Marlen Haushofer, zweiter Versuch

Keinesfalls haben zweite Versuche den Auftrag, zurück auf Anfang zu gehen. Fernsehgerechtes Schießen auf eine Torwand ist keine Vergleichsgröße, der erste Ball nach links unten verfehlt sein Ziel, der zweite tut es auch, selbst wenn er etwas besser geschossen ist, aber dann: die volle Konzentration, der begleitende rhythmische Beifall und – wieder nichts. Marlen Haushofer ist eine besondere Einstiegsdroge: sie leitet nicht zu härterem Stoff weiter, sie macht nur süchtig auf mehr Haushofer. In ihrer frühen langen Erzählung „Das fünfte Jahr“ findet sich diese Stelle: „Immer war es so: Plötzlich war das Wissen da, und man konnte sich nicht vorstellen, es noch vor einer Minute nicht gewusst zu haben.“ Dieser Satz beschreibt eine Grunderfahrung des kleinen Mädchens Marili, das bei seinen Großeltern lebt. Es ist ein Kind, das lernt. Das unterscheidet es sicher kaum von anderen Kindern dieses Alters, das fünfte Jahr des Titels ist tatsächlich das fünfte Lebensjahr des Kindes, die Geschichte beginnt im tiefen Winter, als es draußen ununterbrochen schneit, und endet im Winter, als es wieder schneit. Nichts, was zwischen diesen beiden Wintern geschieht und erlebt wird, ist außerordentlich im Sinne von einmalig, historisch gar oder auch nur besonders über das Maß beliebiger Besonderheiten hinaus. Nur hat Marlen Haushofer eine Gabe, aus dem Sichtfeld des Kindes, dem Erlebnishorizont des Mädchens heraus zu erzählen, die sprachlos macht, bestaunend.
 
Natürlich könnte man einwenden, was von massenhafter Erfahrung bestätigt wird: Erinnerungen an die eigene Kindheit vor dem fünften Geburtstag fallen schwer, sie lassen sich, wenn sie von irgendwo auftauchen, schwer zuordnen, datieren gar, nicht einmal die Geschehensorte wollen sich eine präzise Fixierung gefallen lassen. Da steht man, angesichts eines plötzlich die Nase streifenden Geruches, an einem fernen Platz der Kindheit, man weiß, was man riecht und kann es nicht sagen. Manchmal treibt die Frage durch den Kopf, während anderes ihn vordergründig beschäftigt, und plötzlich ist das Wissen da: so rochen die Eierkohlen im zweiten Hof des Großvaters, wenn sie vom Regen ein wenig nass geworden waren, so diese merkwürdigen wurstigen Knospen, die zerdrückt eine dickliche gelbliche Flüssigkeit absondern. Was Marlen Haushofer von ihrer kleinen Marili erzählt, kann gar nicht erfunden sein, dies erfindet sich nicht: wie ein Kind vom frischen Most betrunkene Wespen, die ins Glas fielen, mit einem Strohhalm rettet und ins Gras setzt, wo sie von hinnen torkeln. Torkelnde Wespen im Gras: vermutlich kann man dies, wenn man auch nur etwas älter ist, gar nicht mehr sehen: als wäre man blinder dann, obgleich man doch sehender wurde. In „Das fünfte Jahr“ erleben wir eine ganze Welt von Gerüchen, eine lebendige Natur mit kleinen Tieren, die ausreißen, wenn Marili die Hand nach ihnen ausstreckt, anders als die Kälber und Kühe.
 
Es wäre demzufolge von Marlen Haushofer und den Tieren zu reden. Das würden sogar jene verstehen, die nur den Film „Die Wand“ gesehen haben, von dem einer schrieb, Martina Gedeck müsse unbedingt sämtliche Filmpreise der Saison dafür bekommen. Eine Kuh ist da, ein Hund, eine Katze und war nicht auch eine weiße Krähe dabei? Im Roman, im Film? In „Das fünfte Jahr“ erzählt der Großvater vom Termitenkrieg, in dem er siegreich blieb und er zeigt Marili im Wald die Ameisen: „Der Großvater zeigte dem Kind die verschiedenen Arten, die riesigen Waldameisen, die bissigen roten und die harmlosen schwarzen Ameisen und jene winzigen gelben Tierchen, die niemals dazu kamen, Burgen zu bauen, weil sie von allen anderen verfolgt und gefressen wurden. Sie schienen wirklich sehr hinfällig, mit ihren fadenartigen Beinchen, und Marili fühlte Mitleid mit ihrer Schwäche, aber im innersten Herzen liebte sie doch die großen Ameisen, die der Großvater „Waldbären“ nannte, am meisten.“ Vor allem liebt Marili den Großvater selbst und sie ist mit ihm im Bunde, wenn es darum geht, der ewig traurigen Großmutter ein Aufleuchten in die braunen Augen zu zaubern. Denn die Großmutter ist selbst dann traurig, wenn sie lächelt und das liegt an den Toten, die sie zu betrauern hat: die Zwillinge, Marilis Mutter und vor allem den kleinen Max. Man muss diese Stellen, kaum mehr als ein oder zwei Sätze jeweils, sehr genau lesen: große Kunst.
 
