Frank Wedekind 150

Nein, es ist nicht die schlechteste Idee, mit Heinrich Mann zu beginnen. Heinrich Mann, der ältere Bruder von Thomas Mann, das für alle, die ohne internetfähiges Handy durchs Leben gehen, hat in seinen Erinnerungen „Ein Zeitalter wird besichtigt“ ein achtes Kapitel „Die Gefährten“ genannt. So heißt zwar auch ein Roman von Anna Seghers, die aber wäre nie auf den Gedanken gekommen, für ihre einfache Überschrift Titelschutz zu beantragen. Die Zeiten, da man keine Skrupel entwickelte, selbst ausgemachte Hassobjekte unter Markenschutz zu stellen, um im Fall der Fälle mit ihnen Geld verdienen zu können, das FDJ-Emblem zu Beispiel, (was war das denn wieder), waren noch nicht angebrochen, Heinrich Mann starb am 12. März 1950 in Santa Monica, Kalifornien. Ganz abwegig ist dieser abwegige Einstieg übrigens nicht, wie sich noch zeigen wird. Gleich der erste mit einer Zwischenüberschrift gewürdigte unter den Gefährten ist nämlich Frank Wedekind. „Ich habe in meiner Erinnerung niemand, der sein öffentlich getragenes Wesen so sehr ablegte, um mir nahezukommen.“ Merke: Frank Wedekind hatte ein öffentlich getragenes Wesen, das er ablegen konnte wie einen Hut auf der Garderobe und es wurde ihm alsbald hoch angerechnet.

„Ich habe ihn nie herausgefordert. Er hat nie versucht, mich zu demütigen.“ Wer das herausstellt, hat einschlägige andere Erfahrungen. Die nicht hierher gehören. Bitterkeit wie die folgende schon: „Die Zeiten, die bald kommen, werden von uns nicht wissen, Abgründe tun sich auf, nichts führt die Nachfahren zu uns zurück.“ Bisweilen schieben sich Zonengrenzen dazwischen, diesseits wird er früh verehrt und gefeiert, jenseits so spät entdeckt, dass es peinlich sein müsste, wenn denn jenseits überhaupt je etwas peinlich war. Man darf nach Bedarf, sprich nach eigener Sozialisierungsgegend, die Ortsangabe tauschen, also diesseits als jenseits und umgekehrt sehen, stabil bleibe die Zonengrenze. „Seine Haltung war vollendetes 19. Jahrhundert: der Glaube an die immer belohnte Arbeit, an den Aufstieg vermöge „Entwicklung“, durch redliche Ausdauer. ... Je mehr moralischer Empörer, um so ehrfürchtiger vor jeder Tradition. Seine gewagten Probleme kleiden sich in überlieferte sprachliche Formen, die Indezenz sogar ist um Klassizität bemüht.“ Keine Furcht noch bei Heinrich Mann, solche Verhältnisse könnten sich umkehren.

Heinrich Mann erzählt die Anekdote von der tiefen Verneigung Frank Wedekinds vor dem König von Württemberg, als Wedekind schon ein berühmter Mann war, berühmt wurde man im frühen bürgerlichen Zeitalter durch einen oder mehrere Skandale noch leichter als heute, Hitlervergleiche gab es vor 1918 noch nicht. Weil Heinrich Mann dann zu einem hoffnungsvollen Blick auf Stalins Sowjetunion ansetzt, ist es besser, ihn an dieser Stelle zu verlassen. Beide haben, der 1864 Geborene und der 1871 Geborene, bisweilen des gemeinsamen Alkoholgenusses gefrönt. „Mein innerster Zusammenhang mit Frank Wedekind war, daß wir einiges Gewesene für unser Bestes hielten.“ Wedekinds zweite Tochter Kadidja, jüngere Schwester jener Pamela, die im Leben von Klaus Mann eine nicht unwichtige Rolle spielte, begrüßte Heinrich Mann bei dessen Ankunft im amerikanischen Exil. „So viel Zuneigung zu finden bei den Kindern! Daran erkenne ich ihn.“ Es ist überliefert, dass Wedekind mit seinen beiden Töchtern zwei volle Stunden täglich musizierte und spielte, so einer war das auch. Und die Töchter gerieten.

