Arthur Eloesser: Christoph Martin Wieland

Der Laie hat zu sortieren: geboren ist Christoph Martin Wieland im Pfarrhaus in Oberholzheim. Das ist heute ein Ortsteil der Gemeinde Achstetten im Landkreis Biberach in Baden-Württemberg. Sein Geburtszimmer wurde 1976 zu einem Gedenkraum ausgestaltet. Sehr viel gibt es da nicht zu sehen, man kann aber auf Wunsch einen Blick ins Taufregister werfen. Am 5. September 1933 wurde über der Haustür eine Gedenktafel angebracht, das war der 200. Geburtstag des Dichters. Der wurde im seit Ende Januar nationalsozialistisch regierten wie beherrschten Deutschland noch fast wie ein normales Jubiläum begangen. Die Stadt Biberach gab zum Ereignis eine Festschrift heraus. Auf diese Festschrift stützte sich Walter Benjamin in seinem Artikel zum Anlass in der Frankfurter Zeitung vom 5. September 1933. Er schrieb unter dem Pseudonym C. Conrad. Einen Tag vorher, am 4. September, druckte die Vossische Zeitung in ihrer Nummer 422, Abendausgabe, den bis dahin umfangreichsten Beitrag von Arthur Eloesser in diesem letzten vollständigen Erscheinungsjahr. Sein Titel „Der Schöpfer der neuen deutschen Prosa“ stand unter der Gesamtüberschrift „Wielands zweihundertster Geburtstag“ und erstreckte sich über die Seiten 5 und 6 des Traditionsblattes.

Eloesser hatte gut zwei Monate vorher schon, ebenfalls in der Vossischen Zeitung (Nr. 361, 30. Juli 1933, Sonntagsausgabe), die Festschrift selbst besprochen und dabei auch einen Mann erwähnt, der 16 Jahre später zum ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde: Theodor Heuß (31. Januar 1884 – 12. Dezember 1963). Heuß wiederum war 1933 einer der Beiträger zu dieser Festschrift. Man kann den Wortlaut nachgedruckt in einem immer noch und immer wieder sehr lesenswerten Buch mit dem Titel „Vor der Bücherwand. Skizzen zu Dichtern und Dichtung“ nachlesen (1961 im Rainer Wunderlich Verlag Tübingen), der, mit freundlichem Register versehen, einschlägige Arbeiten von Heuß versammelt. Eloesser wörtlich: „Aber Theodor Heuß meint in seinem kurzen vielsagenden Beitrag doch mit Recht, dass man den Dichter kaum als schwäbisch empfinden kann, der ein richtiger Weltbürger wurde. Wieland hat die deutsche Literatur und das Publikum verweltlicht“. Heuß selbst benutzte gleich zweimal auf nur drei Seiten das Wort „Sonderfall“, Wieland unter den Schwaben einzuordnen. Beim zweiten Mal lesen wir: „... er ist der eigentliche Weltbürger zwischen ihnen, bloß dass dieser Begriff bei ihm nichts von Pathos besitzt.“

Zunächst aber war Wieland ein Kleinkind in Oberholzheim, ehe er nach Biberach übersiedelte mit der Familie, weil sein Vater dort ein neues Amt als Pfarrer erhalten hatte. Die rund 30 Kilometer bis ins neue Zuhause mögen ihm eine Weltreise gewesen sein, doch hat er sich die Welt nicht erobert und erschlossen, indem er sich zu ihr begab, indem er reiste. Er hat sich die Welt ins Haus geholt in Form von Büchern, Gedrucktem. Bei Buckau nahe Magdeburg, im Kloster St. Johannes der Täufer auf dem Berge, erwischte er den ersten Zipfel Welt, beim rasch abgebrochenen Studium in Erfurt den zweiten, den dritten in Tübingen von 1750 bis 1752, von wo er ohne Abschluss nach Zürich kam, nach Bern wechselte, nachdem er sich von Bodmer getrennt hatte. Erst 1760 kehrte er wieder in die Stadt seiner Kindheit und Jugend, nach Biberach, zurück. Deshalb gibt es dort nicht nur eine Christoph-Martin-Wieland-Stiftung Biberach, ein Wieland-Gartenhaus, ein Wieland-Archiv und einige Wieland-Stätten. Theodor Heuß übrigens bekannte 1933: „Was ich von Christoph Martin Wieland am meisten liebe, ist sein Gartenhaus – ein Rüchlein von Lavendel und holländischem Tabak zwischen Bildern und Büchern.“ Ein Rüchlein Lavendel hätte mich wohl auch überzeugt.

