Theodor Fontane und Iwan Turgenjew

Zu reden ist von einem Verhältnis zweier ganz Großer der Literatur des 19. Jahrhunderts, das gar keins war. Jedenfalls ist seitens des Russen keine Silbe davon überliefert, ob er überhaupt je von der Existenz des in Neuruppin geborenen Wahl-Berliners, Märkers und Preußen Notiz nahm. Man darf das mit allem Vorbehalt annehmen, denn beide hatten gemeinsame Bekannte, die hätten vermitteln können. Doch seltsam, die einschlägigen Briefwechsel geben dazu nichts her. Nüchtern bewertet, ist die Materialbasis für eine Betrachtung, noch dazu aus Anlass des 200. Geburtstages des einen, der andere folgt erst zum Ende kommenden Jahres nach, mehr als dürftig. Fontane hat zu Lebzeiten einen einzigen kleinen Text über Turgenjew veröffentlicht, eine Theaterkritik zu jener Komödie, die heute und auch früher schon allgemein bekannt ist unter dem Titel „Ein Monat auf dem Lande“, damals im Königlichen Schauspielhaus als „Natalie“ gespielt. Sucht man ein wenig nach „Natalie“, stößt man bald auf einen Meininger Theaterzettel von der Premiere am 25. November 1897. Der dazu gehörige Archiv-Hinweis, es habe seither in Meiningen nie wieder einen Turgenjew auf der Bühne gegeben, ist seit zehn Jahren überholt, aber bis heute nicht korrigiert, was kein Drama ist.
 
Es gab am 11. Dezember 2008 in den Kammerspielen die Premiere und damals schon musste sich Hans-Joachim Rodewald als alter Hase bezeichnen lassen. Die Theaterzeitung „Spektakel“ druckte damals noch ganze Kritiken aus Coburg nach, längst gibt es nur noch Häppchen. Das DNT Weimar kündigt für Mai 2019 ein Stück gleichen Titels „nach Turgenjew“ an, vielleicht schaue ich es mir an. Fontane jedenfalls sah es zum Auftakt der Saison 1897/98 als erste Novität in der Bearbeitung von Eugen Zabel (die auch Meiningen nutzte) und in der Regie von Otto Devrient (3. Oktober 1838 – 23. Juni 1894). Devrient hatte seinen sicher spektakulärsten Bühnenerfolg 1876 in Weimar, als er dort den gesamten „Faust“ inszenierte. Außer dieser einen Kritik schrieb Theodor Fontane noch eine weitere, die aber erst 1908 aus seinem Nachlass gedruckt wurde, sie widmete sich Turgenjews letztem Roman „Neuland“. Alle weiteren Fundstellen für Aussagen Fontanes zu Turgenjew sind nicht nur nicht veröffentlicht worden zu seinen Lebzeiten, sie waren auch nicht zur Veröffentlichung gedacht. Die gewichtigsten konzentrieren sich auf einen sehr begrenzten Zeitraum des Jahres 1881. Fontane besuchte da zum bereits siebenten Male den Harz, zum vierten Male nach 1866, 1868 und 1877 nahm er Quartier in Thale, Aufenthalte 1882, 1883 und 1884 folgten, 1884 blieb der letzte.
 
Weil Theodor Fontane immer, wenn er allein reiste, seiner Frau Emilie besonders eifrig von seinem Tun und Lassen berichtete, von seinen Befindlichkeiten eigentlich immer, wissen wir, dass er, kaum in Thale angekommen, mit Problemen in der Wade und bei schlechtem Wetter, Turgenjew zu lesen begann, genauer Turgenjew und Lessing. Was er von Lessing las, verschwieg er einfach, was er von Turgenjew las, durfte Emilie Fontane wissen, es waren der Roman „Rauch“, die Erzählung „Mumu“ und nicht näher bezeichnete Geschichten aus der frühen Sammlung „Aufzeichnungen eines Jägers“, die zuerst nicht mit allen 25 Texten der vollständigen Ausgabe, sondern nur mit 11 davon auf Deutsch erschienen war. Was daraus Fontane las, welche Ausgabe er bei der Hand hatte, ob er sie mitbrachte aus Berlin oder in Thale von irgendwo bezog, vielleicht sogar im Hotel vorfand, wissen wir nicht. Einen zwingenden Grund zur Vermutung, er habe Turgenjew im Gepäck gehabt, gibt es ebenso wenig wie zur gegenteiligen Annahme. Fakt ist lediglich, dass es drei verschiedene Bücher gewesen sein müssen, denn „Mumu“ gehört nicht zu den „Jäger-Geschichten“, wie Fontane sie nannte und zum Roman natürlich auch nicht. Emilie Fontane aber schien vorinformiert zu sein.
 