Halbwegs nahtlos lässt sich mit Ibsen weiter machen. Der Norweger saß Frank Wedekind im Nacken. Das hatte mit Naturalismus zu tun, mit Mode, mit Zeitgeist. Bisweilen gewinnt man den Eindruck, Ibsen war für Wedekind überall.  In der kleinen Erzählung „Die Fürstin Russalka“ zum Beispiel berichtet die nämliche Dame von der aus Wien anreisenden Gräfin Telecky: „Sie hatte alles gelesen, alles, was in Europa geschrieben worden: Ibsen, Tolstoi, Zola, Dostojewski, Nietzsche, Sudermann; sie war eine wandelnde Leihbibliothek. In sechs Monaten hatte sie eine ebenso fanatische Atheistin aus mir gemacht, wie ich vorher eine gläubige Katholikin gewesen war.“ Mal von der rasanten Zusammenstellung Tolstoi und Sudermann abgesehen, die tief, tief in die Abgründe Wedekindschen Humors führt: Ibsen kommt zuerst. Und als die Fürstin, zur Atheistin mutiert, selbst nach Wien kommt, da trifft sie auf einen sozialdemokratischen Volkstribunen: „In der Premiere von „Hedda Gabler“ lernte ich Dr. Rappart kennen.“ Mit ihm zeugt sie „den rosigen, kleinen, blauäugigen Sozialdemokraten“, den sie der jungen Baronin stolz präsentiert.

Nicht um „Hedda Gabler“, wohl aber um den „Baumeister Solness“ geht es in einem längeren Essay von Wedekind, der, ich will es einmal ungeschützt behaupten, zum gescheitesten gehört, was über den „Baumeister Solness“ bis heute geschrieben wurde. Dort findet sich ein Satz wie dieser: „Die Vermännlichung der Frauenfiguren hat in Ibsens Familiendramen von Stück zu Stück gradatim zugenommen.“. Wedekind braucht ein Weilchen, bis er über „Nora“ und die „Frau vom Meer“ endlich beim Baumeister angelangt ist. Er stellt ein Personenverzeichnis auf, das die Personen des Ibsen-Dramas durch das ersetzt, wofür sie stehen. Über mehrere Seiten, die nun mit faszinierender Vergnüglichkeit daherkommen, belässt er die Original-Dialoge bei den „neuen“ Figuren. Dergleichen wird in breiten Germanistenkreisen sicher zu Haarausfall, zu knöchelschädigendem Händezusammenschlagen über den Interpretenhäuptern geführt haben, falls man es denn wahrnahm. Denn mehr als Vierteljahresschriften und Festschriften schafft der gemeine Philologe doch eher selten. Ich aber verharre immer noch begeistert vor dem schönen Wort gradatim.

„Ich kann heute kein Porträt Ibsens mehr sehen, ohne das sardonische Lächeln in seinen Zügen direkt auf die Aufnahme zu beziehen, die sein Baumeister Solneß beim Publikum fand. Er führt uns eine Handlung vor, die, gestehen wir uns das offen, im wirklichen Leben durchaus ohne Sinn und Verstand ist.“ Von Wedekind gibt es solche Porträts nur in verbaler Form, auf Fotos fehlt sein sardonisches Lächeln, es war auch keinesfalls ein früh geübter Brauch, solch Gesicht aufzusetzen. Doch die beiden folgenden Sätze machen vorstellbar, wie es beim Niederschreiben über Wedekinds Gesicht ruckte: „ Der Gang der Handlung ist folgender -  die Sprache versagt mir. Ich frage mich, ob es eines anständigen Menschen nicht unwürdig ist, den alten Zauberer zu entlarven.“ Er beantwortet die Frage, indem er es tut und behält dennoch mit seiner Vermutung ein wenig recht. Es ist ein Pröblein unwürdig. Das berühmte Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, wenn man es gegen den Strich liest, entlarvt ja auch einen alten Zauberer und nur ein Kind hat die nötige Unschuld, das in aller Würde zu tun.