Für Eloesser gehörte Christoph Martin Wieland „zu unseren sechs Klassikern“, war unter ihnen „dieser deutsche Klassiker, von dem viele nicht mehr wissen, warum er einer war“. Zu den Klassikern zu gehören, „was ebenso wohl große Erzieher wie große Schriftsteller bedeutet“, sei im gegebenen Falle nicht einfach zu begründen: „Wielands Verdienst ist ganz historisch geworden, zu ihm als Wirkendem gibt es keine Rückkehr mehr. Und doch hat er einmal unter den sechs Großen den breitesten Platz in unserer Literatur eingenommen“. Für den Kritiker und Historiker der Literatur hat Lessing eine entscheidende Rolle für Wieland gespielt: „Lessing hat Wieland mit Schlägen erzogen“. „Lessing kannte Wieland, bevor dieser sich selbst kannte.“ Das steht in der zweibändigen Literaturgeschichte, auf deren Erkenntnissen und Bewertungen beide Artikel in der Vossischen Zeitung fußen. Vorher hatte Eloesser, so weit der aktuelle Überblick über sein verstreut publiziertes Werk diese Behauptung erlaubt, sich diesen Klassiker nie zum Gegenstand erkoren, was in der Gesamtschau auf die Entwicklung vom Barock bis zur Gegenwart natürlich nicht mehr möglich war. Eben deshalb erscheint der Name Wieland dort vielfach, vor allem im ersten Band.

„Wieland ist von unseren Klassikern der beste politische Kopf gewesen“ - so las es, wer wollte, in der Vossischen Zeitung, in der Literaturgeschichte kaum anders: „Wieland, der politischste Kopf unter den deutschen Dichtern“. Für Eloesser war Wieland der Mann, der die Französische Revolution präzise voraussah, der wie ein Astronom die Laufbahn Napoleons vorausberechnete. Zugleich war er einer von den Geistern, „für die die Jugend kein gemäßer Zustand ist“. Anders als die anderen Klassiker hatte er nie eine begeisterte Jugend auf seiner Seite, was sich später auch darin niederschlug, dass er fast die Hälfte seines Lebens als „der alte Wieland“ galt, obwohl er zunächst noch gar nicht so alt war. Er hatte die Jugend nicht nur nie auf seiner Seite, er hatte sie in ihrer jeweiligen Ausprägung sogar ausdrücklich zum Feind. Von den Hainbündlern bis zu den Romantikern, zwischendrin den Stürmer und Drängern, wurde er angefeindet, attackiert, lächerlich gemacht, es ist gar überliefert, dass bei einer Klopstock-Feier Wieland-Bücher verbrannt wurden. Arthur Eloesser kennt diese biographischen Episoden natürlich und nutzt sie bei Bedarf. Darunter auch Goethes „Götter, Helden und Wieland“, von mir 2013 bereits einmal ausführlicher dargestellt.

Wielands „Göttergesprächen“, portionsweise während und nach fast dreijähriger Beschäftigung mit Lukian entstanden, hauptsächlich dabei Übersetzertätigkeit, galt am 4. September 1933 Eloessers letzte Empfehlung: „... es ist darin eine Menge Lebenserfahrung gesammelt von einem der klügsten Menschen, die je gelebt haben.“ In einer Besprechung des Buches „Frauen um Dichter“ von Eduard Thorn (9. Mai 1887 – 1. Juli 1964) kam er auch 1934 noch einmal in der Vossischen Zeitung auf Wieland. „Wielands Liebe“ sind 70 Seiten in diesem Buch (Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart Berlin 1933) überschrieben, ähnlich lang ist nur noch „Schiller zwischen den Frauen“. Der Kritiker ist wenig begeistert. „Aber der Verfasser scheint lieber über seine Leute als von ihnen gelesen zu haben.“ Näher auf Wieland bezogen: „Ihm schenkte seine Frau ein Dutzend Kinder, und sie brachte die Zeit dadurch auf, dass sie seine Bücher nicht las, die sie auch nicht verstanden hätte. Seine verlängerte Jugendliebe zu Sophie Laroche ist gewiss nach den besten Quellen erzählt oder aus dem reichsten Zettelkasten zusammengeklebt, aber der Verfasser hat keine eigene Anschauung von der Periode der Empfindsamkeit und vor allem von Sophie selbst“. Was auch heute ein Manko wäre.

