Friedrich Gerstäcker 200

Anders als bei Goethe, wo die Heimatgeschichtler einander auf Duellpistole fordern, wenn der eine abweichend vom andern behauptet, der Geheimrat habe die Dorfkneipe von Unterbimmzwickel nicht erst um 17.30 Uhr, sondern wahrscheinlich bereits um 16.50 Uhr verlassen, weil die Eilpostkutsche an diesem Tag etwas früher fahren musste wegen der Kopfsalatlieferung an den Legationsrat XYZ aus Oberbimmzwickel, ist bei Friedrich Gerstäcker keiner, der sich nennenswert für irgendetwas interessiert. Sein 200. Geburtstag am 10. Mai 2016 fällt auf den Welttag des Buches und schon die seltsame Tatsache, dass dies in den USA seit 1986, also schlappe 30 Jahre schon, der „Friedrich Gerstäcker Day“ ist (im Bundesstaat Arkansas), ist niemandem einen Satz wert. Nicht ganz niemandem: Ralf Julke von der Leipziger Internet-Zeitung fand es erwähnenswert und in Braunschweig, wo die Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft ihren Sitz hat und das Friedrich-Gerstäcker-Museum betreibt, wo Gerstäcker auf dem Magnifriedhof seine letzte Ruhestätte hat, gibt es sogar so etwas wie eine Festwoche. Für Julke ist Gerstäcker einer der berühmtesten Schriftsteller Leipzigs, dem Hochkultur-Leipzig bezeichnenderweise keinen Gedanken zu widmen bereit war.

Als dieser Tage die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in ihrer Rubrik „Neue Reisebücher“ auf den Sammelband „Wilde Welten. Eine Reise in Erzählungen“, aufmerksam machte, Autor Friedrich Gerstäcker, Verlag Ripperger & Kremers, 253 Seiten stark, von diesem Verlag hatte ich zuvor nie gehört, regte sich meine Neugier: Was gibt es sonst noch aktuell? Ein einziger Anbieter im Netz, nicht der, den vor einiger Zeit Boykottaufrufe nicht zu schädigen vermochten, vermeldete 190 (!!!) Treffer. Man könnte meinen, eine Flut von neuen Gerstäcker-Ausgaben überschwemme den deutschen Buchmarkt, doch: fast alle Angebote sind Angebote mit verlängerter Lieferzeit. Der boomende Sektor der Reprint-Verlage hat in den vergangenen Jahren, vor allem aber 2015 und 2016 den einstigen Bestseller-Autor für sich entdeckt. Einige der Anbieter hatten freilich während des Grundkurses Marketing offenbar ihr Sabbat-Jahr genommen, Broschuren erwartbarer Qualität für 84 Euro wird niemand kaufen, auch für 54 Euro gibt es kaum bessere Aussichten. Alte Gerstäcker-Freunde freilich, die dann aber wieder nicht das Internet nutzen würden, mein Vater etwa, der 2004 starb, hätten ihre helle Freude an dem plötzlichen vermeintlichen Überangebot.

Der Mann, der 1986 die Einführung des „Friedrich Gerstäcker Day“ verfügte, war ein gewisser Bill Clinton, damals Gouverneur von Arkansas, wir erinnern uns alle nicht nur der Zigarre, sondern auch der republikanischen Versuche, gerade aus dieser Zeit des späteren Präsidenten mit Gattin Hillary, der künftigen Präsidentin, Skandalstoff zu saugen. Wir lernten: Man kann eine komplette Präsidentschaft hinter Dauer-Untersuchungen fast komplett verschwinden lassen und merkt erst am Desaster des Nachfolgers, wer da eigentlich was bewirkt hatte und wie schnell das alles wieder verspielt werden kann. Niemand klopfte auf den Bush, um nach den Hasen zu sehen, die unter ihm hervorsprangen. Gerstäcker aber, 170 Jahre nach seiner Geburt in Hamburg, war der Mann, der „Die Regulatoren in Arkansas. Aus dem Waldleben Amerikas“ geschrieben hatte, 1846 in Leipzig erschienen, dreibändig, man schrieb damals immer gleich dreibändig. Es folgte, wieder in drei Bänden „Die Flusspiraten des Mississippi“, 1848 abermals in Leipzig. Eine Ausgabe des Globus Verlages Berlin, 446 Seiten stark, gedruckt von Hallberg & Büchting (Inhaber L. Klepzig) Leipzig, gehört zu meinen frühesten Bücherregal-Erinnerungen, als ich noch Bücher schob, nicht las.

