Ausrufezeichen Berthold Auerbach

Natürlich ist es heute ganz anders. Natürlich sitzt man heute nicht mit dem großen Löffel in der Hand rund um einen Tisch, in dessen Mitte ein Topf mit Suppe steht. Man geht auch nicht mehr mit der Laterne in der Hand zu einer jung verheirateten Freundin, um dort die Spindel zu drehen und gemeinsam Lieder zu singen. Ist deshalb, wer davon berichtet, umgehend zu vergessen? Von vorgestern, wem es Spaß macht, von dergleichen zu lesen? Das sind angesichts des Namens Berthold Auerbach, der 1882 fern von seiner Heimat, in Cannes, starb, ja gar keine rhetorischen Fragen. Wie kann, wäre eine Übung zu Forschung und Spekulation, ein Mann mit Weltruhm innerhalb von weniger als einem halben Jahrhundert fast vollkommen aus dem Gedächtnis seiner Landsleute verschwinden? Wie ist es möglich, zweite Frage, dass selbst vermeintliche Fachleute einfachste Fakten zu Auerbach ganz unterschiedlich verzeichnen? Mal ist der Mann Sohn eines Gastwirts, mal von Kaufleuten, mal eines Rabbiners, der sich andernorts dann wiederum in den Großvater verwandelt? Sind solche Faktenschlampereien der Normalzustand veröffentlichter Literaturgeschichte, oder liest in den Verlagen und Redaktionen einfach niemand mehr, der selbst Sachverstand hat, was die vermeintlich Sachverständigen zu Papier gebracht haben?

Nicht weniger als acht Ausrufezeichen hat unter dem Datum des 9. April 1861 ein gewisser Leo Tolstoi hinter den Namen Auerbach gesetzt. Er hat ihn einen reizenden Menschen genannt, die Art gelobt, wie er Gedichte vortragen kann, hat ihn, den 49-jährigen, als jungen Mann bezeichnet und für sich festgehalten: „Kein Dichter der Negation.“ Unter den vielen Anekdoten, die natürlich auch über Tolstoi überliefert sind, ist auch die über seine Bibliothek. Eugene Schuyler (1840 bis 1890), amerikanischer Diplomat und Übersetzer von Tolstoi-Werken ins Amerikanische, half Tolstoi beim Ordnen seiner Buchbestände. Auerbachs gesammelte Werke erhielten im ersten Regal den ersten Platz, was freilich auch einer alphabetischen Sortierung geschuldet sein mochte, und der Graf griff nach dem zweibändigen Roman „Ein neues Leben“. Er forderte seinen Helfer auf, das im Bett zu lesen und sagte: „Dieser Schriftsteller hat mich seinerzeit bewogen, für meine Bauern eine Schule einzurichten und mich für die Volksbildung zu interessieren.“ Tolstoi erzählte weiter, wie er Auerbach in Deutschland besuchte während einer Reise, wie er sich nicht sofort mit seinem richtigen Namen vorstellte, sondern als Eugen Baumann. In Tolstois Tagebüchern finden sich mehrfach Spuren des Zusammentreffens. Und eben die Ausrufezeichen.

Iwan Turgenjew, dem man ebenfalls Ahnungslosigkeit in Sachen Literatur und Mensch nicht unterstellen sollte, korrespondierte mit Auerbach und sah ihn auch angelegentlich. In einem Brief aus Baden-Baden vom 10. April 1868 an Auerbach in Berlin heißt es: „Es würde mir zu einer besonderen Freude und Ehre gereichen, einen Artikel über Sie zu schreiben – nicht als Empfehlung: denn die brauchen Sie bei uns in Russland längst nicht – aber als Vorwort – und um den Nachdruckern vorzubeugen – denn meinen Artikel hätten sie nicht das Recht wiederzugeben.“ Der am 28. Februar 1812 geborene Berthold Auerbach, er nahm diesen Namen erst 1830 an, war vorher Moses Baruch Auerbach, war nicht nur weltweit berühmt und bekannt, er beeinflusste auch andere Autoren, ohne dass er davon immer erfuhr. Fontane beispielsweise las mit mäßiger Begeisterung einen neuen Roman des Norwegers Alexander Kielland, um dabei festzustellen, der habe eben seinen Auerbach sich zu Herzen genommen.

Der deutsche Jude Auerbach hat mit jüdischen Romanen keinen Erfolg gehabt, überhaupt sind seine Romane, von denen er einige und gleich mehrbändig, geschrieben hat, nicht die Träger seiner internationalen Erfolgsgeschichte. Das sind die Dorfgeschichten aus dem Schwarzwald. Die begründen seinen Ruhm bis heute, auch wenn sie heute kaum noch als Belege auszuschlachten sind für irgend etwas, mit dem man die Einladung in eine Talk-Show herausfordern könnte. In welches Schema soll ein württembergischer Jude passen, der den Krieg gegen Frankreich 1870/71 und die deutsche Einheit begrüßte, der seine späten Erfahrungen mit wachsendem Antisemitismus wohl zutiefst betroffen machte, doch daraus nicht Folgerungen a la „J'accuse!“ wie ein Zola zog? Es geht in seinen Dorfgeschichten dörflich zu, überschaubar, es drängt in Richtung versöhnlicher Schlüsse und wenn es die Emigration seiner Helden ins damals gelobte Land Amerika war.

Beispielsweise gibt es da den Aloys, den alle Tolpatsch nennen, nur das Marannele nicht. Und dass der Aloys in das Marannele verliebt ist, merkt er selbst gar nicht so schnell und Berthold Auerbach sagt es auch nicht von ihm. Aber er beschreibt, wie der Aloys mit seinem Löffel an die Stelle geht, an der auch das Marannele seinen Löffel in die Suppe taucht. Er beschreibt, wie Aloys, wenn er von ihr gesehen wird, die Straße fegt und die Kuh striegelt. Wie er nach dem Losverfahren, mit dem man damals für den Rekrutenstand ausgewählt wurde, sich während der Musterung, die zu der Zeit und dort, wo Aloys lebte, Visitation hieß, regelrecht drängte, genommen zu werden, obwohl die Mutter doch den Musterungsarzt mit Butter und anderen Leckereien ausdrücklich bestochen hatte. Einer ist im Dorf, der ihn erst eifersüchtig macht und ihm später das Marannele ausspannt, sie sogar verführt und schwängert. Den verhaut der Aloys und geht dann eben nach Amerika. Noch von dort aber will er, falls das Marannele je in Not gerät, ihr Geld schicken, nur erfahren soll sie nie, dass es von ihm sei. Hol mich der Fuchs, wenn solche Geschichten nicht einfach nur schön sind. Es ist die spezielle Schönheit uralter Gesichter. In solchen Geschichten wimmelt es auch von Wörtern und Wendungen, die die Wochenzeitung ZEIT auf ihrer allerletzten Seite sammelt wie ein Setzkasten. „Habe den köstlichen Tolpatsch gelesen“, hielt Tolstoi schon 1856 fest. Ja, der ist köstlich.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround