Rosa Luxemburg 150

Rosa Luxemburg ist ein Missbrauchsopfer. Sie wurde es früh, blieb es, bis sie bestialisch aus der Welt geschafft wurde von jüngeren weißen Männern, und ist es noch heute, je nach Blickwinkel, aus dem das jeweilige Jubiläum ihres Namens ins Visier genommen wird. Um einen harmlosen Missbrauch zuerst zu nennen: Marit Rullmann (Jahrgang 1953) reihte sie unter „Philosophinnen“, die sie in zwei Bänden zuerst in der edition ebersbach (1993 und 1995), später als suhrkamp taschenbuch (1998) vorstellte, pflichtgemäß begrüßt vom Berufsleserkreis, der liest, um darüber zu schreiben. Mitten unter unbekannten und sehr unbekannten Namen findet sich im zweiten Band Rosa Luxemburg. Fast schülerinnenhaft geschrieben, führt das Porträt allerlei vor, nur nichts, was den Nachweis anträte, es handle sich um eine Philosophin, es sei, man rechne nationalökonomische, parteipolitische und ähnliche Schriften umstandslos zur Philosophie, was deren Kreise kaum akzeptieren würden. Dass das DDR-Philosophen-Lexikon auch einen vergleichsweise umfänglichen Beitrag über die Politikerin enthält, macht alles das nicht besser. In der DDR immerhin gehörte Rosa Luxemburg zu den Klassikern zweiten bis fast dritten Ranges, man durfte sie nahezu beliebig kritisieren, was bei Klassikern ersten Ranges (nur Männer natürlich) undenkbar gewesen wäre.

In ihrer Schrift „Zur russischen Revolution“ findet sich jene berühmte Passage von der Freiheit der Andersdenkenden. Peter Glotz (6. März 1939 – 25. August 2005), der dies und jenes war, vor allem aber Sozialdemokrat und spät auch noch Gründungsrektor der neuen Universität Erfurt, schrieb vor fast 30 Jahren: „Der berühmte Satz aus ihrem hellsichtigen, erst posthum veröffentlichten Pamphlet über die russische Revolution „Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden“ wird inzwischen sogar von den Nachfahren ihrer Feinde respektvoll dahergeplappert“. Heute könnte man das Wort respektvoll durch zynisch ersetzen: wer sich aktuell als so genannter Querdenker auf Luxemburg beruft, tut es nicht aus Respekt, auch nicht als Denker. Der aus dem Zusammenhang, woher sonst, gerissene Satz, wird, statistisch wahrscheinlich sogar nachweisbar, am liebsten von denen benutzt, die ihrem Nichtdenken Weihe verleihen wollen oder Untergrund. Um bei Glotz zu bleiben, der unter der Überschrift „Auf dem nationalistischen Blocksberg ist heute Walpurgisnacht“ über eine erneuerte Aktualität des Luxemburgschen Internationalismus öffentlich nachdachte, den er zugleich radikalen Internationalismus nannte: „Ein Teil der Linken spricht schon nur noch per Vorname von ihr, wie reiche Leute von ihren Dienstmädchen.“ Er hat damit mehr als recht behalten.

