Carl von Ossietzky lobt Arthur Eloesser

Derjenige Bearbeiter, der den deutlich größten Anteil am derzeitigen Textbestand der WIKIPEDIA-Seite zu Arthur Eloesser verantwortet, er agiert unter dem Benutzernamen Funkhauser, scheint die wachsende Zahl von Informationen nicht registriert zu haben, die sich auf https://arthureloesser.de/ seit längerem sammeln. Der seit vier Jahren sich hinschleppende Unfug von Eloessers Aufenthalt in Palästina von 1934 bis 1937 wurde bisher von niemandem korrigiert, dafür sind in der aktuellen Version die Abbildungen von Eloesser selbst, von seiner Grabstätte auf dem Wilmersdorfer Waldfriedhof und die Tafel am Margarete-und-Arthur-Eloesser-Park in Charlottenburg getilgt, die es vor vier Jahren noch gab. Als Ersatz ist jetzt das Cover seines Buches „Thomas Mann. Sein Leben und sein Werk“ zu sehen, das 1925 zum 50. Geburtstag von Thomas Mann erschien und die erste allein ihm gewidmete Gesamtdarstellung war. Noch der erst nach 1945 bekannt und berühmt gewordene Germanist Hans Mayer (19. März 1907 – 19. Mai 2001) war nicht bereit, in seinem 1950 erschienenen Buch „Thomas Mann. Werk und Entwicklung“ den Namen Eloesser auch nur mit Respekt zu erwähnen, er taucht lediglich in der Fußnote 19 zum zweiten Abschnitt hinten auf.

Wer sich dagegen die Mühe macht, die WIKIPEDIA-Abrufstatistik zu Rate zu ziehen, stößt auf seltsame Ausschläge in der Nutzung an bestimmten Tagen. Da es seit 2018 just jene Tage sind, an denen meine inzwischen elf Arbeiten zu Arthur Eloesser im Netz erschienen, kann ich nicht ausschließen, dass ich tatsächlich der Erzeuger von nachfragender Neugier bin, womit ich natürlich nicht unglücklich wäre. Nicht zuletzt deshalb lasse ich auf http://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/4408-carl-von-ossietzky-verteidigt-arthur-eloesser nun einen zweiten Beitrag folgen, der ergänzen und vervollständigen will, vor allem aber zeigen, wie der vermeintliche Laie in Sachen Literaturgeschichte, wie Carl von Ossietzky, mit wenigen Strichen, wie gern gesagt wird, obwohl ja von Buchstaben und Wörtern die Rede ist, ein immerhin 671 Seiten starkes, großformatiges Buch prägnant charakterisieren konnte. Ossietzky beginnt mit Namen, die vorwiegend in Fachkreisen bekannt waren und heute fast durchweg vergessen sind: August Friedrich Christian Vilmar (21. November 1800 – 30. Juli 1868), Hermann Kurz (30. November 1813 – 10. Oktober 1873), Robert Koenig (15. November 1828 – 8. April 1900), Wilhelm Scherer (26. April 1841 – 6. August 1886) und Eduard Engel (12. November 1851 – 23. November 1938), gegen sie stellt er Arthur Eloesser.

Sie charakterisiert er summarisch: „Fast alle legen nur leidvoll Zeugnis ab von der kurzen Geltungsdauer menschlichen Urteils und waren wohl schon bei Entstehung langweilig, überheblich, zelotisch, reaktionär. Die meisten der zahlreichen deutsche Literaturgeschichten erkennen Dichter mit gefestigter evangelischer Lebensanschauung vor allen andern den Lorbeer zu.“ Erst der später offen nationalsozialistische Literaturhistoriker Adolf Bartels (15. November 1862 – 7. März 1945) führte als „neues“ Kriterium ein, was Ossietzky noch relativ freundlich den „Rassetic“ nennt. Von all diesen unterschiedlich viel älteren Autoren unterscheidet Ossietzky seinen Mann: „Arthur Eloessers Werk „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“, (Bruno Cassirer Verlag), dessen erster Band – bis zu Goethes Tod reichend – jetzt erschienen ist, hat zunächst den großen Vorzug der Lesbarkeit. Die Diktion ist von einer heute kaum mehr gekannten Flüssigkeit, sie meidet die wissenschaftliche Gespreiztheit ebenso sicher wie die falsche Monumentalität, sie ist frei und leger, ohne in Feuilleton auszuarten.“ Noch heute trifft man gelegentlich auf jene Zünftler, die auch schon Wissenschaftlhuber genannt wurden, die nur ein Feindbild brauchen: das Feuilleton früher, heute heißt es Infotainment. Sie selbst bringen nie einen Satz ohne sieben Fußnoten dazu zustande.

