Werner Bräunig: Prosa schreiben

Vor zehn Jahren fand ich diese Eingangssätze hilfreich: „Klar war sofort: Ich werde nicht über „Rummelplatz“ schreiben. Und auch nicht über den Rummel um „Rummelplatz“.“ Daran hat sich bis heute nichts geändert. „Ein Hype und seine Folgenlosigkeit“ müsste jeder Blick auf den Rummel um „Rummelplatz“ spätestens seit 2009 überschrieben werden. Denn der Übereifer, mit dem sich das (west-)deutsche Großfeuilleton auf den toten Werner Bräunig stürzte, führte zu nichts, falls man nicht das bräunig-unabhängige Auf-die-Bühne-Zerren auch dieses Romans als etwas sehen will. Romane dieser Dicke sind auf Bühnen immer neuer Etikettenschwindel, wie zugleich Eingeständnis wachsender Feigheit vor dem Freund. Der Freund ist in diesem Fall das Drama, die Dramatik, die Bühnenliteratur, die seit Aischylos, Sophokles und Euripides eine ziemlich geschlossene Reihe von Werken hervorgebracht hat, die die Bühne brauchen. Romane brauchen keine Bühne, sie brauchen Leser, die übrigens auch am Drama, sei es Tragödie, sei es Komödie, nie eine völlige Fehlbesetzung sind. Mit „Rummelplatz“ auf der Bühne klang der Rummel aus, dem Neudruck von „Gewöhnliche Leute“ mit etwas Beiwerk folgte nichts mehr. Nicht einmal „In diesem Sommer“ erlebte nach der ersten von 1960 eine neue Auflage. Was den Antiquariatspreis irre puscht. Zu niemandes Freude.

1968 brachte der Mitteldeutsche Verlag Halle, Hausverlag von Werner Bräunig, ein schmales Buch in seiner da noch recht jungen Essay-Reihe heraus, Titel: „Prosa schreiben. Anmerkungen zum Realismus“. 92 Seiten, nach knappster Vorbemerkung von Bräunig selbst fünf Texte von ihm, darunter einer, der aus zwei Briefen besteht: an Bräunig von Friedrich Hitzer, an Hitzer von Bräunig. Friedrich Hitzer (9. Januar 1935 – 15. Januar 2007) war Mitherausgeber und seit 1969 Chefredakteur des „kürbiskern“, in der DDR so wohl gelitten, dass immerhin eine zweibändige Auswahl aus dieser DKP-nah linken Zeitschrift unter dem Titel „Kürbiskerne. Beiträge zu Politik und Kultur in der BRD“ in der Reihe „Literatur und Gesellschaft“ des Akademie-Verlags Berlin erscheinen durfte. Bräunig spielt darin keinerlei Rolle. „Die hier versammelten Versuche sind Gelegenheitsarbeiten; sie könnten Konfession andeuten, sie enthalten Bekenntnisse. … es handelt sich um Angelegenheiten, die den Verfasser in den beiden Jahren, da die Texte entstanden, angingen.“ Die Vorbemerkung endet so: „Literarische Publizistik scheint gefördert zu werden durch bewegte Zeiten. Sie müsste denn durchaus hinpassen in unsere Zeit.“ Da drängt viel Konjunktiv sich in den Vordergrund, es braucht Vorkenntnisse, um schlichtes Kopfschütteln zu verhindern.

„Prosa schreiben“ hat Züge eines Nachlass zu Lebzeiten mit der Besonderheit, dass dem Büchlein nichts zu entnehmen ist als das Gedruckte selbst. Auf der Rückseite erfährt der Leser, was dem Verlag wichtig war zum Stichwort Essay, kein Wort über den Autor, sein Leben, sein Schaffen, sein Alter. Nur die beiden Briefe enden mit einem Datum: Bräunig hat seine Antwort an Hitzer mit „Leipzig, im Juli 1965“ datiert. Die anderen Beiträge hat man zu lesen ohne zu wissen, wann genau sie geschrieben, ob sie vorher bereits gedruckt wurden und wo. Hatten sie einen Anlass, hatten sie spezielle Adressaten? Besonders der abschließende Beitrag unter dem Allerweltstitel „Kultur – Politik – Kulturpolitik“ hätte eine Zuordnung vertragen, die den Eindruck von Willkürlichkeit zu zerstreuen in der Lage gewesen wäre. So fragt man sich: in welcher Anmaßung lässt sich hier ein Mann über alles andere als unbekannte Dinge und Zusammenhänge aus, trägt Sätze vor, die in ein SED-Parteilehrjahr bestens gepasst hätten? Die Arbeit, die dem Büchlein den Titel liefert, „Prosa schreiben“, liest sich wie das Studienmaterial für Seminarteilnehmer am Literaturinstitut Leipzig, wo Bräunig bis zu seiner Suspendierung tatsächlich Prosa unterrichtet hatte. Und er ruft eine Kette Zeugen auf, unter denen einige mehr ins Auge fallen als andere, wieder ist Vorwissen sehr gefragt.