Man muss nur die linken Blätter dieser Tage anschauen: Rosa, Rosa, Röslein rot. Dass das ein Blick auf Dienstmädchen ist – ich stelle mir vor, dass Peter Glotz gar nicht genau wusste, wie tief er in die Seelen der Missbrauchstäter äugte. Viele Jahre früher, genau am 16. Januar 1919, ereignete sich ungewollt und leider nicht mehr korrigierbar, einer der makabersten Treppenwitze der deutschen Mediengeschichte. Ausgerechnet die „Weltbühne“ druckte in ihrer Ausgabe Nummer 3 des neuen Jahres den Beitrag zu Rosa Luxemburg in ihrer Reihe „Politiker und Publizisten“ von Johannes Fischart. Es war der 46. Artikel der Reihe. Voran gingen 1919 Wilhelm der Zweite, Kurt Eisner, es folgten Emil Eichhorn, Ulrich von Brockdorff-Rantzau und Hugo Preuß. Einseitigkeit lässt sich, diese paar Namen belegen es, der Reihe nicht vorwerfen. Johannes Fischart war das Pseudonym, das Erich Dombrowski (23. Dezember 1882 – 29. Oktober 1972) für die „Weltbühne“ benutzte. Er wurde 30 Jahre später, 1949, einer der Mitbegründer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Ach, das Röslein hatte Dornen“ lesen wir und das Wissen, dass ihre Leiche derweil im Landwehrkanal trieb und erst Wochen später gefunden wurde, macht die Lektüre zum merkwürdigen Erlebnis. „Ein Mann war sie, die sich nie mit Kleinlichkeiten, Sentimentalitäten oder dergleichen abgab.“

„Nirgend vertrug man sie auf die Dauer. Denn sie tobte stets und sprach in Superlativen.“ „Je größer der Kriegsrausch, um so wilder, hemmungsloser wurde ihr Revolutionseifer.“ Und zum traurigen Ende des Porträts: „In Berlin tobt der Bürgerkrieg, und die blutige Rosa ist, als das Pulverfass in Berlin explodierte, ins Reich gefahren, um auch hier die Brandfackel in die aufgeregten Massen zu schleudern.“ Nein, dazu ist es und sie nicht mehr gekommen. Eine Woche später, am 23. Januar, konnte Arnold Zweig für die „Weltbühne“ den Fehlgriff wenigstens teilweise korrigieren, er schrieb eine „Grabrede auf Spartacus“, die in DDR-Ausgaben Zweigs nie komplett nachgedruckt wurde. Auszüge finden sich in „Arnold Zweig 1887 – 1968. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern“ (Aufbau 1978). „Denn es ist über Nacht gekommen, dass Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, der Stiefsohn und die echte Tochter der Idee, dahingegangen sind“. „Weder Rosa Luxemburg noch Karl Liebknecht waren dies Genie; alles Geniale fehlte ihnen völlig.“ „Weniger sichtbar als Individuum, unvergesslich als Typus, steht die Gestalt Rosa Luxemburgs in diesen Tagen. Sie war, sie ist die jüdische Revolutionärin des Ostens, die bis in jede Fiber antimilitaristische, der Gewalt feindliche, schließlich selbst der Gewalt verfallene, ein Leben lang kämpfende Trägerin der Idee.“

Der Weimarer Republik sagte Arnold Zweig: „Sie wird Großes zu leisten haben, um dieser Toten wert sein.“ Wir wissen, dass sie diese Größe nicht aufbringen konnte (und wollte). Nicht viel später erschien im Berliner Verlag Reiss ein Büchlein von Annette Kolb (3. Februar 1870 – 3. Dezember 1967), aus dem die „Weltbühne“ 1921 und 1922 kurze Auszüge vorab druckte. Ein längerer Auszug folgte in „Die neue Rundschau“. „Westliche Tage“ ist ein typisches Kolb-Buch, lässt seine Leser bisweilen ratlos, weil es ihm Informationen vorenthält, die zum Verstehen wichtig gewesen wären. Keine Hilfe ist nötig, um dem zu folgen, was die Kolb über Rosa Luxemburg und ihre Briefe, „diesem hohen Lied auf die Natur“, zu Papier brachte. „Ich las die Briefe in der Fremde – sie waren mir in keinem deutschen Buchladen unter die Augen gekommen; als dürfe deren edler Geist nicht ruchbar werden. Welch anderen Grund könnte es geben, sie zu unterschlagen?“ Mit sicherem Griff zitiert Kolb jene Briefstelle vom 2. Mai 1917, die so viel sagt über ihre Verfasserin: „Oder wissen Sie? ich habe manchmal das Gefühl, ich bin kein richtiger Mensch, sondern irgendein Vogel oder ein anderes Tier in Menschengestalt; innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten wie hier oder im Feld unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat – als auf einem Parteitag.“

Lang war die Reihe der Parteitage, an denen Rosa Luxemburg teilnahm, immer trat sie auch als Rednerin ans Pult, keinesfalls immer aber fand sie ungeteilten Beifall, eher im Gegenteil. Lang war auch die Zeit, die sie in Gefängnissen verbrachte, als verurteilte Gefangene wie auch, die längste Zeit, als „Schutzhäftling“. In Unkenntnis neuerer Biographien will ich nicht behaupten, dass den Haftbedingungen der prominenten Insassin zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Sehr schlecht, gar unerträglich können sie jedenfalls nicht gewesen sein. In den Briefen vor allem aus Wronke klingt es, als wäre das bisweilen sogar durchaus angenehm. Sie scheint einmal sogar mehr als einen Raum für sich allein gehabt zu haben, sie scheint über längere Zeiträume sogar eine erstaunliche Bewegungsfreiheit gehabt zu haben und immerhin fand sie Zeit zu aufwendigen Studien vor allem der russischen Literatur und zu einer umfangreichen Übersetzung der Lebens-Bilder von Wladimir Korolenko (27. Juli 1853 – 25. Dezember 1921). „Die Geschichte meines Zeitgenossen“ in der Übersetzung von Rosa Luxemburg ist nach 1919 1953 neu in der DDR verlegt worden (mit ihrem Vorwort), siebzehn Jahre später (1970) folgte die gute alte Bundesrepublik, die zuvor erst ihr 1968 gebraucht hatte und die öffentlichen Petri-Schalen des K-Gruppen-Milieus.

Die nur scheinbar so naive und unpolitische Annette Kolb jedenfalls schrieb: „Dabei wären sie zu Propagandazwecken sehr wohl zu verwerten. Denn der Glaube der Verfasserin und ihre Freude an die eigene Sache hat sichtlich Stöße erlitten, die nur ihr Mut überlebte. Wieviel Ernüchterung ist zwischen ihren Zeilen zu lesen, wieviel Abkehr von den Menschen! Abfall von ihnen sogar. Ihr Interessen für Tiere und ihr Versenktsein in die Bildungen der Wolken, in Licht und Wachstum der Gesträuche ist ein Dolente. Ihre innere Flucht vor den Ereignissen, ihre Scheu, sich über sie zu äußern, beruht nicht nur darauf, dass sie ihre Briefe überwacht weiß. Wie ist sie müde! Ihr inbrünstiger Wunsch die Sprache der Vögel zu verstehen erweckt den Eindruck einer erschütterten, ja vielleicht zusammengebrochenen Zuversicht in Parteisatzungen und ihren Wortschatz.“ Das lasse ich unkommentiert, reiche aber noch den anschließenden Satz nach: „Man hätte allen Grund, die Verbreitung dieses Buches zu fördern.“ Mein Exemplar genügt keinerlei wissenschaftlichen Anforderungen, es fehlen Zusatzinformationen zu Namen und Zusammenhängen, aber die Briefe an Sophie Liebknecht sprechen eine deutliche Sprache und fast immer für sich selbst. Mein Exemplar stammt aus dem Jahr 1946 und trägt den handschriftlichen Eigentumsvermerk meines Vaters: Osw. Ullrich, dessen 100. Geburtstag am 7. Mai außer mir natürlich niemand feiern und begehen wird.