Anders ist nicht zu erklären, dass in den fünf Briefen Fontanes an seine Frau, in denen der Name Turgenjew fällt, sich nie auch nur die geringste Erklärung zum Autor oder zu den erwähnten Titeln findet. Nur vier dieser Briefe wurden in Thale geschrieben, ein erster, der allerdings nurmehr den Namen erwähnt, stammt aus dem Jahr 1879. Zwischen dem 24. Juni und dem 9. Juli 1881 liegt also die einzige indirekt dokumentierte Phase einer Beschäftigung Fontanes mit Iwan Turgenjew. Wer das oder gar den gesamten Umgang des einen mit dem anderen mit dem Wort intensiv belegt, greift sicher arg fehl, dennoch ist es geschehen. In seine zahlreichen Sommerfrischen fuhr Fontane nie in der primären Absicht, dort in aller Ruhe intensiv zu lesen, immer hatte er Arbeit bei sich an diversen eigenen Texten, auch sein Vorankommen dabei oder eingreifende Hinderungsgründe sind oft Gegenstand des privaten Briefwechsels. In den Tagebüchern für 1881 nennt er Korrekturarbeiten am dem langen Aufsatz „Eine Osterfahrt ins Land Beeskow-Storkow“, der in der Wochenschrift „Gegenwart“ vorabgedruckt und dann in den Band „Spreeland“ der „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ aufgenommen wurde. Was er mit keinem Wort erwähnt, ist seine Turgenjew-Lektüre.
 
Dafür nennt er gleich vier Textbücher Richard Wagners, die er las: „Rheingold“, „Walküre“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“. Und was Fontane einen langen Aufsatz nennt, erhellt aus dem Umstand, dass „Eine Osterfahrt in Land Beeskow-Storkow“ 35 Druckseiten umfasst (in meiner Aufbau-Ausgabe als Taschenbuch aus dem Jahr 1994). Wie man es auch dreht, mehr soll das alles nicht heißen: Theodor Fontanes „intensive“ Auseinandersetzung mit Turgenjew dauerte nur wenige Tage und verebbte nach den Briefen ins Spurlose, alle späteren Dokumente lassen keinen Bezug zum Sommer 1881 im Harz erkennen. Dennoch gibt es einen Brief aus dem Jahr 1885, genau vom 23. Dezember, der wieder und wieder zitiert wird, weil er eine Aussage enthält, die scheinbar alles zusammenfasst und krönt, was Fontane je zu Turgenjew dachte und schrieb. Empfänger des Briefes ist Ludwig Pietsch (25. Dezember 1824 – 27. November 1911), von seinen Büchern ist 2000 im Aufbau-Verlag „Wie ich Schriftsteller geworden bin“ neu aufgelegt worden. Lange Passagen in diesem „Roman meines Lebens“ widmen sich Iwan Turgenjew, Pietsch und er waren befreundet. Am 23. Dezember 1885 erschien in der „Vossischen Zeitung“ eine Besprechung des Fontane-Buchs „Unterm Birnbaum“, Fontanes Brief an den Kritiker ist vor allem eine postwendende Danksagung.
 
Was steht nun dort genau? „Alles Lob schmeckt und geht einem glatt runter, aber neben diesem süßen Alltagslob gibt es doch noch ein Festtagslob, das einen erquickt, stärkt, erhebt. Kein Zucker, sondern Wein. Sie haben Menzel und Turgenjew genannt, und zu beiden blick ich als zu meinen Meistern und Vorbildern auf.“ Der Mühe, vor dem Erörtern dieser Sätze sich einmal genauer anzuschauen, was Pietsch denn eigentlich geschrieben hatte in dem Blatt, für das Fontane selbst ja als Theaterkritiker arbeitete und auch sonst Beiträge lieferte, hat sich lediglich Ernst Theodor Hock unterzogen, als er seine Arbeit „Fontanes Verhältnis zur Erzählkunst Turgenjews“ vorbereitete, die meines Wissens umfangreichste Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Pietsch fand in dem Beinahe-Kriminalroman Fontanes „mit verhältnismäßig wenigen Meisterstrichen entworfene Menschenwesen von einer Lebensfülle, einer persönlichen Bestimmtheit und Überzeugungskraft, wie sie auch Menzel, Turgenjew und Fritz Reuter den von ihnen gezeichneten nicht in höherem Maße verliehen haben.“ Und wie antwortet Fontane? Er geht auf die Namen Menzel und Turgenjew ein, ignoriert aber den im gleichen Atemzug genannten Namen Fritz Reuters. Und Hock folgt ihm.
 
Hock kommentiert zuerst so: „Dieses Zitat wirkt schwer, weil Fontane als erster deutscher Dichter direkt ausspricht, dass ein russischer Autor nachhaltig auf sein Schaffen gewirkt habe.“ Und dann so: „Fontanes Bekenntnis zu Turgenev erhält noch besonderes Gewicht dadurch, dass er m. W. im Zusammenhang mit seinem erzählenden Werk niemals in so uneingeschränkter Weise von einem „Vorbild“ gesprochen hat.“ Wenn jemand etwas tut, was er vorher nie und nachher nie wieder getan hat, ist das verdächtig. Jedenfalls hätte Peter Falk als Inspektor Columbo wie in allen 69 Episoden der Kult-Serie (hier darf man das missbrauchte Wort ausnahmsweise einmal mit gutem Gewissen anwenden, die Assoziation von „Krimi“ zu Krimi ist dabei nicht sehr weit hergeholt) sofort zu grübeln angefangen. Denn sowohl die Bemerkungen Fontanes in seinen Briefen an Emilie als auch die Kritik an „Neuland“ und einige der anderen überlieferten knappen Anmerkungen setzen deutlich stärker kritische Akzente, ein Interpret schrieb 1956 gar, Fontane habe Turgenjew „verunglimpft“. Das wäre heute ein solider Straftatbestand, allerdings nicht auf private Briefäußerungen zu beziehen, die insbesondere ja der Verunglimpfte gar nicht zu Gesicht bekommt. Joachim Biener aber, von seinem Buch „Fontane als Literaturkritiker“ ist die Rede, griff nicht nur damit daneben.
 
Tragen wir einige der abwertenden Urteile Fontanes zu Turgenjew zusammen und folgen dabei der Chronologie, die auch der Karlsruher Erich Theodor Hock seiner Erörterung zugrunde legte (nachzulesen in dem Buch des DDR-Akademie-Verlags-Sammelbandes „I. S. Turgenjew und Deutschland“, Berlin 1965, der als Band I gedruckt wurde, dem nie ein Band II folgte). Zunächst demgemäß die unveröffentlichte Kritik am Roman „Neuland“: „Erstens will man erkennen, was der Verfasser denn eigentlich für Ideale hat, wofür er schwärmt, was ihm Herzenssache ist. Er schwärmt aber für nichts.“ Weiter: „So wird nirgends ein rechtes Behagen geweckt. Man bewundert die Treue der Bilder, aber sie lassen kalt, wie der Dichter halt war, der sie schuf.“ Und abschließend: „Es fehlt alles Versöhnliche, kaum eine Zukunftsperspektive.“ „…von da ab aber, wo Farbe bekannt, wo Gesinnung, Lebensanschauung und eigentlichstes Dichtertum gezeigt werden sollen, lässt es einen im Stich.“ Wüsste man nicht genau, dass Fontane 1898 gestorben ist, könnte man glauben, eine Kritik aus „Neues Deutschland“ zu lesen, in der ein spätbürgerlicher Autor des „Westens“ oder ein vermutlich dem Spätbürgerlichen anhängender Autor der DDR aufs Haupt geschlagen werden sollte wegen klassenfeindlicher Abwesenheit von aufbauendem und zukunftsweisendem Optimismus.
 