Wer sich in erwähnten Hype-Zeiten den insgesamt 80 Druckseiten Nachwort von Angela Drescher in den Neudrucken „Rummelplatz“ und „Gewöhnliche Leute“ anvertraute, hat vorbildlich und detailliert recherchiert eben dieses Vorwissen bei der Hand. Der real existierende Sozialismus in den Grautönen der DDR, der sich, wie Vorwisser wissen, gern als Übergang von der Vorgeschichte der Menschheit zu ihrer eigentlichen Geschichte, im Eifer gar schon als frühe Etappe dieser verstand, hatte unter seinen dunklen Punkten den dunkelsten vielleicht in der arg undialektischen Aufhebung einer Praxis der ganz frühen Vorgeschichte: des Menschenopfers. Natürlich schwang kein Schamane mehr das Opfermesser, niemandem wurde sein blutiges Herz aus dem Leib gerissen, aber Opferung mit physischer Todesfolge hatte insbesondere im Vaterland des Weltproletariats, der Sowjetunion, eine solide Tradition. Die DDR lernte genau bis zu dem Zeitpunkt, wo es wirklich etwas zu lernen gegeben hätte, immer, was siegen hieß. 1965 aber war wieder einmal die Zeit heran für ein großes Opferritual. Es wurden Haupt- und Nebenopfer ausgewählt in den zuständigen Gremien von Partei, Partei und nochmal Partei, immer ein wenig Staat als Beimischung. Heraus kam, was mit dem Schlagwort „Kahlschlag“ in die armselige Geschichte einging: ein Tiefststand.

Der Aufbau-Verlag Berlin druckte schon 1991 in der Reihe seiner Taschenbücher den Band gleichen Titels: „Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente“. Der Band ist lesenswert, aufschlussreich, herausgegeben von Günter Agde (Jahrgang 1939), der als Filmwissenschaftler und Filmhistoriker natürlich vom seinerzeitigen Verbot der gesamten DEFA-Produktion 1965 besonders animiert war. Die literarischen Hauptopfer waren Wolf Biermann, Stefan Heym und Manfred Bieler, Werner Bräunig gewissermaßen auf Platz 4. Aber insofern mehr als diese drei, weil an ihm eine besonders perfide öffentliche Erziehungsgymnastik auch noch der ahnungslosesten, um nicht zu sagen: der dümmsten Partei- und Staatschargen vollzogen wurde. Angela Drescher hat das in aller Ausführlichkeit dokumentiert. Am Ende war Bräunig das einzige Todesopfer, wenn auch mit Zeitverzögerung. Er starb am 14. August 1976, hatte also keine Chance mehr, die Biermann-Petition zu unterzeichnen. Und es wäre müßig zu spekulieren, ob er sie mit seiner Unterschrift versehen hätte. Werner Bräunig und sein unvollendeter Großroman, der nach jenem Kapitel bekannt ist, das seinerzeit den Anstoß lieferte für eine heute kaum noch vorstellbare Kampagne, stehen im Hintergrund auch von „Prosa schreiben“: weithin eine Selbstrechtfertigung.

Besonders auffällig wird das in „Auf der Straße leben: Thomas Wolfe“. Bräunig verteidigt Wolfe mit Argumenten gegen Kritiken und Einwände auch namhafter Autoren, als würde er sich selbst verteidigen. Er vermittelt den Eindruck, ohne ihn ganz ausdrücklich zu einem Bekenntnis zu machen, dass Wolfe ihm in Person und Prosa sehr viel gab für sein eigenes Schreiben. 1968, als der Mitteldeutsche Verlag die „Anmerkungen zum Realismus“ in den Buchhandel brachte, lag von Thomas Wolfe (3. Oktober 1900 – 15. September 1938) in der DDR bereits seine Roman-Tetralogie vollständig vor, nur die Briefauswahl „Eine nicht gefundene Tür“ (1971) und der Nachlese-Band „Von all den vergessnen Gesichtern“ (1974) erschienen später, doch noch zu Bräunigs Lebzeiten. Auch der Leipziger Reclam-Verlag trug mit „Der verlorene Knabe“ (RUB 393) in insgesamt drei Auflagen kräftig dazu bei, dass DDR-Leser mit dem etwas anfangen konnten, was Bräunig dem Amerikaner so nachsagte. Er zitierte Hermann Hesse mit: „Dieses Epos der Familie Gant ist die stärkste Dichtung aus dem heutigen Amerika, die ich kenne.“ Und schränkt dann klug ein: „Wir wissen aber nicht, was Hesse kannte und nicht kannte damals, wir müssen uns umsehen nach anderen Zeugen.“ Hesses Lob stand in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 9. April 1933.