Das Vorwort verfasste anonym „Der Verlag“, das 70-Seiten-Büchlein erschien anlässlich des 75. Geburtstages von Rosa Luxemburg am 5. März 1946: „... so war sie doch der beste marxistische Kopf in Westeuropa und erwarb sich unsterbliche Verdienste.“ Das las man später nicht mehr so, Fred Oelßer (27. Februar 1903 – 7. November 1977) erwarb sich mit seiner „kritischen biographischen Skizze“ 1951 das zweifelhafte Verdienst, den Fokus auf die Ermordete ins Negative zu wenden. Von ihm erschien 1951 auch „Die Bedeutung der Arbeiten des Genossen Stalin über den Marxismus und die Frage der Sprachwissenschaft für die Entwicklung der Wissenschaften“. Es half ihm nichts, 1958 fiel er in Ungnade, eine Rehabilitation gab es häppchenweise und eher verschämt. Stalins sprachwissenschaftlicher Blödsinn liegt als Broschüre in meinem Keller und wurde ihrer wissenschaftlichen „Größe“ nach vermutlich erst vom vielfältigen Schaffen der Elena Ceausescu übertroffen, die freilich deshalb gerade nicht hätte erschossen werden müssen. Eine zeitgenössische Besprechung der Briefe Rosa Luxemburgs lässt sich in der „Weltbühne“ von 1923 nachlesen. Leo Lania (13. August 1896 – 9. November 1961) schrieb (30. August): „Was ganz Deutschland an Rosa Luxemburg verloren hat, das könnte es wieder an diesen Briefen erkennen.“ Ein Neu-Druck folgte.

Die Wochenschrift druckte den Brief vom 26. Januar 1917, gerichtet nicht an Sophie Liebknecht, sondern an Luise Kautsky. Er enthält den gern zitierten Passus: „Und wenn Du etwa sagst: Goethe war eben kein politischer Kämpfer, so meine ich: Ein Kämpfer muss erst recht über den Dingen zu stehen suchen, sonst versinkt er mit der Nase in jedem Quark“. Das klingt wie eine Charakteristik des Fernsehformats Politische Talkshow: dortige Kämpfer sind gewissermaßen regelhaft und auf Dauer im jeweiligen Quark versunken. Die übliche Dumm-Behauptung, Luxemburg hätte damit etwas vorweggenommen, verkneife ich mir natürlich. Luxemburg erinnert in diesem Brief an ein Gelage im Schwarzwald: „... wir saßen nach dem Essen im Freien um eine kleine Batterie Mumm-Flaschen“. Ob die Marketing-Abteilung von Mumm dieses Werbestück schon entdeckt hat? „Und ich muss mir zu meinem geistigen Komfort unbedingt noch irgendetwas außer der menschlichen Dummheit als unendlich denken können!“ Leo Lania beschloss seine kleine Betrachtung knapp und prägnant: „Nein, diesem Deutschland ist nicht zu helfen.“ Rosa Luxemburg selbst schrieb: „Man muss alles im gesellschaftlichen Geschehen wie im Privatleben nehmen: ruhig, großzügig und mit einem milden Lächeln.“ Ihre Ilmenauer Rede hielt sie übrigens am 8. Januar 1912: im Wahlkampf.

Wer der vielen Orte in chronologischer Übersicht sehen möchte, an denen Rosa Luxemburg eine ihrer wirkungsvollen, oft mit großer Begeisterung aufgenommenen Reden hielt, kann auf eine schlicht „Reden“ betitelte Edition des Leipziger Reclam-Verlages von Jahr 1976 zurückgreifen (RUB 648). Dort erfährt man, dass sie von Arnstadt über Weimar und Eisenach nach Ilmenau kam, danach ging es ins Hessische. In der heutigen Karl-Zink-Straße erinnert ein Schild an den Auftritt vom 8. Januar 1912, das nach 1989 kurzzeitig angeblich verschwunden war. Das Nachwort von Günter Radczun (1931 – 1978) enthält Sätze wie: „... sie polemisierte manchmal bis an die Grenze der Respektlosigkeit.“ Und: „Revolutionsdoktrinär war Rosa Luxemburg nie. … Sie war auch nie in der Theorie doktrinär.“ Wer es dagegen war, verrät der Autor natürlich nicht. Aber man muss nur einige Abhandlungen probeweise überfliegen, die mit oft extensivem Eifer hier eine Differenz zu Clara Zetkin, dort eine zu August Bebel, eine zu Karl Kautsky sowieso und zu Eduard Bernstein vollends, feststellen, um sich sagen zu dürfen: Wen interessierte das damals, wen gar sollte es heute noch interessieren, an welchem Punkt Lenin schneller, früher, genauer war, an welchem Rosa Luxemburg Marx zu übertreffen meinte, ohne ihn am entscheidenden Punkt überhaupt zu kennen?