Insbesondere der Selbstmord des Helden Neshdanow regte Fontane zu gemessen an der Gesamtlänge seiner Kritik geradezu ausufernden Erörterungen darüber an, was Neshdanow seiner Meinung nach hätte tun sollen und warum. Dergleichen hätte sich Fontane später, als er selbst Romane publizierte, mit großer Sicherheit energisch verbeten. Folgen die Briefe an Emilie Fontane: „Ich bewundre die scharfe Beobachtung und das hohe Maaß phrasenloser, alle Kinkerlitzchen verschmähender Kunst, aber eigentlich langweilt es mich, weil es im Gegensatz zu den theils wirklich poetischen, theils wenigstens poetisch sein wollenden Jäger-Geschichten so grenzenlos prosaisch, so ganz unverklärt die Dinge wiedergibt. Ohne diese Verklärung gibt es aber keine eigentliche Kunst, auch dann nicht, wenn der Bildner in seinem bildnerischen Geschick ein wirklicher Künstler ist. Wer so beanlagt ist, muss Essays über Russland schreiben, aber nicht Novellen. Abhandlungen haben ihr Gesetz und die Dichtung auch.“ (24. Juni 1881) Zwei Tage später: „Dennoch ist es ein Irrweg und ein Verkennen des eigensten, innersten Wesens der Kunst. Es wirkt alles nur aufregend, verdrießlich, abspannend.“ Am 27. Juni: „Mein Urtheil über Turgenjew kann ich dahin zusammenfassen: eine künstlerische Meisterhand, aber keine poetische Seele.“
 
Am 9. Juli, dem Abreisetag in Thale, Fontane blieb anschließend noch volle sieben Wochen in Wernigerode, wohin auch Emilie nun kam, formulierte er beinahe vernichtend anlässlich der Novelle „Mumu“: „Aber der Poet und Mensch in mir wendet sich mit Achselzucken davon ab. Es ist die Muse in Sack und Asche, Apollo mit Zahnweh. Das Leben hat einen Grinsezug. Er ist der richtige Schriftsteller des Pessimismus und man kann an diesem ausgezeichneten Talente wahrnehmen, welch hässliches Ding diese pessimistische Weltanschauung ist. Er hat Esprit und Geist, aber durchaus keinen erquicklichen Humor, überhaupt keinen Tropfen Erquicklichkeit. Das Tragische ist schön und selbst das blos Traurige will ich mir unter Umständen gefallen lassen; er gibt uns aber das Trostlose.“ Es läuft, wie leicht zu erkennen ist, immer wieder auf dasselbe hinaus, Fontane mag nichts Hässliches in der Kunst, Fontane fühlt sich von Pessimismus abgestoßen, er möchte erhoben, erquickt, ja, unterhalten werden. Dass dies mit dem heftig kollidiert, was er als der „alte Fontane“ bald selbst in zahllosen Vorabdrucken und Buchausgaben seinen Lesern übergab und eben auch zumutete, ist nichts, was erst mühsam erforscht werden musste. Es lag auf der Hand.
 
Folgerichtig haben die wenigen Interpreten, die sich intensiver mit dem Verhältnis der beiden Schriftsteller befassten, Fontane sehr kritisch kommentiert. Beispiele zunächst bei Joachim Biener: „Aber Fontane geht zu weit, wenn er die Schreibweise des russischen Realisten als „grenzenlos prosaisch“ verunglimpft.“ Und: „Damit ist auch Theodor Fontane von der spätbürgerlichen Unterscheidung zwischen Dichtung und Literatur angekränkelt“. Schließlich: „Fontane ist zweifellos im Unrecht, wenn er ihm die poetische Seele abstreitet. Vom Gegenteil zeugen das lyrische Element in den Novellen und Romanen des russischen Schriftstellers, seine Gedichte und schließlich auch die Bekanntschaft mit Theodor Storm.“ Letztere Behauptung ist abenteuerlich, weil  Bekanntschaft natürlich erst einmal gar nichts bezeugt. Nun Ernst Th. Hock: „Seine Abneigung gegen alles, was er als nicht befriedigend, versöhnlich, erquicklich, also als pessimistisch empfand, war so groß, dass sein kritischer Instinkt manchmal dadurch irrgeleitet wurde. In seiner subjektiven Voreingenommenheit setzte er sich selbst über offensichtliche objektive Befunde hinweg.“ Und: „So kann der Fall eintreten, dass Fontane in ein begriffliches Durcheinander gerät, wenn er auf Turgenevs Kunst, sein künstlerisches Vermögen, sein Künstlertum zu sprechen kommt.“ Das alles hält Hock jedoch nicht ab, Turgenjew positiv verstehen zu wollen, ein stimmiges Bild zu zeichnen.
 
