Kazimierz Brandys: Hotel Rom

Der Lauscher an der Wand hört seine eigne Schand', besagt ein sehr bekanntes deutsches Sprichwort sehr unbekannter Herkunft. Der polnische Autor Kazimierz Brandys (27. Oktober 1916 – 11. März 2000) hat in seiner 1955 entstandenen Erzählung „Hotel Rom“ einen Schriftsteller zum unfreiwilligen Lauscher gemacht im genannten Hotel in einer nicht näher benannten Kleinstadt im Gebiet Lublin östlich der Weichsel. Der Schriftsteller ist zu einer Lesung geladen, man ahnt, was kommen könnte, wird aber angenehm davon überrascht, dass das fast gar keine Rolle spielt: die Lesung mit der Typengalerie Beflissener. Stattdessen eine fast archaische Szenerie, ein Droschkenkutscher ist vom örtlichen Kulturhauschef beauftragt, den Gast auch auf den kürzesten Strecken zu befördern. Der Kutscher hat noch andere Zeiten erlebt, die Gegend auch. Der Schriftsteller ist noch nicht entschlossen, welche Manuskriptteile er vortragen wird, bei Romanen ist das offenbar nicht einfach, vor allem, wenn sie noch unvollendet sind. Mit Erzählsammlungen dagegen kann man umherreisen wie mit einem Zufallsgenerator, heute mal das, morgen mal das und immer fragt einer, ob das wirklich unbedingt erzählt werden musste. Es musste selbstverständlich.

Was der Schriftsteller hört, versteht er nicht. Hätte er weniger Zeit, würde er vielleicht gar nicht gefesselt von dem, was er nicht versteht. Aber er hat die berufsbedingte Neugier. Könnte sein, dass da eine Geschichte lauert. Die Welt ist bekanntlich voller lauernder Geschichten, wenn auch nicht jede jenen grauen Springspinnen gleicht, die ihr Opfer aus der Gully-Ecke anspringen, es mit Genuss auszusaugen. Schriftsteller werden nicht ausgesaugt, sie saugen an sich selbst und gar nicht immer zwingend aus den Fingern. Der Schriftsteller malt sich aus, wie das Paar im Nachbarzimmer aussieht. Er sieht schnell Schicksale vor Augen und als er beide am kommenden Tag tatsächlich sieht, wie sie mit ihrem Gepäck dem Bahnhof zustreben, kommt ihm gar nicht der Gedanke, sie müssten es sein, denn sie sehen ganz anders aus, als er sie sich vorstellte. Hier steckt eine gewisse poetologische Selbstironie, könnte man meinen. Der SPIEGEL hielt es noch 1966 für opportun, mit süffisanten Floskeln das Brandys-Buch „Briefe an Frau Z.“ herabzusetzen. Vielleicht hatte der Verfasser Marcel Reich-Ranickis Beitrag in der WELT vom 11. April 1959 zu Rate gezogen. Der trug die Überschrift „Die Legende vom heroischen Opportunismus“, schien aus berufenem Munde.

Dann hätte der wie einst immer anonyme SPIEGEL-Mann aber ganz sicher nicht Kenntnis genommen vom Vorwort des gleichen Mann in dessen Sammlung polnischer Erzählungen aus dem Jahr 1962. Dort ist Brandys nicht nur einfach vertreten, er ist mit „Hotel Rom“ vertreten und dazu schreibt MRR dann: „Hier muss der zur Zeit des Stalinismus sehr erfolgreiche Romancier Kazimierz Brandys genannt werden, dessen Novelle „Hotel Rom“ jedoch zu den frühesten Versuchen der polnischen Literatur gehört, die Folgen des Parteiterrors in der Seele der Menschen sichtbar zu machen.“ Reich-Ranicki weiß aus eigener Erfahrung, was er seinen deutschen Lesern im sicheren Wissen mitteilt, auf sehr geringe Kenntnisse der polnischen Literatur und der polnischen Geschichte noch weniger rechnen zu können. Schon 1954, als in der Sowjetunion Ilja Ehrenburgs schmaler Roman „Tauwetter“ erschien, der einer ganzen kurzen Literaturperiode im Machtbereich Moskaus den Namen gab, zeichnete sich auch in Polen eine Bewegung gegen die Dogmen des „sozialistischen Realismus“ ab und die kam, wie der Vorwort-Autor ausdrücklich betonte, nicht aus den im Westen gern und vorschnell vermuteten Quellen und Köpfen.

„Sie kam nicht … aus den Kreisen der antikommunistischen Opposition, sondern war vornehmlich eine zunächst zaghafte und getarnte, später hingegen stürmische Revolte ehemaliger Stalinisten, gestriger Anhänger des sozialistischen Realismus, enttäuschter Kommunisten.“ Ja, die Jahreszahl 1955 unter der Geschichte ist sehr wichtig. Nicht unwichtig ist beispielsweise auch der Umstand, dass in der DDR die schon genannten „Briefe an Frau Z.“ nur um zehn Briefe des Originals gekürzt erscheinen durften. Denn Literatur aus dem Bruderland Polen war eine Literatur, die länger mit Argusaugen als unvoreingenommen gesehen und verbreitet wurde. Es sei auf den sehr lesenswerten Band des Ch. Links Verlages zur Geschichte des Berliner Verlags Volk und Welt hingewiesen, Titel „Fenster zur Welt“, von Simone Barck und Siegfried Lokatis herausgegeben. Dort schreiben keine Matadoren des DDR-Hasses, sondern ausgewiesene Kenner, nicht selten Beteiligte und Betroffene. Man erfährt, dass Brandys einer der Lieblingsautoren der verantwortlichen Lektorin Jutta Janke war, dass die nach zehn Ignoranz-Jahren erschienene Sammlung „Moderne polnische Prosa“ 1966 gegenüber der Erstausgabe von 1964 um zwei Autoren und drei Erzählungen gekürzt wurde.

Die Opfer hießen laut Henryk Bereska Tadeusz Borowski (12. November 1922 – 3. Juli 1951) und Stanisław Wygodzki (13. Januar 1907 – 9. Mai 1992), der eine hatte demnach nicht normgerecht zwischen den Guten und den Bösen unterschieden, der andere war nach Israel ausgereist. Zwei KZ-Opfer, Auschwitz-Überlebende, die der DDR-Zensur nicht ins hauseigene Zeit-Bild passten, es spricht so oder so für sich selbst. Dummerweise scheint das Gedächtnis den verdienstvollen Übersetzer Bereska getäuscht zu haben. Denn wegen der erst 1968 erfolgten Ausreise nach Israel kann Wygodzki zwischen 1964 und 1966 schlechterdings kaum aus einem Buch genommen worden sein. Hinzu kommt, dass er in der Ausgabe von 1966 gar nicht fehlt. Nur sieben Seiten nach der irrigen Bereska-Behauptung belegen die als Beweis für die Tilgung gezeigten Buchtitel zwar die Reduzierung der Autorenzahl und der Zahl der vertretenen Erzählungen, der Name Wygodzki ist aber in der Abbildung sehr gut sichtbar noch vorhanden. Wer also der zweite gestrichene Autor war und welche Texte verschwanden, ist mir augenblicklich nicht ermittelbar. Ich kann nur die zweite Ausgabe mit ihren 24 Autoren und 29 Erzählungen heranziehen. Auch Brandys ist darin vertreten.