Da steht eben nicht: die Großmutter weint, wenn sie daran denkt, wie sie dem kleinen Max Hausarrest verordnete für irgendein lächerliches Vergehen, weil sie sich schuldig fühlt. Da steht: „Er hätte Sonnenschein so nötig gebraucht – denn ein Jahr später war er schon tot. Immer wenn ich seither den Birnbaum seh', spür' ich die Reue über meine Ungeduld.“ Und Marili? „Marili hätte  gerne mehr über die Reue gehört, das Wort hatte etwas Dunkles und Geheimnisvolles an sich, aber sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, die Großmutter zu quälen.“ Marili erlebt auch, dass der Großvater Vorrechte hat: Er darf mit Schuhen ins Haus, sogar auf den Teppich im Schlafzimmer, er darf laut sprechen. Wenn daraus und aus der Rolle des bösen Buben, der seine jungen Katzen ertränken will, wofür ihn das kleine Mädchen verprügelt und in die Wange beißt, obwohl er größer und älter ist, und aus der Rolle des schrundigen Bettlers, der Marilis Geschenk, ein Körbchen aus bemaltem Porzellan, achtlos in den Dreck wirft, wo die Scherben versinken, feministische Zündfunken geschlagen werden sollten, wie es geschehen ist, dann mag das der großen Grube überantwortet werden, in der Missbrauchsfälle der Rezeptionsgeschichte auf kleiner Flamme köcheln. Für Marlen Haushofer bedeutete die schwunghafte Missdeutung, der ebenso schwunghaft widersprochen wurde, posthume Aufmerksamkeit. Schwer zu sagen, ob sie das alles gefreut hätte.
 
Christine Schmidjell schrieb im großen Killy über „Das fünfte Jahr“: „In idealisierender Weise verarbeitet sie hier jene frühkindlichen Eindrücke, die sie in ihrem autobiographischen Kindheitsroman „Himmel, der nirgends endet“ (Gütersloh 1966) auch als lebenslange Kränkungen und Verletzungen des Mädchens Meta im scheinbaren Kindheitsparadies entlarvt.“ (ich habe die üblichen Lexikon-Abkürzungen aufgelöst, die Wörter ausgeschrieben). Von Idealisierung ist mir nichts aufgefallen, mir will auch nicht scheinen, dass das Entlarven von Kindheitsparadiesen eine vordringliche Aufgabe von Literatur genannt werden müsste. Marlen Haushofer erzählt, in Worten: erzählt etwas wie eine Phänomenologie von Kindheit. Kindheit in einem bestimmten Milieu, das als Familie noch beinahe geschlossen ist mit minimalen Außenweltberührungen. Nicht einmal die Tätigkeit des Großvaters wird mit einem Namen versehen. Natürlich wissen alle, die Haushofers Biographie kennen, welche Vorbilder gestaltet sind, einflossen. Aber am Ende ist es vollkommen ohne jede Bedeutung, welchem Onkel in der Erzählung, welcher Tante im Roman welcher wirkliche Onkel, welche wirkliche Tante zugeordnet werden können. Und ebenso bringt es wenig, zu zählen, wie oft bei Marlen Haushofer ein Kind vor dem Einschlafen einen Zopf um seine Hand wickelt.
 
Der Zopf ist Geborgenheit. Nicht umsonst hat der Düsseldorfer claassen-Verlag auf die Rückseite seiner Schutzumschläge für die beiden Bände der „Gesammelten Erzählungen“ diese Zitate gesetzt: „Ich kann nur beschreiben, was ich kenne, darum muss ich oft lügen, denn ich sehe sehr scharf und will niemandem weh tun.“ „Wenn man mich fragt, warum ich diese Erzählungen geschrieben habe, kann ich nur antworten: um mir selbst eine Freude zu bereiten.“ Beide Aussagen sind von einer Ehrlichkeit, die in gar keine Richtung schielt. Schielen wird aber erwartet, Programm wird erwartet, Kontexte müssen aufrufbar sein. Was hätte beispielsweise Martin Lüdke für den SPIEGEL für eine womöglich bahnbrechende Kritik schreiben können, hätte er nur über Marlen Haushofers „Die Wand“ geschrieben und nicht in einem Aufwasch gleich noch versucht, Matthias Horx, den späteren Zukunftsforscher und früheren Mann vom „Pflasterstrand“ plus Ulrich Horstmann, die er „apokalyptische Trittbrettfahrer“ nennt, nebenher durch die Mangel zu drehen. Dass der SPIEGEL diesen Text nicht nahm, hat sicher nicht mit Haushofer zu tun, sondern dankt sich der nicht zu erkennenden Zielrichtung des Beitrags. Ich hätte ihn auch nicht gedruckt, wenn er auf meinem Tisch gelandet wäre. Aber wer bin ich schon? Ich würde auch nie auf die Idee kommen, Haushofer auf ihre Romane zu reduzieren, wie es Sibylle Cramer fürs „Lexikon der Gegenwartsliteratur“ tat.
 