Ein nervendes Beispiel lieferte auch Dieter Schiller (Jahrgang 1933) mit seinem Aufsatz „Rosa Luxemburg (1871 – 1919)“ für den Sammelband „Positionsbestimmungen. Zur Geschichte marxistischer Theorie von Literatur und Kunst“ (Leipzig 1977). Die reichlich 40 Seiten vermitteln den Eindruck eines Weitspringers, der irrtümlich zwei volle Stadionrunden Anlauf nimmt, in der Hoffnung, besser in der Sprunggrube zu landen. Weder gelingt ihm, aus all den verstreuten Texten der unterschiedlichsten Sorten von Aufsatz bis Brief eine Art konsistenter Theorie zu destillieren noch überhaupt zu einem mehr als rein additiven Gesamtbild zu gelangen. Das ist ihm kaum anzukreiden, denn der Bestand nutzbarer Texte ist, gemessen am überlieferten Gesamtumfang der Hinterlassenschaft von Rosa Luxemburg, mehr als bescheiden. Die bis heute immer wieder herangezogene und zitierte Sammlung „Schriften über Kunst und Literatur“, herausgegeben und mit einem Nachwort bestückt von Marlen M. Korallow, kommt mit Apparat auf keine 230 Seiten, von denen mehr als die Hälfte auf Brief-Stellen entfällt. Das Buch erschien in der bis heute nicht genug zu lobenden Reihe der „Fundus-Bücher“ des VEB Verlag der Kunst Dresden, die einst mit Ernst Fischers „Von der Notwendigkeit der Kunst“ begann, Band 2, noch 1959, wurde „Der Mensch schafft sich selbst“ von V. Gordon Childe, Rosa Luxemburg bekam ihren Band 29 im Jahr 1972.

Es ist keine Tat für Rosa Luxemburg, sie vor einem nie ernsthaft erhobenen Vorwurf, sie habe die Gegenwartsliteratur ihrer Zeit nicht wirklich zur Kenntnis genommen, zu verteidigen. Nicht wenige ihrer eben nicht in theoretischen Zusammenhängen, auch nicht in historischen, gemachten Aussagen, sind sehr stark situationsgebunden, nur augenblicklichen Gefühlslagen verpflichtet, nicht vorhandener Nachschlagemöglichkeiten. Mehrfach, um ein Beispiel zu nennen, kommt sie auf Gedichte zu sprechen, die ihr von Vertonungen her geläufig sind, und zwar von Hugo-Wolf-Vertonungen. Ich weiß nicht, ob in der umfänglichen Luxemburg-Literatur schon jemand das als Thema erkannte, auch wenn es ein eher peripheres ist. Gleb Uspenski, Leo Tolstoi und Wladimir Korolenko sind wohl bedeutende Köpfe der russischen Literatur, auch Gorki kommt ab und an vor, aber ein irgendwie wissenschaftlich ernst zu nehmendes Bild entsteht daraus nicht und das spricht keineswegs gegen Rosa Luxemburg. „Ich freue mich schon so auf den Frühling, das einzige, was man nie satt kriegt, solange man lebt, was man im Gegenteil mit jedem Jahr mehr zu würdigen und zu lieben versteht.“ Schrieb sie am 14. Januar 1918. Und nannte gern immer auch damals wie heute unbekannte Namen, aus der flämischen Literatur beispielsweise: Broodcoorens, Stijn Streuwels.