Wielands historisches Pech, so könnte man neunzig Jahre später formulieren, war, dass er in eine Zeit hineinwuchs, die immer deutlicher und klarer Abstand gewann und sich aktiv distanzierte von jener langen Periode der Regelpoetiken, die noch kräftig nachwirkte, als er geboren wurde. Es war eben lange, lange Zeit nicht ehrenrührig, sich fremder Stoffe zu bedienen, nachzuahmen, sich anzuverwandeln, nur die Regeln mussten eingehalten werden. Gut war, wer die Regel am besten befolgte, nicht wer ein Originalgenie war und nichts mehr gelten ließ als das, was ihm eben gerade einfiel. Die so genannte Genie-Periode ist, historisch betrachtet, so unendlich viel schneller zu Ende gegangen als ihre Vorgängerinnen und es bleibt bis heute eine Frage sinnvoller Periodisierungen in der Literaturgeschichte überhaupt, wenn bestimmte Perioden, die separate Bände füllen, kaum mehr als zwanzig Jahre umfassen und zehn bis zwanzig Autoren von hunderten der gleichen Zeit. So war eben eine der großen unvergänglichen Leistungen wegen ihrer vermeintlichen Vergänglichkeit schon vergessen und verdammt, kaum dass sie vollendet war: die Shakespeare-Übertragungen Wielands. Die zum Beispiel Rolf Vollmann in seinem Buch „Shakespeares Arche“ ständig benutzt.

Der Haffmans Verlag Zürich hat zwischen 1992 und 1995, vor allem 1993, „Theatralische Werke in 21 Einzelbänden“ herausgebracht und damit die alte, viel geschmähte Übertragung Wielands aus dem Sarg historisch-kritischer Drucke in die Gegenwart gerettet. Arthur Eloesser hält sich, sehr verständlich und nachvollziehbar, an Goethe, wo immer es sich anbietet. Dem galt Wielands „Oberon“ mehr als alles andere von ihm. Genau dieses Urteil zieht Eloesser in Zweifel: „Goethes enthusiastische Begrüßung hat dem Urteil der Zeit nicht standgehalten. Der Oberon ist verwelkt; wer sich historisch genießend noch auf ihn einlässt, wird sich höchstens mittelbar überzeugen, dass auf Wielands beliebtestem Werk einmal ein Duft gelegen hat.“ Wir würden heute respektlos fragen, wie viele Werke Wielands Goethe denn tatsächlich von vorn bis hinten gelesen hat. Und ob er sie so verstand, wie er sie eben in seiner eigenen Situation gerade verstehen wollte oder so, wie sie von Goethe unabhängig zu lesen waren. Zu „Goethes Totenrede auf Wieland“ habe ich mich ebenfalls 2013 anlässlich des 200. Todestages von Wieland ausführlicher geäußert. Eloessers Fazit in seiner Literaturgeschichte von 1930 lautet: „Der Oberon ist das Maximum deutscher Rokokodichtung.“

Eine andere Großleistung Wielands wird von Eloesser wie auch anderen vor ihm und nach ihm zwar nicht unterschlagen, nicht selten sogar durchaus gewürdigt, aber eben nicht in ihrer wahren Einzigartigkeit. Wielands „Teutscher Merkur“ existierte nicht nur wesentlich länger als die allermeisten vergleichbaren Blätter, er wurde auch gelesen. Fast alle Großen der deutschen Literatur schon in Wielands Zeit und davor, vor allem aber auch nach ihm, haben sich mit eigenen Blättern versucht, sie sind kläglich, kläglicher, am kläglichsten gescheitert. Oder sie wurden von fast niemandem gelesen wie die späten Hausblätter, die sich Goethe gegründet hatte, um auch für seinen letzten Gedanken und Zufallsaufsatz einen Publikationsort zu haben. Schiller scheiterte, Kleist scheiterte, Lessing scheiterte, alle scheiterten. Wieland nicht. Der „Teutsche Merkur“ war eine Instanz. Und da der Name Kleist nun einmal fiel: auch das war eine Großtat Wielands. Er erkannte an Kleist, was alle anderen Großen der Zeit verkannten oder ignorierten oder gar boykottierten. „Heinrich von Kleist kam zu ihm als einem Weisen, kam zu dem Schriftsteller, an dem er, wie so viele andere seines Standes, als junger Offizier und Adliger lesen gelernt hatte.“ So Eloesser.