„Marlen Haushofers Romane“, steht dann da, „sind Bruchstücke einer Biografie entfremdeten weiblichen Lebens. Die Metapher der unsichtbaren Wand, hinter der ihre Frauengestalten in einer Art leibhaftige Abwesenheit leben, ist ein zeittypisches Rückzugssignal, das auch im Werk Ingeborg Bachmanns und der Engländerin Doris Lessing auftaucht.“ Was aber ist mit den vier Dutzend kurzer und kürzester Geschichten, die sie schrieb, was mit den Kinderbüchern? Fehlen sie deshalb in den Betrachtungen der so genannten Forschung, weil sie sich nicht über einen Leisten schlagen lassen, weil sie nicht dreieinhalb Schlagwörter bedienen, zweieinhalb Schubladen füllen? Natürlich lassen sich Gemeinsamkeiten formulieren: wer aber braucht diese Formulierungen? Mit der Aufstellung eines Themenkataloges, der in einem Sammelband von Erzählungen behandelt ist oder scheint, ist niemandem gedient außer dem Aufsteller, der idealerweise eine Publikation in sein Register schreiben darf. Eine weitere zu den vielen, die vollkommen überflüssig sind, weil sie die entscheidende Frage ausklammern: den Kunstwert der besichtigten Texte. Eine beliebige Stelle: „Wir fingen an, ungewaschenes Obst zu essen, die Katze zu küssen, im erhitzten Zustand zu trinken, mit Werkzeug zu spielen und auf dem Zaun zu balancieren. Unser Schuldbewusstsein schwand dahin, und bald waren wir so ungehorsam und fröhlich wie alle anderen Kinder.“
 
Das steht in „Die Sache mit der Kuh“. Den Kindern in dieser Geschichte ist so gut wie alles verboten, was Spaß macht, bis die Kuh umfällt. „Als sich aber in ihnen die Erkenntnis durchsetzt, dass es Strafen auch dann gibt, wenn man gar nichts getan hat, lösen sie sich aus Schuld und schlechtem Gewissen.“ Nie ist in diesen wunderbaren kleinen Geschichten, die natürlich nicht alle den allerhöchsten Ansprüchen genügen wollen, denn die spielen eigentlich gar keine Rolle, auch nur der Ansatz einer Zeigefingerspitze zu erkennen. Die Geschichten erklären sich selbst und selbst das ist schon zu viel gesagt, denn sie erklären bei genauerem Hinsehen gar nichts. Sie erzählen. Und da wäre man schon mitten in alten Debatten, die um die Alternative „Erzählen oder beschreiben?“ kreisen. In Daniela Strigls Haushofer-Biografie ist nachzulesen, dass Marlen Haushofers Vorliebe den Onkels und anderen Menschen galt, die Geschichten erzählen konnten und Geschichten zu erzählen hatten. Solche wie die schon erwähnten, die ein Leuchten in die Augen der Großmutter treiben. Neben dem Vortrieb der Weltrevolution, den manche für ein Kerngeschäft von Literatur halten, sind leuchtende Großmutteraugen weniger als nichts: für die Vortreiber. In „Das fünfte Jahr“ lesen wir: „Der Großvater putzte sich die Nase und ging rasch aus dem Zimmer. Der Duft seines Schlafrockes war noch eine Weile im Raum, und das kleine Mädchen schlief lächelnd ein.“
 
Schlechte Literatur hätte mitgeteilt, warum sich der Großvater, ohne dass er Schnupfen hat, die Nase plötzlich putzen muss. Marlen Haushofer war sich 1952 schon sehr sicher, dass gute Leser wissen, wovon die Rede ist. Deshalb soll auch hier nicht ausgesprochen werden, was auf der Hand liegt. Weil dies zum 100. Geburtstag von Marlen Haushofer geschrieben ist, der 2020 zwischen dem Karfreitag und dem Ostersonntag liegt, noch dieses Zitat: „Was für ein Trost war es, zu wissen, dass alle Tiere in den Himmel kamen. Jene unendliche Reihe von geköpften Hühnern, geschlachteten Kälbern und alle altersschwachen Pferde und Hunde.“ Da fasele noch jemand von Idealisierung. Vor sehr vielen Jahren, als noch Debatten öffentlich über Tendenzliteratur geführt wurden, die bis heute weiter geführt werden, nur werden die alten Begriffe gemieden wie Teufelszeug, da waren die Klugen für eine Tendenz, die aus dem Erzählten hervortritt. Bei Haushofer tritt 1952 die Aussage hervor, ohne eine zu sein, dass früher, in den Idyllen, die keine waren, der Tod zum Leben gehörte. Marili wird mitgenommen auf den Friedhof, Marili sieht, dass Hühner geköpft werden und Kälber geschlachtet. Heute schreiben Feuilleton-Philosophen ganze Verlust-Bücher voll, Therapeuten beweinen den Ausschluss des Sterbens aus dem allgemeinen Bewusstsein. Marlen Haushofer hat von Kindern erzählt, die alles sahen, zu verstehen begannen, was sie sahen, es sehr scharf sahen.


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