder Feuilleton im Sinne Kerstin Schoors, operiert nicht mit einer fiktionalen Figur, die ihm ähnelt, das ist autobiographisch. Nationale Gesinnung des früheren Eloesser aus der Tatsache abzulesen, dass er die Nähe seiner Geburt zum deutsch-französischen Krieg 1870/1871 erwähnt, ist zweckvoll, um einen Wandel für 1934 besser behaupten zu können, beweiskräftig ist es nicht. Denn niemand kann etwas für historische Ereignisse und Verhältnisse, in die er hineingeboren wird. Das haben längst auch Menschen verstanden, die nicht auf den Pfaden des „Historischen Materialismus“ wandeln. Familienerfahrung ist Erfahrung, niemals kurzschlüssig.
„Die Differenzierungen innerhalb der östlichen Judenheit erscheinen aus der Fernsicht des westjüdischen Intellektuellen und in kurzschlüssiger Vereinfachung fast ausschließlich als Unterschiede zwischen dem Posener und dem ostpreußischen Judentum.“ Ob hier, wie Kerstin Schoor absichtsvoll deutet, versucht wird, „den alten Abgrenzungsmechanismus zum Ostjudentum in leicht modifizierter Form aufrechtzuerhalten“, bezweifle ich energisch. Das ganze Vokabular von Fremdbildern und Eigenbildern passt mir nicht, gestehe ich gern, auch wenn das nur beweist, dass ich nicht jeder neuen Basis-Theorie aus Frankreich oder woher immer hinterher haste. „Eloessers Bemühen, antisemitischen Stereotypen nationalsozialistischer Propaganda entgegenzuarbeiten, kennzeichnet seine Aufzeichnungen von 1934 bis in die Struktur des Textes hinein. So widersprechen seine Beschreibungen sozialer Differenzierungen innerhalb einer jüdischen Bevölkerungsminderheit Stereotypen wie dem vom „reichen Juden“. Dennoch finden sich auch bei Eloesser vereinzelt Äußerungen, die – als polemisches Gegenwort gedacht - angewiesene Klischeebilder indirekt mit fortschreiben.“ Mit solchen Verweisen lockt man allenfalls strukturalistisch sozialisierte Akademiker hinter ihren Lektüre-Öfen hervor. Neue Leser für Eloesser findet man so nicht. In der Prenzlauer Straße wohnten wohlhabende Juden sehr real im Vorderhaus.
Immerhin stimmt Kerstin Schoor Victor Klemperers „Befunden“ nicht einfach zu, sie formuliert ihre Differenz jedoch nicht explizit, sie überlässt dem Leser der Fußnoten das Urteil. „Reale Beschreibungen der Stadt und Umgebung verblassen schließlich in Eloessers „Erinnerungen“ hinter derartigen Darstellungen eines latenten Antisemitismus der Gründerjahre“. Und zusammenfassend zielt sie sofort wieder in pure Theorie, was, ich wiederhole mich, einer Neu-Popularisierung von Arthur Eloesser nicht im mindesten hilft. Es liest sich so: „Der Autor entdeckt nun in der eigenen auch eine „jüdische“ Geschichte Berlins und verweist auf deren gewichtigen Anteil am Werden der Stadt. Der Vergleich seiner im Abstand von 15 Jahren entstandenen Aufzeichnungen illustriert in den sich wandelnden Erinnerungen eines Autors an ein und denselben Ort, in welcher Weise der Einzelne aus der Perspektive seiner (jeweils) unmittelbaren Gegenwart Vergangenes auswählt, reaktiviert, umdeutet und umformt und dadurch Erinnerung konstituiert“. Was haben wir erfahren, wenn wir dies erfahren haben: „Perspektivenwechsel in den literarischen Ansichten Berlins verweisen dabei auf die zentrale Rolle räumlicher Bilder im kollektiven Gedächtnis.“ Verlorene Gruppenidentitäten vergleichbar jener, die Wilhelm II. schaffen wollte mit „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ sollen doch wohl nicht etwa gemeint sein, oder?
Zum Ende ihres Kapitels kommt Kerstin Schoor auf die damals noch nicht neu veröffentlichte „Palästina-Reise“ zu sprechen, ebenfalls in der „Jüdischen Rundschau“ gedruckt. Vgl. dazu auch http://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/4309-arthur-eloesser-palaestina-reise-1934. Es entgleite, heißt es da, „ihm nun der Begriff von Heimat in einen Leerraum. Ist einerseits die unmittelbare Gegenwart nicht mehr thematisierbar, erscheint der Verlust von Heimat zudem in der Vergangenheit bereits anlegt. “ Natürlich ist die unmittelbare Gegenwart noch thematisierbar, sie ist nur eben nicht thematisiert, was ein Unterschied ist. Ich sähe gern einmal den Leerraum, in dem entglittene Begriffe sich tummeln (oder gar drängeln?). Alles musste deshalb „eine tendenzielle Abkehr von Berlindarstellungen nach sich ziehen.“ Wäre das die gesamte Verlustbilanz für die deutsch-jüdische Literatur nach 1933, dann wäre beinahe nichts geschehen. Wir wissen heute, dass Berlin-Darstellungen ein unausrottbares Genre bilden. Es gäbe, las ich, keine andere Großstadt der Welt mit so viel Drang nach Darstellung und Selbstdarstellung. Man stelle einer Suchmaschine die Aufgabe, nach aktuell lieferbarer Scheunenviertel-Literatur Ausschau zu halten, verglichen damit ist aktuelle Arthur-Eloesser-Literatur gar nicht vorhanden.