Der daran anknüpfend schrieb: „Wieland hat die höheren Klassen zum Publikum der deutschen Literatur gemacht; nach Goethes Schätzung haben Süddeutschland und Österreich überhaupt erst durch ihn lesen gelernt.“ Zu den wenigen, die im allgemeinen kritischen Rauschen anders sahen, gehörte auch Georg Christoph Lichtenberg. Er verteidigte „seinen Wieland gegen das Geschrei der Zeitungsschreiber … Lichtenberg hörte Stimmen in Wieland hinein“. Dass Arthur Eloesser den vergessenen Klassiker wichtiger nahm, als man nach allen seinen einzelnen Formulierungen über die beiden Bände seiner Literaturgeschichte hinweg glauben könnte, zeigt sich im Nachwort zu diesem Großunternehmen, buchstäblich auf der allerletzten Textseite: „Goethe stellte sich gern vor, dass sein abgeschiedener Freund Wieland als Sternbild an den Himmel versetzt worden sei; denn ein solcher Geist könne nicht untergehen und zu leuchten aufhören. In diesem Glauben entstand dieses Buch, obgleich wir gewiss nicht alles für wichtig halten, was je geschrieben wurde.“ Der Nachwortautor versteckt sich nicht hinter Goethe, wenngleich er auch schrieb, „… der Dichter Wieland hinterließ keinen Zukunftsgedanken“. Und: „Wieland war offensiv nur in der Jugend.“

Es ist auch ein wenig Mitgefühl beigemengt, wenn ausgesprochen ist: „Wieland ist wie kein anderer deutscher Schriftsteller gerupft worden, als unselbständiger Nachahmer, als schlechter Grieche, als Französling und welscher Schuft von den Hainbündlern, vom junge Goethe mit allen Stürmern und Drängern, von Schiller und seinem Freunde Körner, und im Patriarchenalter von den Romantikern.“ Wieland war, wie er war, eben keinem Wunschbild entsprechend: „Wieland war von Natur anschmiegsam, leicht bestimmbar, verführbar, er hatte eine ungemein leichte Hand zu schreiben, eine stets bereite Flüssigkeit der Prosa, eine ungehemmte Reimfähigkeit, er war ein Talent, das noch keinen Charakter hatte. Den Mangel an Gesinnung ersetzte die Schwärmerei.“ Aber auch diese unmissverständliche Aussage: „... er ist der am wenigsten religiöse von unseren Schriftstellern“. Ob die Wieland-Literatur irgendwann seine Anregung aufgriff, die folgender Satz enthielt? „Wieland unterscheidet in heute noch unwiderlegter Weise zwischen den Ideologien, die von großen und von kleinen Völkern getragen werden.“ Es ließe sich wohl eine schwankende Brücke bauen zu Franz Kafkas unvollendetem Aufsatz über kleine Literaturen, an einigen längeren Haaren herbeigezogen.

Zu Wielands Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“ (1773 – 1789), fortgesetzt als „Der Neue Teutsche Merkur“ (1790 – 1810) schreibt Eloesser: „Seine Liberalität gab dem Teutschen Merkur durch die Jahrzehnte Wert und Würde, machte ihn zu einem Organ weiten Echos, das die öffentliche Meinung anregte und wiederum antworten ließ. Fast alle Radikalen bezichtigten seine Beweglichkeit und Vielseitigkeit der Charakterlosigkeit.“ Einer, der auch 1933 in der Biberacher Festschrift mit einem kleinen, sehr bescheiden daherkommenden Beitrag vertreten war, war der Wahlschwabe Hermann Hesse. Eine ganz bestimmte Vorstellung von Wieland habe er für seinen Hausgebrauch, lobte „die Sauberkeit und Grazie, mit der er die französischen Vorbilder in der deutschen Sprache spiegelt“. Auch Hesse sah im „Oberon“ (wie Goethe) Wielands „gelungenstes und liebenswertestes Werk“. Er schloss: „... und ich bewundere an ihm ganz besonders die diskrete Mitte zwischen Schöpfung und Nachschöpfung, den Geist von Spiel und Virtuosität, der originell und selbstbewusst genug ist, um seine Vorbilder nicht verschleiern zu müssen.“ Dass Eloesser Hesse Ende Juli 1933 nicht erwähnt in seiner Besprechung der Festschrift aus Wielands Vaterstadt, spricht in keiner Weise gegen ihn.


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