Zu „Schau heimwärts, Engel!“ äußerte sich Hesse im Juni 1933 noch einmal in S. Fischers „Die Neue Rundschau“. Das kannte Bräunig offenbar nicht, meinte aber etwas voreilig: „Auf der Straße leben: eine schöpferische Lebensform. Es ist das Gegenteil vom Elfenbeinturm.“ Er selbst wäre kaum auf 700 Seiten „Rummelplatz“ gekommen auf der Straße, Thomas Wolfe, der um die 3000 Wörter täglich schrieb, ganz sicher noch weniger. Das Leben auf der Straße braucht Kombination mit einem stabilen Arbeitsplatz und sei es ein Ecktisch in einem Kaffeehaus in Ländern, wo es so etwas gibt. An anderen Zeugen führt Bräunig Sinclair Lewis auf, den Nobelpreisträger von 1930, Ernest Hemingway, den Nobelpreisträger von 1954. Schreiben wie Hemingway war auch in der DDR eine Zeit „in“, wurde aber von den Oberen ungern gesehen und bisweilen auch ausdrücklich in verbalen Maßregelvollzug genommen. Bei Thomas Wolfe ging es, so Bräunig, um das Auslassen und das Hineinbringen von Stoff und Gegenstand, wie eben bei Bräunig auch. Nur war in der DDR die Sowjetunion Wunschgegenstand wie Großtabu zugleich und ineinander verwoben, sowjetische Genossen durften möglichst nie fehlen. Sie hatten edel, hilfreich und gut zu sein, keine Besatzer, schon gar keine Vergewaltiger, keine Kirchenschänder. Keine Ausbeuter von Wismut-Leuten.

Werner Bräunig kannte Wolfe-Briefe, bevor sie in der DDR in Auswahl gesammelt erschienen, fast genüsslich zitiert er ausführlich die Antwort Wolfes an Francis Scott Fitzgerald (24. September 1896 – 21. Dezember 1940): „Nicht einmal über das Innere einer Telefonzelle kann man schreiben ohne auszuwählen. Und vergiss nicht, Scott, dass große Schriftsteller nicht nur Fortlasser sind, sondern auch Hineinbringer, und dass Shakespeare, Cervantes, Dostojewski große Hineinbringer waren – sogar größere Hineinbringer als Fortlasser -, und gerade wegen des Hineingebrachten werden sie unvergessen bleiben, ebenso lange unvergessen, wage ich zu behaupten, wie Monsieur Flaubert wegen seiner Fortlassungen.“ Das kann man in spezieller Weise auf „Prosa schreiben“ beziehen. Auch Bräunig ist in diesem vermutlich eher selten gelesenen Buch ein Hineinbringer. In „Einer liest. In memoriam Johannes Bobrowski“ bringt er die Namen Neumann (meint Robert Neumann), Friedrich Wolf, Thomas Mann, Donelaitis und Schlenstedt hinein, den litauischen Nationaldichter und den DDR-Literaturwissenschaftler, beide ohne Vornamen, also Kenntnisse voraussetzend. Ohne Vorname dann auch Bieler, Manfred Bieler, Mit-Opfer des „Kahlschlags“. Die Großzügigkeit der Zensur 1968 offenbart gerade dabei vielleicht eine Spur schlechten Gewissens.