Ossietzky weiß auch, welche Einflüsse welche Wirkungen erzielen: „Eloesser ist seit langem ein sehr genauer Kenner der französischen Literatur und Liebhaber Moliéres, und diese frühe Neigung hat ihn für immer gesichert gegen Pedanterie und gegen den klotzigen Glauben an die Unstürzbarkeit eines kritischen Verdikts. Ihm liegt auch das alte philologische Vorurteil fern, dass die Produkte einer verschollenen Literaturepoche lesenswerter werden, weil jemand eine dicke Abhandlung darüber geschrieben hat.“ Und er bringt den seit drei Jahren toten Siegfried Jacobsohn ins Spiel, der 1917 in der noch „Schaubühne“ heißenden „Weltbühne“ schrieb: „Unsereiner begreift die Theaterleitungen überhaupt nicht, und je länger, je weniger. Da ist Herr Barnowsky. Er hat zwei Bühnen, den zweitbesten Kritiker Deutschlands als Dramaturgen, einen Maler von Phantasie, einen Haufen reizvoller, teils germanisch starker und starrer, teils romanisch beweglicher Schauspieler und in sich selbst zumindest fürs feinere Lustspiel eine Regiebegabung von Rang.“ Denn mit dem zweitbesten Kritiker Deutschlands ist niemand anderes gemeint als Arthur Eloesser. Die Frage nach dem besten Kritiker Deutschlands setzt Jacobsohns subtilen Humor voraus: er ist es natürlich selbst.

Nachgelesen werden kann das unter der Überschrift „Ibsen und Kadelburg“ in der Ausgabe vom 25. Januar 1917 auf Seite 93. Für Ossietzky ist Eloesser am Jahresende 1929 „ein Mann, der Literatur und Schaubühne von allen Seiten kennt und sich von feierlichen Traditionen ebenso wenig vormachen lässt wie von der hohlen Gestik Lebender.“ Das sind gute Voraussetzungen. „Besonders schätzbar ist an diesem Band des Autors Kunst, zu gliedern und den Leser nicht mit Stoffmengen zu erdrücken.“ Eloesser widmete den Band seiner Frau Margarete. Gegliedert ist er in etwa 70 Seiten „Vorspiel“ und den Hauptteil, rund 600 Seiten „Das 18. Jahrhundert“. Zum Vorspiel gehören jeweils knapp: Barock; Die regelmäßige Dichtkunst. Martin Opitz; Schlesische Dichtung. Gryphius, Hofmannswaldau, Lohenstein; Jakob Böhme; Religiöse Dichtung. Angelus Silesius, Friedrich Spee, Protestantisches Kirchenlied. Paulus Gerhardt, Paul Fleming; Der Roman. Politischer Roman. Schlemenroman. Grimmelshausen; schließlich Hofdichter. Studenten. Christian Reuter. Christian Günther. „So kommt Eloesser denn auch mit den denkbar wenigsten Namen aus; er nimmt nur das noch Lebendige oder für die Entwicklung Notwendige.“ Den großen Namen Klopstock, Lessing, Wieland, Herder, Gothe und Schiller sind jeweils weitere Namen zugeordnet, Wackenroder zuletzt.

Das 18. Jahrhundert nennt Carl von Ossietzky umstandslos „die Heldenzeit der deutschen Literatur, die damals nicht nur kein Publikum hatte, sondern sich auch erst die Sprache erobern musste.“ „Eloesser belebt die Schilderung der gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Kette von Dichterporträts, die oft in reizender Kleinmalerei ausgeführt sind. Die Idyllik und Enge dieser Zeit wird ganz lebendig.“ Ein zünftiger Kritiker hätte sicher auf die Erich-Schmidt-Schule verwiesen spätestens an dieser Stelle, denn Erich Schmidt (20. Juni 1853 – 29. April 1913), der akademische Lehrer Eloessers, war mit seiner Textform „Charakteristiken“ (zwei seiner Bücher erschienen unter diesem Titel) vorbildlich und stilbildend. Den zünftigen Ehrgeiz aber hatte Ossietzky gerade nicht, für Apparat und Fußnoten die „Weltbühne“ auch gar keinen Platz. Lieber ließ Ossietzky noch eigene Gedanken folgen: „Der deutsche Geist unternahm seine kühnsten Flüge, weil er auf Erden nicht viel Platz hatte. … Es war leichter, Himmel zu stürmen und Götter zu stürzen als auch nur die soziale Wirklichkeit eines einzigen thüringischen Duodezstaats umzugestalten.“ Der Wegfall der Kleinstaaterei hat freilich nirgends automatisch größere Umgestaltungsspielwiesen geschaffen.

Carl von Ossietzky beendet seine Lobrede „Lesbare Literaturgeschichte“ mit einem Ausblick auf den Band II, der dann erst 1931 ebenfalls bei Bruno Cassirer erschien. „Der zweite Band wird bis zur Gegenwart führen. Man darf neugierig sein, wie sich Eloesser mit dieser Aufgabe abfinden wird. Denn die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts ist voll toter Strecken und alle bisherigen Darstellungen sind mit Namen belastet, die uns heute viel weniger bedeuten als etwa Heinse oder Wieland, von Lichtenberg ganz zu schweigen. Hier ist das Prinzip der Auswahl, das der Verfasser im ersten Band so konsequent durchgeführt hat, noch viel notwendiger.“ Besprochen hat Ossietzky den zweiten Band nicht mehr, was er davon wie zur Kenntnis genommen hat, ist deshalb schwerlich zu sagen. Eloesser schrieb in seinem Vorwort vom Juli 1929: „Die Hauptschwierigkeit jeder geschichtlichen Darstellung und besonders des Geisteslebens besteht darin, dass Gleichzeitiges, Ineinander-Wirkendes nur nacheinander berichtet werden kann. Dieses Problem, das ich wohl als ein künstlerisches bezeichnen darf, lag mir besonders am Herzen. Ob ich es mit Erfolg gelöst habe, muss ich dem Urteil überlassen, oder auch den Urteilen, die sich schon widersprechen werden.“