Leider kann man der marxistisch-leninistischen Theorie von Kunst und Literatur generell den grundsätzlichen Vorwurf nicht ersparen, zentrale Thesen, vermeintliche Theoreme, ausgerechnet aus nie zur Veröffentlichung gedachten und geschriebenen Briefen gewonnen zu haben. Oder man missversteht sie absichtsvoll wie Lenins berühmt-berüchtigte Schrift „Parteiorganisation und Parteiliteratur“, die eben nicht von Literatur handelt, sondern, siehe Titel, von Parteiliteratur. Wenn Rosa Luxemburg sich beispielsweise begeistert über Pierre Loti äußert, ist das eigentlich allenfalls der Erwähnung wert, in unserer heute ununterbrochen aufgeheizten Jagdszenen-Öffentlichkeit aber wäre es eher ein Skandal. Loti (14. Januar 1850 – 10. Juni 1923) war ein Vertreter dessen, was man bald Dekadenz nannte, also eigentlich jener Literatur, von der Luxemburg in einem ihrer Briefe schrieb: „... ich fürchte bei ihnen allen ein wenig die meisterhafte vollendete Beherrschung der Form, des poetischen Ausdrucksmittels und das Fehlen einer großen, edlen Weltanschauung dabei.“ Das findet sich unterm Datum vom 24. November 1917 wie auch noch dies: „Sie geben gewöhnlich wunderbare Stimmungen wieder. Aber Stimmungen machen noch keinen Menschen.“ Man darf das auch als Selbstzweifel ansehen, denen sich Rosa Luxemburg natürlich bisweilen hingab und stellte.

Max Rychner (8. April 1897 – 10. Juni 1965), schrieb in seiner Betrachtung der Briefe unter anderem: „Sie war nicht dumm genug, um überall zunächst „Reaktionäres“ zu wittern und knechtisch zu suchen; derlei lag unter ihrem Format. Das Anziehende an ihr ist ja, dass sie über den Gegensätzen der Kleinen stand“. Sie wäre wohl entsetzt, müsste sie in heutigen Zeitungen lesen, dass allen Ernstes Fragen aufgeworfen werden wie die, ob Gedichte farbiger Autorinnen nur von farbigen Autorinnen in andere Sprachen übersetzt werden dürfen, ob Weiße über Mexikaner schreiben dürfen, wir reden nicht von all den Idiotien, die unter dem Stichwort Black Facing in Umlauf gebracht wurden von diversen Westentaschen-Savonarolas. Derlei lag in der Tat unter ihrem Format. „Als eine Kreatur ursprünglicher Art ist sie ohne Hass. In ihrem Herzen ist nicht jene saure Milch des Gehässigkeit, die von Politikern geringen Karats so gern ausgeschenkt wird, mit Gebärden, als brächten sie Herzblut dar.“ Mit solchen Sätzen hätte sich der Schweizer Rychner eine alljährliche Wallfahrt zu seinem Grab verdient. Walter Jens zitiert in seiner Besprechung der fünfbändigen Ausgabe der Briefe von Rosa Luxemburg einen vom 16. Februar 1917 an Mathilde Wurm (30. September 1874 – 1. April 1935), ihr ist ein Stolperstein in Berlin-Tiergarten gewidmet.