Im Rahmen seines Glossariums „Schauspielkunst“ hat Wedekind ebenfalls einen Platz für Ibsen gefunden, übrigens gleich nach dem kurzen Abschnitt „Ausgleich“, der hier komplett zitiert sei: „Sämtliche Prügel, die mir die Presse für meine Schauspielerei erteilt, gebe ich ungeschwächt und ungemindert an den heutigen deutschen Schauspielerstand weiter, der sich seit Jahren als ungeeignet erweist, die Werke der heute in Deutschland aufstrebenden Dramatiker zur Geltung zu bringen.“ Sprich natürlich vor allem: Wedekinds Werke. Wedekind hat von geeigneter Seite viel Lob für sein Spiel erfahren, nur für seine Auftritte als Sänger eigener Lieder noch mehr. Einer wie Tucholsky, es darf vermutet werden, hat sich zu Wedekind weitreichende Schweigepflicht auferlegt und das liegt nicht nur daran, dass Wedekind vor ihm die Idee hatte, mit zahlreichen verschiedenen Pseudonymen aufzutreten, die „fünf PS“ gab es also schon, ehe sie sprichwörtlich wurden. Etwas Neid wird wohl beigemischt gewesen sein. Doch zurück zu Ibsen: „Ibsen gab uns eine neue Weltanschauung, eine neue Menschenschilderung, eine neue Seelenkunde, aber keine neue Dramatik.“ Und, an die Fürstin Russalka“ sei hilfsweise erinnert: „Das Blut der Ibsenschen Schicksalsweiber Rebekka West und Hedda Gabler fließt bei uns in den Adern von alten Jungfern.“

Am 20. November 1911 hielt Frank Wedekind in München eine Rede mit dem schlichten Titel „Heinrich von Kleist“. Als ich sie zuerst las, notierte ich mir am Ende: „Weniger kann man über Kleist kaum sagen.“ Dazu stehe ich, denn das Urteil ist erst reichlich sieben Jahre alt. Aber ich zitiere jetzt mit hoch erhobenem Zeigefinger: „Wie aber steht es um ein Volk, das bekanntlich Gott fürchtet und sonst nichts auf der Welt,  um eine Weltmacht, um eine Kulturnation, die gegen seine (sic!) Schriftsteller, sobald sie nur den Mund auftun, die Polizei und den Staatsanwalt zu Hilfe ruft.“  Muss tatsächlich darauf hingewiesen werden, dass Wedekind in eigener Sache sprach? Abgesehen davon, dass selbst die finsterste Diktatur sich eben nicht so verhält, wie der Redner es hier beklagt, denn noch je war es wichtig, was aus den geöffneten Mündern kam. Wir haben heute größte Mühe, nach Lektüre des berühmt-berüchtigten Gedichtes „Im Heiligen Land“, gezeichnet mit „Hieronymus“, den Tatbestand der Majestätsbeleidigung wenigstens probehalber anzuerkennen. Bei uns beleidigt noch der sechstrangige Comedian/Satiriker die „Majestät“ mit einer so billigen Inbrunst, dass man sich schon fast wieder ein Häppchen Zensur wünschen müsste, um sich selbst den ständigen Zwang zum Fremdschämen zu ersparen.

DDR-Bürger konnten das Gedicht 1980 im Poesiealbum Nummer 148 nachlesen, dort wählte es Richard Pietraß aus, und zuvor 1973 in der Sammlung „Greife wacker nach der Sünde. Hundert Gedichte“ des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar (bb-Buch 284), Auswählerin Brigitte Struzyk unter tätiger Mithilfe von Antonie Günther. Hans-Dieter Schütts Behauptung, ein Gedichtband „Greif wacker nach der Sünde“ sei beim Tode Wedekinds 1918 sein erfolgreichster gewesen, ist sicher dem beschwingten Schwung zuzuschreiben, in dem sich der Autor befand, als er des heutigen 150. Geburtstages von Wedekind gedachte. Die bb-Bücher der DDR waren tatsächlich erfolgreich, aber eben später, später, sehr viel später. Wedekind riss erst aus, als Strafe drohte, dann stellte er sich doch, und musste seine Haftstrafe auf der Festung Königstein im Elbsandsteingebirge verbüßen. Als ich dort 1963 die Moderluft der Kasematten einsog im zarten Alter von zehn Jahren, hatte ich noch kein Ohr für Namen prominenter Häftlinge, vielleicht fiel der von Wedekind auch gar nicht. Bis zum so genannten Durchbruch dauerte es da immer noch eine Weile.