Das verleitet ihn bisweilen zu Spekulationen, die durch Textbelege nicht abgedeckt sind, das betrifft insbesondere die früheren Jahre, wo etwa die Bekanntschaft mit dem Turgenjew-Übersetzer August von Viedert, der zeitweise sogar Untermieter bei Fontanes war, belegen soll, dass Fontane schon 1854/1855 Kenntnisse Turgenjews sammelte. Das betrifft die Behauptung, Fontanes Replik auf die „Birnbaum“-Kritik von Ludwig Pietsch sei wegen dessen aufrechtem Charakter auf keinen Fall mit einem „liebedienerischen Dankbarkeitserguss Pietsch gegenüber“ zu verwechseln, als ob überhaupt ein vernünftiger Mensch angesichts dessen, was Fontane schrieb, auf die Idee kommen könnte, dies zu vermuten. Hock selbst hat diesen Gedanken wohl kurzzeitig gehabt, sonst wäre er darauf nicht verfallen. Auf alle Fälle waren 1885 die hausinternen Regeln einer großen Zeitung wie der „Vossischen“ noch sehr von heutigen verschieden: seriöse Zeitungen heute halten es für undenkbar, Büchern eigener Autoren ausführliche Kritiken zu widmen, sie werden bestenfalls mit wenigen Zeilen annotiert. Ob eine Aussage Fontanes in einer Theaterkritik des Jahres 1888 seine früheren Behauptungen zum Roman „Neuland“ nur ergänzt oder gar korrigiert, ist ebenfalls fraglich. Hock legt es nahe, weil er glaubt, jene Kritik eröffnete „ein akutes Stadium“ der Selbstkritik bei Fontane.
 
Anlässlich von Ibsens „Wildente“ schrieb Fontane: „In Turgenjews letztem Romane „Neuland“ verklingt auch alles trübe genug, und alle die, die wirr und unklar strebten, gehen zugrunde, aber auf den einen, der, allen Utopien feind, ohne Phrasen einfach Nützliches und zugleich nächstliegend Menschliches ins Auge fasst, auf ihn fällt das Licht eines kommenden Tages.“ Das ist als Aussage über die Romanfigur Solomin gedeutet worden, dem mag ich auch nicht wiedersprechen, dennoch glaube ich nicht, dass Fontane mit mehr als zehn Jahren Verspätung nun plötzlich doch Elemente von Optimismus bei Turgenjew entdeckte und das unbedingt kundtun musste. Dagegen spricht: Niemand kannte ja seine alte Wertung. Seine erste und einzige öffentliche Äußerung zu Turgenjew kam erst ein Jahr später. Und dort, diese Auffälligkeit kann kaum verschwiegen werden, befasst sich der Theaterkritiker sehr viel weniger mit dem Stück selbst als mit seinen eigenen Prinzipien und Grundsätzen. Das liest sich dann so: „Ich bin im Prinzip gegen Dramen und Romane, die das vielgestaltete Ding, das man Leben heißt, nur unter dem Liebesgesichtspunkt sehn. Auch das Leben, das Verliebte führen, verläuft nicht ausschließlich in Liebesszenen, und die Missachtung dieser meinetwegen prosaischen Tatsache schafft ein Lebensbild, das der vollen Realität entbehrt.“
 
