Jörg Fauser 70

Wenn sich der Kulturbetrieb des Kulturbetriebshassers mit malerisch aufgerollten virtuellen Hemdsärmeln annimmt, könnte man als Beobachter erst einmal ruhig ein kurzes Viertelstündchen kotzen gehen. Nur ist auch diese Pose arg abgelatscht. Allein der Gedanke an jenen Tod auf der A 94, den fast alle tapfer mit dem Verb verunglücken beschreiben: Jörg Fauser soll auf der Autobahn spazieren gegangen sein, liest man, in der Nacht nach seinem 43. Geburtstag. Kann man so zugedröhnt sein, dass man einen solchen Spaziergang unternimmt? Wollte er nur die Autobahn überqueren, wollte er in den Puff, den es da offenbar gab? Jeder hat eine Lesart. Wen interessiert das letztlich? Wir hatten gerade erst Erich Mühsams zu gedenken, München war da auch im Spiel, dazu die alte Warnung Günter Kunerts zum Mann, der „durch sein Schicksal fast zum Klischee seiner selbst erstarrt“ ist. Jörg Fauser mit dem Wort Schicksal zu koppeln, ist halbwegs frivol.

Vor Wochenfrist präsentierte Jakob Augsteins „derfreitag“ auf einer ganzen Seite einen Geburtstagsartikel für Jörg Fauser von Katja Kullmann. Die hatte sich offenbar vorher mit allerhand Stoff angereichert zum Thema Männer und Frauen und Trends und dies und jenes und jenes und dies. Übertrieben sauber hat sie ihre These, es hätte sich zu Fausers 60. Geburtstag als einzige Frau Christiane Rösinger geäußert, nicht recherchiert. Obwohl sie in einem natürlich tatsächlich Neuland betritt. Der von ihr offenbar mit „zartem Zweifel“ fixierte Jubiläumsjournalismus erhält völlig neue Horizonte, wenn er sich jeweils zehn Jahre später die Artikel von jeweils zehn Jahren früher vornimmt und sie durch den nunmehrigen Fleischwolf dreht. Mein armseliges Archiv offeriert mir aus dem Jahr 2004 Geburtstagsartikel von Stephan Resch, Wiglaf Droste, Frank Schäfer, Peter Henning, Jörg Sundermeier, Ulrich Rüdenauer und dazu eben auch Cornelia Niedermeier. Die Erinnerung daran, dass die Schweizerin Klara Obermüller nur zwölf Sekunden Redezeit bekam in Klagenfurt anno 1984, erinnert mich an meinen jüngsten Großärger über Klara Obermüller und ihren wahrhaft dummen Marketingsatz zu Marianne Birthlers neuem Buch.

So schnell ist man bei Fauser weg von Fauser, von dem eben auch auf einer ganzen Seite einer Wochenzeitung, die einmal schneller sein wollte als alle anderen, obwohl Vorhergratulieren laut Tante Hertha Unglück bringt, die wirklich wichtigen Sachen einfach nicht stehen. Jörg Fauser ist tot, morgen schon können wir auch des 27. Todestages gedenken, da gilt das von Tante Hertha vielleicht doch nicht. Franz Josef Wagner, der Kultautor mit dem vielleicht kleinsten Fanclub der Welt, begann sein jubiläumsjournalistisches Werk zum 20. Todestag Fausers im SPIEGEL vom 16. Juli 2007 mit dem wirklich schönen Satz: „Wie Sterben ist, hat Jörg Fauser nicht mehr selbst erlebt, er war zu besoffen.“ Wolfgang Schneider entschied sich drei Monate vorher in der Buchmesse-Beilage der F.A.Z für die dezentere Formulierung „angetrunken“. Aus meiner Erfahrung von rund 300 Gerichtsverfahren weiß ich, dass „angetrunken“ eine taktische Formulierung ist, die ihre Fallstricke hat. Erkundigt sich nämlich die Richterin freundlich, wie sich der Angetrunkene fühlte mit seinen 2,7 Promille und der antwortet: gut, dann hat er seine Gewöhnung an den Alkohol so schlagend bewiesen, dass die Richterin keine weitere Frage mehr stellt.

Jörg Fauser war ein Säufer und er fühlte sich zu Säufern hin-, von Säufern angezogen. Man muss nach diesem Satz nicht die Nase rümpfen. Die Liste der schreibenden Säufer ist lang, wenngleich die Liste der nichtschreibenden Säufer wesentlich länger ist. Und so will ich gleich gestehen, dass ich wahrscheinlich nur durch Zufall je auf Fauser gestoßen wäre, wenn nicht eine Bibliographie seine „Hommage für Joseph Roth“ aufgeführt hätte. Auf die war ich neugierig und so nutzte ich die erstbeste Gelegenheit, mir den von Friedrich Ani bevorworteten Band „Lese-Stoff“ des Verlags Neue Kritik zu besorgen, den die nämliche „Hommage“ eröffnet. Gleich danach folgt „Fallada“ und danach folgt „Der dunkle Ort“ zu Karl Günther Hufnagels Roman „Die Liebe wird nicht geliebt“. Wer, um es kurz zu machen, auf Seite 49 dieser insgesamt 232 Seiten noch nicht vollständig und absolut begeistert ist von Jörg Fauser, den nenne ich natürlich nicht einen Deppen oder eine Deppin, ich betrachte ihn/sie jedoch unumwunden mit einer milden Verständnislosigkeit oder, um auf Katja Kullmann zurückzukommen, mit zartem Zweifel. Listige Verlags-Idee übrigens, zwischen Lese und Stoff einen Bindestrich zu setzen, denn Stoff spielte in Fausers leben nicht nur in flüssiger Form eine heftige Rolle. Aber das hat ja nun wirklich jeder erwähnt, sogar die Lexika, in denen er vorkommt. Das ist nicht mehr wie früher, als des Führers Hand nur hinterm Rücken zittern durfte.

Fauser schreibt sensationelle Sätze. Zum Beispiel: „Am Anfang war das Wort, und dann kam schon die Meinung.“ Muss man tatsächlich permanent Romane lesen, um das Gefühl zu haben, mit erheblicher Literatur umzugehen? Auch all die Fauser-Nachrufer und Vorgratulierer halten sich an den Romanen fest, die er schrieb, und jeder hat seine eigene Rangfolge, die er nicht verschweigt, als gelte „Deutschland sucht den Super-Fauser“ und es gibt ein Kopf-an-Ferse-Rennen zwischen dem „Rohstoff“ und dem „Schneemann“, etwas abgeschlagen auf der Außenbahn nach Tritt an die Wade „Das Schlangenmaul“, während „tophane“ ja von Fauser selbst so ersatzvornehmend disqualifiziert wurde, dass man das gar nicht mehr eigens erwähnen muss. Schwamm drüber. Lyrik gibt es auch von ihm, drei Gedichte erschienen sogar in der DDR-Sammlung „Die nicht erloschenen Wörter“, die Hubert Witt, Sina gewidmet, 1985 herausgab. Ich wünsche Hubert Witt allein deshalb ewigen Ruhm, weil er immer wieder neue Günter-Kunert-Bände auf den alles andere als unersättlichen Markt wirft. 1985 lebte Fauser noch.

Am 21. Juni 2004 kritisierte der SPIEGEL anonym einspaltig die Fauser-Biographie von Matthias Penzel und Ambros Waibel, letzterer verursacht mir in gewissen Abständen mit seinem Schaffen für die JUNGE WELT mittleren Grusel, obwohl mein diesbezüglicher Bedarf eigentlich gedeckt ist.  Der obercoole SPIEGEL macht es dann wie der schon erwähnte Wagner, der erste Satz muss knallen: „Manchmal wusste er vor lauter Abgebrühtheit nicht, wie er auf dem Stuhl sitzen sollte.“ Das dazu gehörende Foto gab es als Illustration zu Katja Kullmann vorige Woche. Für mich sieht er da nicht abgebrüht aus, sondern wie ein begossener Pudel, mit dem niemand spielen will, während Charles Bukowski die Weiber anbaggert. Schade, dass ich meinen Freund Manfred Warnecke nicht mehr fragen kann, ob wir, als wir über Bukowski redeten in stillen Ecken der Staatsbibliothek Unter den Linden, auch über Jörg Fauser sprachen. Fussel war im Bilde, ich kam aus den Bergen und wusste von Szene wenig, mein Interesse daran ist nie gewachsen, gar gediehen.  Mit Hemingway zu reden nach Christopher Marlowe: „aber das war in einem andern Land“.