Er, von dem schon einige Bücher in der DDR erschienen waren, wenn eben auch teilweise amputiert, wurde später noch einmal Zensur-Opfer. Bereits in der Mitte der Fünfziger schaffte es seine Erzählung „Verteidigung von Granada“ zwar in die Wochenzeitung „Sonntag“, bevor dort die Zügel wieder radikal angezogen wurden, durfte aber danach nie wieder erscheinen. Einer der allerletzten Spektrum-Bände des Verlages, die Nummer 258, der kleine Roman „Der Einfall“, lag, wie Übersetzer Henryk Bereska berichtet, rund zehn Jahre auf Eis, weil Brandys von Paris aus gegen die Einführung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 in Polen protestiert hatte. Der Verlag verwies immerhin demonstrativ und, was für das Druckjahr 1990 freilich kaum noch mutig genannt werden muss, ausdrücklich darauf, dass das Buch in Polen bereits 1974 erschienen war. Zu den DDR-Publikationen zählen außer den genannten auch „Die Kunst geliebt zu werden“ (1968), „Kleines Buch“ (1972), „Variationen in Briefen“ (1975) und „Die sehr alten Beiden“ (1976). Dass Brandys 1966 sein Parteibuch zurückgab, weil sein Freund Leszek Kolakowski ausgeschlossen worden war, erfuhr der DDR-Leser selbstredend nicht, Kolakowski galt längst als Un-Person.

In „Hotel Rom“ offenbart sich schrittweise die dubiose Geschichte eines Mannes, der von Angst getrieben sich selbst das Leben verdirbt, von dem er annimmt, es werde ihm verdorben, wenn sein Geheimnis offenbar wird. Das Geheimnis ist nicht etwa eine dunkle Vergangenheit, gar ein vertuschtes Verbrechen. Das Geheimnis ist eine Widmung. Denn der Mann wollte eine Schrift publizieren über Denkmale im Gebiet Lublin. Um einen Herausgeber und damit Geldquellen zu erschließen, das Verfahren hat erstaunliche Lebensfähigkeit bewiesen, widmete er die Broschüre einem Mann namens Rydz-Śmigły. Der hat tatsächlich gelebt und in der polnischen Geschichte nach 1918 eine sehr gewichtige Rolle gespielt. Edward Rydz-Śmigły (11. März 1886 – 2. Dezember 1941) war Marschall, auch Maler und Dichter, ist heute wieder sehr angesehen in Polen, in der Zeit nach 1945 war aber das genaue Gegenteil der Fall, er verkörperte, sehr vereinfacht gesagt, das alte Regime. Er kompromittierte damit jeden, der mit ihm in Zusammenhang gebracht werden konnte. Der Mann, dessen Namen Twardowski der Leser erst spät erfährt, ist nun unterwegs mit seiner Frau Inia in der Region, um die kompromittierende Denkmal-Broschüre verschwinden zu lassen.

Man erfährt im späten Rückblick, denn der erzählende Schriftsteller trifft später auf einen Mann, der all das genau weiß und auch den Mann und dessen Angst gut kannte, wie vorgegangen wurde: Die Broschüre wurde ausgeliehen in der jeweiligen öffentlichen Bibliothek und dann einfach nicht zurückgegeben. Dort aber, wohin die Lesung den unfreiwillig lauschenden Romanautor führte, gibt es eine Komplikation. Die Seite, die Twardowski aus dem Buch reißt, ist auch die Seite mit der Buchsignatur der Bibliothek, ihr Fehlen würde sofort auffallen. Deshalb versucht der Mann samt Buch zu flüchten, eine junge Bibliothekarin aber verständigt die Polizei. Und sucht dann wiederum Inia im Hotel auf, ihr Verhalten zu erklären: „Ich gehöre dem Polnischen Jugendverband an und ich habe zum 22. Juli die Verpflichtung abgegeben, das kein einziges Buch abhanden kommt.“ Der 22. Juli war im kommunistischen Polen der vom 11. November hierher verlegte Unabhängigkeitstag, gebunden an das „Manifest des Lubliner Komitees“ vom 22. Juli 1944. Seit 1989 ist es wieder der 11. November, der an ein Datum von 1918 erinnert: an den Tag, an dem die Zweite Polnische Republik begann. Lächerliche Selbstverpflichtungen zu äußerlichen Anlässen kannte auch die DDR.