Als Frank Wedekind 50 Jahre alt wurde, hagelte es Glückwünsche, die einen ganzen Sammelband füllen, den man heute antiquarisch sogar noch bekommen kann, der Beginn des Ersten Weltkrieges stand unmittelbar bevor. Auf den Bühnen war, liest man in den biographischen Abrissen, danach sein Werk nicht mehr gefragt und das Ende des für ihn also auch ganz persönlich verheerenden Krieges hat er nicht mehr erlebt. Dass ihm Blinddarm und Leistenbruch zum Verhängnis wurden, ist beinahe ein Treppenwitz, aber eben nur aus heutiger Sicht. Damals konnte man ja nicht einmal einfache Infektionen effektiv behandeln. Die Geschichte seiner Beerdigung, bei der der Dichter Heinrich Lautensack in Wahnsinn verfiel und der Dichter Bertolt Brecht ein zwanzig Jahre alter Zuschauer war, der bald in den „Augsburger Neuesten Nachrichten“ einen euphorischen Nachruf abdrucken ließ, ist oft erzählt, die Erzählung noch öfter zitiert worden. Erich Mühsam flossen die Tränen, als er Lautensack zusammenbrechen sah. Man greife zu Mühsams „Unpolitischen Erinnerungen“, da steht alles drin.

Der Österreicher Alfred Polgar veröffentlichte in DIE WELTBÜHNE am 16. Mai 1918 „Wedekind. Aus einem Notizbuch“. Dort stehen, Polgar wäre sonst nicht Polgar, wunderbare Sätze, zitiert seien Anfang und Ende. Der Anfang, weil er scheinbar auf das sardonische Lächeln Ibsens verweist: „Der Wedekind-Zug, tief eingekerbt in seine und in seiner Dichtung Physiognomie: ein dünnlippiges, dabei beleidigend höfliches Grinsen, das die Weltordnung quer durchstreicht.“ Der Schluss um seiner selbst willen: „Er hatte die Miene eines Verkünders, dem seine gute Botschaft in die Pfütze gefallen war. Er ging daher wie ein Heiland, der Pech gehabt hat und es mit schweigendem Anstand erträgt. Wie stellte er sich den andern dar? Wie jeder invertierte Held: als Komiker, als Narr. Aber als Narr mit Heiligenschein.“ Hier böte sich an, über österreichische Vorlieben für den in Hannover geborenen Wedekind nachzudenken. Denn da wäre noch Karl Kraus zu würdigen. Aber da ist auch Richard von Schaukal, der 1903 und 1908 je eine Porträtskizze zu Wedekind zu Papier brachte, weit von der Leichthändigkeit Polgars entfernt, von Kraus natürlich auch, aber mit einer überbordenden Vergleichs- und Abschweiflust, dass es schon wieder eine Freude ist, ihn zu lesen.

Uns Heutigen ist Frank Wedekind fast nur noch „Frühlings Erwachen“ und „Lulu“, ich müsste hier pflichtschuldigst an Susanne Lothar und Ulrich Wildgruber erinnern 1988 in Hamburg, obwohl ich da nur Fernsehzuschauer war. Noch vor knapp 50 Jahren zählte „Der Kammersänger“ als das meistgespielte und erfolgreichste Wedekind-Stück. Nicht weniger als 110 deutsche Theater sollen mit diesem Einakter den ersten Wedekind ihrer jeweiligen Geschichte auf die Bühne gebracht haben. Theodor Wiesengrund Adorno hat sich an „Musik“ festgehalten, dem „Sittengemälde in vier Bildern“, Mühsam, um den noch einmal wenigstens zu erwähnen, umkreiste ausführlich „Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten“. Gedacht war das als weibliches Pendant zum Faust-Stoff, gebe ich das Kurzstatement von Gerhard Hay weiter. „Schloss Wetterstein“ nimmt Ibsen als „Folie“, ein Kreis schließt sich damit. Bleibt nur noch der Anfang zu verteidigen, der abwegige Einstieg: Frank Wedekind hat in der Schweiz, deren Rolle in seinem Leben nicht nebenher zu behandeln ist, als Werbetexter für Maggi gearbeitet. Es gibt Menschen, die das peinlich finden. Es gab in Düsseldorf sogar eine Ausstellung dazu vor auch schon wieder fast zwanzig Jahren. Das Heinrich-Heine-Institut stellte seine Räume zur Verfügung und die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG hielt es für wichtig, darauf hinzuweisen, die Ausstellung sei nicht von Maggi gesponsert. Heine und Wedekind aber, das wäre schon wieder ein Thema.


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