Die Rezeption der zweibändigen Literaturgeschichte in der zeitgenössischen Presse bis 1933 (und vielleicht auch noch danach) wäre ein eigenes Thema, dem hier nicht gefolgt werden kann und soll. Ernst Heilborn (10. Juni 1867 – 16. Mai 1942) hat sich mindestens zweimal geäußert, von Thomas Mann sind zwei separate Texte erschienen: „Die deutsche Literatur“ (zu Band 1) in „Neue Rundschau“, Heft 12 1929, und „Eloessers zweiter Band“ (zu Band 2) in „Neue Rundschau“, Heft 1 1933. „Eloessers zweiter Band“ hieß auch die Kritik, die Rudolf Arnheim (15. Juli 1904 – 9. Juni 2007) in der „Weltbühne“ am 1. Dezember 1931 erscheinen ließ. Carl von Ossietzky hat auch nicht mehr erkennbar darüber nachgedacht, ob seine Forderungen an eine Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts mangels Abstand 1929 nicht allzu vorausgreifend waren. Und aus heutiger Sicht ist zu bezweifeln, ob Heinse und Wieland, von Lichtenberg zu schweigen, tatsächlich irgend jemandem mehr bedeuten als vielleicht Otto Ludwig oder Willibald Alexis, Hebbel oder Friedrich Spielhagen. Auch scheint Ossietzky nicht frei von der durchaus unoriginellen Herabsetzung von allem, was nach Goethe folgte: Vom höchsten Gipfel aus erscheint alles kleiner, ist deshalb aber nicht klein.

Gab es für Ossietzky einen Eloesser auch, bevor er ihn verteidigen musste und loben wollte? 1921 schrieb er über den berühmt gewordenen „Reigen“-Prozess, aus dem Arthur Schnitzlers angebliches Skandal-Stück als Sieger hervorging. Arthur Eloesser gehörte dort neben Ludwig Fulda, Herbert Ihering, Felix Hollaener, Alfred Kerr, Max Osborn und Georg Witkowski zu den gehörten Sachverständigen, fand aber keine namentliche Erwähnung. 1925 äußerte sich Ossietzky zu einem Herrn Ossendowski, mit vollem Namen Ferdinand-Antoni Ossendowski, zu dem sich unter der Überschrift „Dschingis-Khan“ am 21. August 1924 auch Arthur Eloesser in der „Weltbühne“ auf dreieinhalb Druckseiten geäußert hatte, wieder aber fiel sein Name bei Ossietzky nicht. Wohl aber reagierte Kurt Tucholsky als Peter Panter mit einiger Verspätung am 13. Januar 1925 auf ihn: „Lieber Arthur Eloesser!“ schrieb er und urteilte noch härter über den Polen Ossendowski: „Und so scheint es mir denn nötig, lieber Arthur Eloesser, einen Anti-Ossendowski-Reichsbund zu gründen, als dessen zweiten Pressechef ich Sie hiermit zu begrüßen die Ehre habe. Der erste Vorsitzende: Peter Panter.“ Über „Müde Kämpfer“ schrieb Ossietzky im Oktober 1925. Es ging um Zensur.

Darin spielt er unter anderem auf Curt Corrinth an, den er einen „unpolitischen Dichter“ nennt. Bei Corrinth (20. Februar 1894 – 27. August 1960) nahm die Polizei am 2. Oktober 1925 in Löwenberg in Schlesien eine Hausdurchsuchung vor, vier Tage später konnte man im „Berliner Tageblatt“ unter der Überschrift „Polizeilicher Überfall auf einen Schriftsteller“ eine Stellungnahme von Arthur Eloesser namens des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller lesen. Auch hier fällt sein Name bei Ossietzky nicht, gehört aber in den Zusammenhang seines Artikels, in dem sich der sehr schöne Satz findet: „Wie so oft bei den deutschen Intellektuellen wird auch diesmal der Protest Inhalt und Ziel, Anfang und Ende des ganzen Unternehmens bleiben.“ Das meint nicht Eloesser, bezieht ihn vermutlich mit ein. Band VII der großen Oldenburger Ausgabe „Sämtliche Schriften“ von Carl von Ossietzky enthält schließlich das Lebensdokument Nummer D 209. Dort hackt am 23. März 1928 ein „Peter“ in der „Roten Fahne“ wild und böse gegen die „Weltbühne“. „Es wäre falsch, alle Mitarbeiter dieses Blattes über den gleichen Kamm zu scheren.“ Das hindert das KPD-Blatt nicht, es dennoch zu tun. Es nennt Eloesser nicht, wohl aber mit Hass und Verachtung Carl von Ossietzky.


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