„Was willst Du mit den speziellen Judenschmerzen? Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Putamayo, die Neger in Afrika, mit deren Körper die Europäer Fangball spielen, ebenso nahe. … dass ich keinen Sonderwinkel im Herzen für das Ghetto habe.“ Solche Sätze sind leider kein Schlag ins Gesicht all jener Idioten, die jedem, der das Wort Neger, das „N-Wort“, wie es genannt wird, in den Mund nehmen, Rassismus unterstellen. Rosa Luxemburg war weder eine Rassistin noch verharmloste sie vorausschauend den Holocaust. „Sie erkannte die Wahrheit, aber sie handelte, zumindest in ihren letzten Lebenstagen, dieser Wahrheit entgegen.“ Damit befände sich Rosa Luxemburg in der illustren Gesellschaft fast aller Menschen. „Nein, Rosa Luxemburgs Heimat war weder die Partei noch ein Land, sondern jenes Stück Utopia, in dem, nach Ernst Bloch, noch niemand war“. So schreiben Rhetorik-Professoren: auch ohne Ernst Bloch und seine Schraubsätze ist niemand je in Utopia gewesen: Nicht-Orte haben es an sich, dass man sie nicht besuchen kann, nicht einmal virtuell. Immerhin endet Walter Jens lange vor seinem Absturz in die Demenz fast in Pathos: „ Die Humanität in unserer Gesellschaft wird sich auch danach bemessen, inwieweit wir das Erbe Rosa Luxemburgs in Ehren halten.“ Offen bliebe, was denn genau dieses Erbe wäre.

Barbara Hahn zum Beispiel in ihrem Buch „Frauen in den Kulturwissenschaften“ sieht es so: „Rosa Luxemburg – das ist der Name von Abweichung, wobei auch das Lob als Variante der Kritik erscheint.“ Und so: „Rosa Luxemburgs Schreibweise ist die Kritik. Sie tritt mit ihren Texten in bereits vorliegende ein und schreibt diese intern um.“ Hier feixt strukturalistisches Basis-Vokabular aus dem Hintergrund, das Wort Text sieht für sich schon von allem Inhalt ab, man kann zu Um- und Überschreibungen kommen, ohne zu sagen, worum es eigentlich geht. Das hätte Rosa Luxemburg sicher weit von sich gewiesen. Hahn zitiert aus einem Brief an Hans Diefenbach: „Meine Arbeiten sind wirklich von diesem Standpunkt Luxusware und könnten auf Büttenpapier gedruckt werden.“ Es ging um ihre Schrift „Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik“. Schon der Titel war marktschreierisch wie ein stummer Flaggengruß aus Nordschottland vor indonesischen Inselküsten. „Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermesslich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten „Zentralkomitees“.“ Mit solchen Thesen drang Luxemburg in die Keller von Umweltbibliotheken der DDR vor, denn man konnte sie gebrauchen und benutzen.

Max Hermann-Neiße (23. Mai 1886 – 8. April 1941), der mehr als nur ein kleines Gedenken zu seinem 80. Todestag wert ist in ein paar Wochen, besprach 1922 unter anderem auch das oben zitierte Buch „Westliche Tage“ von Annette Kolb. Er nahm ihr den Abschnitt über Rosa Luxemburg ausgesprochen übel: „Aus den Briefen der Rosa Luxemburg liest sie eine sehr bequeme Enttäuschung über aktives politisches Wirken, möchte das Buch zu einer unschädlichen freiheitlichen Bürgerlektüre neutralisieren und wünscht zu diesem Behufe, der Herausgeber solle seine „zu schroffen Bemerkungen“ preisgeben.“ Wir wissen heute vielleicht nicht besser, aber vielfacher belegt und sichtbar geworden, dass Enttäuschung über politisches Wirken bei Politikern, deren hervorstechendstes Merkmal nicht Blindheit ist, verbreiteter ist, als ihren jeweiligen Sprechern lieb sein darf. Blinde allerdings sehen in der Nachfrage nach Kugelschreibern und Luftballons an Wahlständen gern lebhaftes Wählerinteresse und Wirksamkeit ihrer Broschüren. „Ich möchte auch nichts aus meinem Leben missen und nichts anders haben, als es war und ist.“ So Rosa Luxemburg an Sophie Liebknecht am 19. April 1917. Acht Monate später: „So ist das Leben und so muss man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd – trotz alledem.“ Eine einfache Wahrheit.


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