Oben bereits erwähnt die lange Namensreihe im Titeltext „Prosa schreiben“, ich setze sie zunächst einfach unkommentiert hintereinander, Zweit- und Drittnennungen auslassend: Arnold Zweig, Heinrich Mann, Aristoteles, Lessing, Wolfenstein, Anna Seghers, Stephan Hermlin, Pablo Neruda, Gorki, Babel, Kleist, Büchner, Brentano, Lenz, Shakespeare, Goethe, Schiller, Homer, Hegel, Tolstoi, Heraklit, Thomas Wolfe, Gottfried Keller, Feuchtwanger, Fontane, Wolfgang Kayser, Christa Wolf, Bobrowski, Grimmelshausen, Konstantin Fedin, Hermann Kant. Mal mit, mal ohne Vornamen, ein Prinzip nicht erkennbar. Doch mancher Leser dieser Reihung wird sich sagen: Hegel kenne ich, Aristoteles und Tolstoi auch, wer aber waren Wolfenstein und Wolfgang Kayser? Bräunig: „Thomas Wolfe hielt das überhaupt für die wichtigste Forderung an gute Prosa, nämlich dass es darin „brodeln und strömen“ müsse.“ Christa Wolf aber, deren Erzählung „Der geteilte Himmel“ recht ausführlich behandelt ist, ohne dass der Titel überhaupt genannt wird, war fast die einzige, die sich während jenes fürchterlichen Plenums im Dezember 1965 an Bräunigs Seite stellte. Wolfgang Kayser (24. Dezember 1906 – 23. Januar 1960) war wohl Klassiker moderner deutscher Literaturwissenschaft mit „Das sprachliche Kunstwerk“, in der DDR aber gerade nicht Zitierquelle.

Gestattete Subversion darf man das nennen. 1969 kam auch „Gewöhnliche Leute“ in Leserhände, zunächst drei Erzählungen von Bräunig, später in erweiterter Ausgabe und es gab dafür den FDGB-Kunstpreis. Wer Meyers Taschenlexikon „Schriftsteller der DDR“ zur Hand nimmt, ist auf eine scheinbar kontinuierliche Entwicklung verwiesen: „In diesem Sommer“ setzt sich der Autor mit Problemen auseinander, „die sich aus dem Übergang von einem alten zu einem neuen Leben auf der Basis des sozialistischen Aufbaus ergeben“. Worum es dort wirklich geht, muss beim Nachschlagen niemand sofort erfahren. Aber: „Eine wesentliche Steigerung in der differenzierten thematischen und erzählerischen Erfassung seines Gegenstandes erreichte B. mit den drei Geschichten, … , die in eindringlicher Sprache der Entwicklung neuer Wesenszüge sozialistischer Persönlichkeiten im alltäglichen Prozess kollektiver Umgestaltung der Gesellschaft nachspüren.“ Man muss nicht eine Sekunde darüber nachdenken, solch ein Autor wäre im Westen Deutschlands nie wahrgenommen worden, hätte es den Dezember 1965 nicht gegeben. Schon Anfang 1966 wurde, nachzulesen bei Angela Drescher, in der DDR der Name Werner Bräunig nicht mehr im Kontext des 11. Plenums genannt. An einem Roman hat sich Bräunig laut Lexikon niemals versucht: Dreiste Verlogenheit.

Die neue Ausgabe von „Gewöhnliche Leute“ (Aufbau-Verlag 2008) enthält auf etwa der Hälfte aller Druckseiten Texte aus dem Nachlass von Werner Bräunig, Herausgeberin Angela Drescher hat sie mit eigenen Titeln versehen, darunter auch „Stalins Blick“, von Bräunig selbst schon verworfen aus einer frühen Fassung. Es ist eine Szenerie aus dem Jahr 1949, das vielen damals vor allem das Jahr des 70. Geburtstags von Stalin war, nur nebenher auch das der Gründung der DDR nach vorheriger Gründung der Bundesrepublik Deutschland, der deutschen Teilung also. Nach Gedichtvorträgen und einer unsäglichen Rede gab es einen Film, „und in den entscheidenden Szenen, allgegenwärtig und unfehlbar, das Lächeln Stalins.“ „Wie er die Verräter entlarvte, mit unbezwinglichem Scharfblick die Helden herausfand, in denen Peter bereits die Helden vermutet hatte ...“. „Ja, dachte Peter; das waren wirkliche Helden und wirkliche Abenteuer. Das war nicht der miese Kleinkram dieser miesen FDJ; Mitgliederwerbung, Parolen an die Wände pinseln, endlose Agitiererei und endloses Organisieren einfältiger Kampagnen.“ Schon 1981 hatte der Mitteldeutsche Verlag in der Reihe „Querschnitt“ Teilstücke aus „Rummelplatz“ in „Ein Kranich am Himmel“ aufgenommen, darunter auch das inkriminierte Kapitel „Rummelplatz“ von einst. Heute wäre Bräunig 90 Jahre alt.


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