Auch Jörg Fauser mochte Hemingway und man ist versucht zu sagen, alles andere wäre seltsam. Der veröffentlichte Jubiläumsjournalismus quält sich bis heute, Fausers literarische Vorlieben wenigstens schmallippig zu goutieren. Denn haargenau die Urteile und Vorurteile, die Fauser bis zur Weißglut reizten und ihn bisweilen erregend unflätig werden ließen, die sind ja alle noch da. Sie speisen sich aus urdeutschen Quellen, und weil das so ist, lesen sich die „Lese-Stoff“-Texte eben, als wären sie eben frisch veröffentlicht. Dass es im Alexander Verlag Berlin längst auch die übliche fette Werkausgabe gibt, soll nicht verheimlicht werden. Auf diese Ausgabe verwies pauschal auch Volker Weidermann zum 20. Todestag Fausers in der F.A.S. Weidermann findet, dass die Essays über Hemingway, Fallada und vor allem Joseph Roth „zum Schönsten und Liebevollsten gehören, was über Literatur zu seiner Zeit geschrieben wurde.“ Als Weidermann geboren wurde, war Fauser 25 Jahre alt und es ist gut, dass solche Weidermänner, wenn auch leider nicht gleich im Six-Pack, nachgeboren werden. „Ist das schön, denkt man beim Lesen, und wieder gibt es Sätze, die man singen möchte oder trommeln, und in manchen Frankfurt-Beschreibungen leuchten die ganzen achtziger Jahre auf einer knappen halben Seite auf.“ So Weidermann über Fauser.

Franz Josef Wagner, der mit Fauser soff und sich beseligt daran erinnert, schloss seine Betrachtungen zu dessen Roman-Fragment „Die Tournee“ mit einer Frage an sich selbst: „Welchen toten Schriftsteller unserer Zeit, wenn ich die Wahl hätte, würde ich wieder zum Leben erwecken? Ich würde sagen: Fauser.“ Die unerschütterliche Sicherheit Wagners freilich, dass der Tod auf der Autobahn auf keinen Fall Selbstmord gewesen sein kann, teile ich nicht. Nicht, weil ich irgendetwas weiß, was andere nicht wissen. Oder doch, obwohl das eigentlich auch fast alle wissen: Wäre Selbstmord immer das logische Ende von etwas, dann wäre die Mehrzahl aller Fälle nicht geschehen. Tatsächlich aber ist immer eine finale Irrationalität dabei, die allen Erklärungsmustern Hohn spricht. Man muss nur lesen, was er eben über Joseph Roth schreibt oder über Hans Fallada, dann scheint die Spekulation weniger an den Haaren herbeigezogen als sie wirkt. Fauser zitiert einen Roth-Satz, vor dem es kein Verstecken gibt: „Seit wann ist es so, daß ein Schriftsteller sagen darf: ich muss lügen, weil meine Frau leben und Hüte tragen muss? Und seit wann ist es üblich, das gutzuheißen?“ Und Fauser drischt, 1978/1979, wohl bemerkt, nicht nur auf „Linke“, „die um so lauter schnattern, je weiter der Anlass ihres Geschnatters vom Orte ist, und um so schriller, je weniger sie ihre sogenannte Solidarität vom Eigenen kostet.“ Auch auf die Grünen mit einer Hellsicht, die 35 Jahre danach noch kein Allgemeingut geworden ist: „Und die Grüne Kraft webt wirklich Freude um die gestressten Herzen des Mittelstands.“

Friedrich Ani, Vorwort-Autor, hat sich einen Satz aus „Fallada“ gegriffen, der sich viel leichter zitiert als er beherzigt wird: „Wenn Literatur nicht bei denen bleibt, die unten sind, kann sie gleich als Party-Service anheuern.“ Man darf streiten, was unter unten zu verstehen ist. Reicht das Personal, an dem sich Bürgersöhne ihre Grusellektionen holen, oder gibt Jörg Fauser gar den Vordenkern des Bitterfelder Weges der DDR unabsichtlich recht, die das Wort unten selbstverständlich weit von sich gewiesen hätten? Fauser bezog sich in „Fallada“ mehrfach auf Tom Crepon und dessen DDR-Fallada-Buch. Die unappetitlichen Geschichten ums Neubrandenburger Literaturzentrum, die später auch an diesem Biographen sich festmachten, wurden erst öffentlich, als Fauser nicht mehr lebte. Wie er sich in Neumünster seinem Gegenstand näherte, das ist beispielhaft. Beispielhaft journalistisch und beispielhaft literarisch. Das ist mehr als viel.


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