Die diensteifrige Jung-Bibliothekarin wendet auf ihre Weise eine krisenhafte Biografie noch stärker in Richtung Katastrophe. Twardowski, Mann mit reellen Karriere-Aussichten, ist nun nicht nur auf albernste Weise politisch kompromittiert, sondern seine Angst genau davor hat ihn letztlich zu einem Kleinstkriminellen gemacht, dem noch weniger alle Türen offen stehen. Hat der Erzähler als Lauscher seine eigene Schande gehört? In gewisser Weise schon. Er, der vom Kulturhausleiter übereifrig als Genosse Redakteur angesprochen wird, verkörpert das System mit, das zu solchen Irrwitzigkeiten führt. Der Direktor, bei dem der Autor später zu Gast ist, fragt ihn: „Sind es denn wenige bei uns, die den Sozialismus für einen Drachen halten, dem täglich ein neues Opfer gebührt?“ Und er bringt auch umgehend sein eigenes Credo zu Gehör: „Der Direktor vertrat die Auffassung, dass Angst in jeglicher Form den Menschen verderbe und dass die Entwicklung in der Liquidierung der Angstquellen bestehe.“ Damit hat er ein veritables Fortschrittskriterium in Worte gefasst und Brandys lässt das ganz unexponiert im Text stehen. Er lässt auch den Direktor das Fazit ziehen: „... der Mann ging innerlich kaputt.... Da haben Sie die ganze Geschichte.“

Wir erfahren aus „Hotel Rom“ nicht nur von einer Angst. Wir erfahren auch, dass „die Polen“ gern in solchen kleinen Städten leben, dass es dort, also in der ersten fünfziger Jahren, bisweilen sogar Dinge gab, die man in Warschau nicht so einfach haben konnte, Exemplare einer Massenauflage des Romans „Pharao“ etwa von Boleslaw Prus. Der Kutscher prahlt mit berühmten Besuchern der Stadt und verwechselt schon mal die Lebenszeiten von Jan Kochanowski und Adam Mickiewicz. „Im Vergleich zu den Kleinstädten der Westgebiete wirkte hier alles ein wenig ungeordnet, verstreut, dörflich.“ Während der Lesung erlebt der Schriftsteller streng blickende Frauen, einen vorlauten Schüler und ein altes Paar, von dem der Direktor weiß: „Beide seien im Ausschuss der Nationalen Front und sozusagen positive Menschen.“ Der Schriftsteller hat auch eine Weisheit: „Die Nachwelt würde wenig über uns wissen, wenn sie nur nach den Fotos beurteilen müsste, wie wir zu unseren Lebzeiten gewesen sind.“ Da atmen sicher manche inspiriert auf, die Fotos instinktiv durch das Wort Akten ersetzen. „Ohne Fanatismus, aber mit viel Feingefühl und Phantasie“ habe sich Brandys mit komplizierten Fragen polnischer Geschichte auseinandergesetzt, schrieb 2000 der SPIEGEL.

Anlass war da schon der Tod des Autors am 11. März 2000 in Nanterre bei Paris. Der Roman „Variationen in Briefen“, so das Nachrichten-Magazin, werde „von vielen als sein bester angesehen“. Ulrich M. Schmid schrieb in seinem Nachruf für die „Neue Zürcher Zeitung“ vom 13. März 2000 von einem „Feuerwerk verschiedener Stilbuketts“: „Die regimetreue Kritik zerriss Brandys' Buch, beschuldigte den Autor der Verunglimpfung Polens, und unterließ es auch nicht, einen hässlichen antisemitischen Unterton in die Diffamierung einfließen zu lassen.“ In „Hotel Rom“ erleben wir eine Zeit, die einen Mann dazu brachte, zu sagen: „Von ihrem Standpunkt aus bin ich ein Stück Dreck, und wenn sie mir ihren Standpunkt aufgezwungen haben, dann gestehe ich es selbst ein“. Die Methode dieses Aufzwingens trug noch über die fünfziger Jahre hinaus den wohltönenden Titel „Kritik und Selbstkritik“. Es war die freundlichste Form des Aufzwingens. In ihrer subtilen Weise der Verletzung der Würde des Menschen (und jeder Rechtsstaatlichkeit nebenbei auch) wie geschaffen für literarische Gestaltung, die selbst Subtilität bevorzugt.


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