Zum Stück selbst gibt es allenfalls dies und das setzt eigentlich Textkenntnis voraus oder Leser, die die Inszenierung im Parkett erlebten: „Von einem großen stofflichen Interesse, wohl gar von stofflicher Neuheit, kann bei diesem Stück nicht die Rede sein, sein Wert und sein Reiz liegen in dem, was den Novellisten Turgenjew groß und gefeiert gemacht hat, in der Aufschließung des Menschenherzens, besonders weiblicher Herzen und ganz besonders der Herzen junger Frauen, die das Glück haben, einen ausgezeichneten älteren Mann und zugleich das Unglück, einen jüngeren Hausfreund und schließlich einen noch jüngeren Hauslehrer zu besitzen. So gut das Stück ist und so sehr es auch gefesselt hielt, möchte ich doch sagen dürfen: es ist nicht sehr originell; die moderne französische Bühne hat viel Ähnliches gezeitigt.“ Ernst Theodor Hock liest das mit tiefstem Wohlwollen: „Gerade diese liebenswürdige Besprechung vergegenwärtig den Abstand, den Fontane jetzt gewonnen hat: er lobt ohne Überschwang, kritisiert ohne Eifer, lächelt, dem Stück ruhig die ihm zukommende Zensur erteilend“. Ist Theodor Fontane altersmilde geworden gegenüber seinem angeblichen Vorbild? Dem er ohnehin ähnlicher war, als er selbst wahrhaben wollte? Mag sein.
 
In den spärlichen Briefäußerungen, aus denen hier zunächst die abwertenden Urteile zitiert wurden, stehen natürlich auch lobende Sätze. Das lange Schweigen Fontanes zu Turgenjew endet just in einer Zeit, da Fontane selbst auf sein eigenes Romanschaffen zusteuerte, das er mit zwei ausgemachten Großprojekten, dem mehrbändigen Roman „Vor dem Sturm“ und dem bald gescheiterten Vorhaben ähnlichen Umfangs „Allerlei Glück“ eröffnete. Fontane war zu diesem Zeitpunkt alles andere als ein unerfahrener Autor, er hatte eine ganze Reihe von Büchern publiziert, mit Gedichten, mit Reisefeuilletons, Betrachtungen, er hatte eine phänomenal umfang- und auch kenntnisreiche Reihe von Kriegsbüchern veröffentlicht, deren Schauplätze er wie nur je ein echter Reporter selbst in Augenschein genommen hatte, er war mit den ersten „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ hervorgetreten und wollte nun, marktwirtschaftlich gesprochen, bisherige Geschäftsfelder durch ein neues ergänzen. Wenn für seine Lektüre der Jahre im Vorfeld und am Anfang etwas geltend gemacht werden muss, dann sein im weiteren Sinne technisches Interesse. Fontane wollte wissen, wie die anderen es machen und gemacht haben, die erfolgreich waren.
 
Turgenjew war dafür sozusagen erste Wahl. Erhard Hexelschneider schrieb anlässlich des Jubiläums „100 Jahre Reclams Universalbibliothek“ im Jahr 1967 bündig: „Repräsentant der russischen Literatur im Deutschland der sechziger und siebziger Jahre war Iwan Turgenjew. Er fand die nachhaltigste Anerkennung, die ein russischer Schriftsteller bis dahin gefunden hatte. 1883 hieß es in der „Deutschen Lesehalle“ von ihm: „Seit zwanzig Jahren haben wir Deutschen uns mehr und mehr gewöhnt, Turgenjew fast als einen der Unseren zu betrachten … In keinem anderen Lande dürften seine Schöpfungen so oft übersetzt werden, so begierig gelesen, so enthusiastisch bewundert sein als in dem unseren.“ Vermutlich war Fontane, als er Turgenjew las, höchst fasziniert. Vermutlich war Fontane, der ja kein schreibender Jungspund mehr war, als er Turgenjew las, von seiner eigenen Faszination beunruhigt. Könnte man den Alten auf eine Psychologen-Couch legen, ließe sich vermutlich rasch analysieren, dass er mit seinen Attacken auf den angeblichen Nicht-Poeten, den Pessimisten, den Langweiler Kompensationsakte realisierte. Stimmte das, dann wäre das folgende das Eigentliche: „Der Künstler in mir bewundert alle diese Sachen, ich lerne draus, befestige mich in meinen Grundsätzen und studire russisches Leben“. Theodor Fontane wollte offenbar dem Künstler in sich nicht allein das Wort überlassen, das Warum wäre „ein weites Feld.


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