1957 ernannte der Bundesstaat Arkansas den deutschen Schriftsteller Friedrich Gerstäcker posthum zum Ehrenbürger. Der damalige Feuilleton-Chef der Hamburger ZEIT, Paul Hühnerfeld, der schon 1960 an den Folgen eines Verkehrsunfalles starb, hielt es für nötig, dem gebürtigen Hamburger Gerstäcker seine Referenz zu erweisen: „Die Bürger des amerikanischen Staates Arkansas haben uns eine Lektion erteilt, indem sie einen deutschen Schriftsteller ehrten“, begann sein Beitrag. „Und die Deutschen, die doch über jeden Lyriker, wenn er nur ein paar gereimte Strophen aufzuweisen hat, Bände schreiben, über seinen echten oder vermeintlichen Tiefsinn nachzudenken pflegen, haben über Friedrich Gerstäcker kaum etwas geschrieben und wenig nachgedacht.“ Daran ändert auch die Darstellung von Leben und Werk nichts, die Thomas Ostwald 1976 veröffentlichte und die 2007 in wesentlich umfangreicherer überarbeiteter Fassung erneut erschien. Im immer etwas kruden Fachjargon wird Gerstäckers Werk als „abgesunkene Erwachsenenliteratur“ bezeichnet. Das sollen Bücher sein, die für Erwachsene geschrieben wurden, aber von Jugendlichen gelesen werden. Also ich etwa habe zwischen Dezember 1964 und Dezember 1969 23 Titel von Gerstäcker gelesen.

1972 im September ließ ich noch einen folgen, Titel „Aus dem Matrosenleben“. Das Buch würde ich heute nicht mehr lesen, weil nicht klar ist, was ich da läse. „Gekürzte und bearbeitete Ausgabe“ steht vorn, nicht, wer kürzte und warum, nach welchen Prinzipien. Gerstäcker hatte seine Verlagsheimat in der DDR, deren Bürger ich 37 meiner 63 Lebensjahre war, beim Verlag Neues Leben Berlin. Der ließ zwischen 1954 und 1974 nicht weniger als sieben Titel in seiner Reihe „Spannend erzählt“ erscheinen, der Band 10, „General Franco“, war mir mit meinen noch nicht zwölf Jahren der erste Gerstäcker. Die große Mehrzahl der erwähnten Titel aber waren keine umfänglichen Bücher, sondern Hefte, wie sie das gesteuerte Leseland DDR ihrem Nachwuchs als bewusste Alternative zum „Groschenheft“ des Westens zu konsumieren erlaubte. Allein zwölf Hefte erschienen in der Reihe „Das neue Abenteuer“, davon eins zweifach. In der kurzlebigen Reihe „Abenteuer aus weiter Welt“ mit nur 18 Titeln waren der erste und der letzte von Gerstäcker. In der Reihe der Kompass-Bücher gab Neues Leben Berlin die Nummern 100 und 150 an Gerstäcker. Sogar 13 Hefte Gerstäcker druckte der Verlag Kultur und Fortschritt in der „Kleinen Jugendreihe“.

Und ließ ein 14. Heft in der Nachfolge-Reihe KAP (Krimi-Abenteuer-Phantastik) folgen. Nach einer langen Pause überraschte Neues Leben Berlin dann plötzlich in den späteren achtziger Jahren mit einer Serie voluminöser Gerstäcker-Bände in Kooperation mit dem Stuttgarter Union Verlag. Was die DDR-Verantwortlichen dabei offenbar nicht wollten, waren die informativen Nachworte aus Stuttgart, in fünf von sechs Bänden blieben sie dem DDR-Leser vorenthalten, die Ausnahme ist der Roman „Tahiti“ (1987). Der Band „Gold“ (1989) ist geeignet, die Brutalität der Bearbeitungen zu demonstrieren, die, der Wahrheit die Ehre, kein Privileg der DDR genannt werden darf. Der erste Satz von „Gold“ in der Ausgabe der Emil Pinkau & Co. Aktiengesellschaft Leipzig lautet: „Land!-Land!“ – über die blaue, leise wogende See schallte der laute jubelnde Ruf von der Mastspitze nieder.“ Im Band 76 der Reihe „Spannend erzählt“: „Land! – Land!“ – Von der Mastspitze schallte der laute, jubelnde Ruf über die blaue, leise wogende See. „Land!“ – und „Land! Land! schrie es im Echo, in Kajüte und Zwischendeck hinein und von einem Ende des Decks zum andern.“ Den zweiten Satz hat die alte Ausgabe gar nicht. Die 89er Ausgabe bringt den Text letzter Hand.

Das liest sich dann so: „Land! – Land!“ Über die blaue leise wogende See schallte der jubelnde Ruf von der Mastspitze herunter. „Land! Land!“ schrie es überall wie ein Echo zurück, aus der Kajüte wie aus dem Zwischendeck heraus, von einem Ende des Decks zum anderen.“ Riesig sind die Unterschiede nicht, aber Friedrich Gerstäcker war ein deutschsprachiger Autor, nicht Übersetzer manipulierten willkürlich an den Sätzen. Enthalten diese Laxheiten gegenüber dem Ur-Text das stille Eingeständnis, bei jungen Lesern komme es nicht so darauf an? Und bei älteren? Immer wieder las man, Gerstäcker sei 1862 gemeinsam mit Alfred Brehm zu einer Reise nach Äthiopien aufgebrochen. Tatsächlich aber gehörten beide zu einer Reisegesellschaft des Herzogs von Sachsen-Coburg und Gotha, Ernst II., den wiederum der Kartograph August Petermann für das Unternehmen gewonnen hatte, wobei der Herzog seiner Jagdleidenschaft mehr als wissenschaftlichen Ambitionen zu folgen gedachte. Ich weiß nicht, warum der Herzog immer wieder auffällig verschwiegen wurde. Seine heute schwer nachvollziehbare Begeisterung am Töten eines Elefanten kann es kaum gewesen sein, Gerstäcker selbst stellte ja auch den Walfang nicht in Frage.

Bei Detlef Ignasiak, „Das literarische Gotha“, kann man nachlesen, dass der Herzog Gerstäcker nach der Afrika-Reise nach Gotha einlud und auf einen langen Aufenthalt hoffte. Dass der Autor tatsächlich eine Zeit in Gotha wohnte und zwar mit seiner zweiten Frau Marie Louise Vischer van Gaasbeek, ist Ignasiak offenbar nicht zur Kenntnis gelangt. Von Gotha siedelte die Familie dann nach Dresden über, von dort nach Braunschweig, wo 1872 ein Hirnschlag in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai zu Gerstäckers frühem Tod mit nur 56 Jahren führte. Die große Ausgabe seiner Werke, die von 1872 bis 1879 erschien, umfasst stolze 44 Bände. Von den neuen Ausgaben der späten achtziger DDR-Jahre hat vor allem Christian Heermann knappe Notiz genommen in der hochbeliebten „Wochenpost“. Wenn mein Archiv nicht mehr enthält von damals, bedeutet das freilich nicht, dass es nicht mehr gab, die Richtigsteller vom Dienst werden sich melden und ich werde ihnen Glauben schenken, wenn sie die Belege auf den Tisch packen. Der immer wieder gern zitierte Brief Gerstäckers an Ernst Keil mit dem Titel „Geschichte eines Ruhelosen“ war übrigens Anhang zu „Streif- und Jagdzüge durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika“ (Kiepenheuer).

Die holzhaltige Broschur des in Leipzig und Weimar ansässigen Verlages erschien 1979 bereits in zweiter Auflage und brachte die Buchfassung jener Aufzeichnungen Gerstäckers von seinem langen ersten USA-Aufenthalt (1837 – 1843), die ohne sein Wissen teilweise in der Zeitschrift „Rosen“ erschienen sein sollen, die Robert Heller (1814 – 1871) herausgab. Tatsächlich überprüft hat das offenbar niemand, denn es gibt nirgends nähere Angaben etwa zu Heft-Nummer oder Seitenzahlen. Auch die Leipziger Internet-Zeitung hat für ihre Behauptung einer Beziehung von Gerstäcker und Robert Blum weder Quelle noch Beleg geliefert, die 1981 erschienene Leipziger Reclam-Ausgabe „Briefe und Dokumente“ jedenfalls kennt den Namen Gerstäcker im Zusammenhang mit dem 1848 erschossenen Blum nicht. „Wir sind in Deutschland leicht geneigt, eine solche Schriftstellerbegabung zu unterschätzen. Das gekonnt Handwerkliche, die Solidität des Sehens, Beobachtens und Erzählens steht nicht hoch im Kurs.“ So 1957 der schon zitierte Paul Hühnerfeld. Eben weil es so ist, hilft auch der gut gemeinte und gut begründete Hinweis darauf wenig. Die Lektion der Ehrenbürgerschaft stößt hier auf taube Ohren. Gerstäcker langweilt einfach zu wenig.

Man lese „Die Nacht auf dem Walfisch“. Ein Ire ist es, der aus der Reihe der Boote tanzt und zur Strafe auf dem Rücken eines toten Spermfisches, den die Anmerkungen als Pottwal identifizieren, gegen Rudel von Haien kämpfen muss. Wir wissen längst und immer, dass Wale keine Fische sind, wir wissen längst und immer, dass das Töten von Walen, um Tran zu gewinnen, schlimm war, aber was wir hier lesen, ist eine Geschichte vom Kampf ums Leben, von der erstaunlichen Kraft, die ein einzelner Mensch in hoffnungsloser Situation entwickeln kann. Dem hat der einschlägige Jack London Jahrzehnte später kaum Neues hinzugefügt. Man lese „Der Osage“ vom Betrug am Betrüger, wo der Indianer es ist, der zuletzt lacht und die beiden Weißen sind die Gelackmeierten. Zu meinen etwas muffigen Schätzen ohne Geldwert gehört auch ein Heft des Naumburger Uta-Verlages, es trägt die Nummer 8, ist 32 Seiten stark und hat den handschriftlichen Besitzvermerk meines Vaters. Titel „Eine Reise nach Amerika von 100 Jahren“. Es enthält die ersten beiden Kapitel aus Friedrich Gerstäckers erstem Buch, einfach so, wie er sie geschrieben hat. Es ist auch in Naumburg gedruckt worden, von der Lippert & Co. GmbH, falls die jemand kennt.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround