Emanuel von Bodman 150

Selbst in den Kreis der vergessenen und unbekannten Autoren und Bücher des 20. Jahrhunderts, wie sie der in dieser Hinsicht verdienstvolle Thomas B. Schumann versammelte, er gilt als der größte private Sammler von Exilkultur, hat Emanuel von Bodman keinen Eingang gefunden. Sein Status heute ist der der Abwesenheit. Er fehlt in Lexika, er fehlt in Literaturgeschichten, er fehlt auch in Briefbänden, in denen er eigentlich vorkommen sollte. Im kurzen und auch in genau dieser Hinsicht aussagekräftigen Bodman-Artikel für das Killy-Literaturlexikon fehlt jeglicher Hinweis auf irgendeine Literatur zu Bodman. Autor Jürgen H. Koepp vermeldet lediglich die zehnbändige Gesamtausgabe, die der Stuttgarter Reclam-Verlag zwischen 1951 und 1960 veranstaltete. Als Herausgeber fungierte im Auftrag der Witwe Clara von Bodman der Bibliothekar Karl Preisendanz (22. Juli 1883 – 26. April 1968). Allein drei der zehn Bände präsentieren Dramen, zwei Novellen und Erzählungen, drei Gedichte. Einen Roman hat Emanuel von Bodman nie geschrieben, was auch anderen Autoren regelmäßig zum Nachteil gereichte, wie wertvoll ihr sonstiges Werk sein mochte.

Am 23. Januar 1874 in Friedrichshafen am deutschen Ufer des Bodensees geboren, am 21. Mai 1946 in Gottlieben auf Schweizer Seite verstorben, wo er die letzten 26 Jahre seines Lebens verbracht hatte, fällt die produktivste Phase seines Leben in die Jahre zwischen 1900 und 1920. Das wirft für mich die Frage auf, wie anregend das Haus, der Ort, die Umwelt für ihn gewesen sein kann, wenn quasi mit dem Einzug in das Haus am Markt von Gottlieben, das heute als Literaturhaus des Kantons Thurgau dient und die Gedenkstätte für den Namensgeber enthält, die Produktivität nahezu umgehend nachließ. Die frühen Jahre zeichnen sich dem Betrachter dadurch aus, dass von Bodman nach vier Büchern im Verlag von Albert Langen, München, nur noch zwei seiner weiteren Werke in einem Verlag erschienen, damit und danach war der Autor ein wahrer Verlagsvagabund. Von 1907 an sah er sich berufen, für die Bühne zu arbeiten, ausgerechnet Tragödien schienen ihm die passende Form für seinen dramatischen Ehrgeiz. Und er ist auch tatsächlich aufgeführt worden: in Zürich, in Karlsruhe, in Konstanz, St. Gallen, Cottbus und schließlich Freiburg im Breisgau.

Man muss kein ausgemachter Theaterexperte sein, um zu sehen: wirklich maßgebende Bühnen seiner Zeit waren es nicht, die ihm eine Chance gaben. Wie er aus dem süddeutschen, dem im weiten Sinn alemannischen Sprach- und Kulturraum ausgerechnet nach Cottbus gelangte, wäre der Nachfrage wert, mangels Material dazu aber kaum realisierbar. Julius Bab, als Autor der „Chronik des deutschen Theaters“ und als Kritiker im engeren Sinne nur bei denen beliebt, die er zu loben vermochte, nahm sich im Teil II, die Jahre von 1907 bis 1912 umfassend, den „Donatello“ vor. „Das Theater sollte als Tempel begriffen werden, und am Schicksal des einzelnen sollte sich das Allgemeine offenbaren.“ So formulierte es Jürgen H. Koepp und offenbarte damit indirekt schon ein Basisproblem. Tempel ist nicht Kirche, Tempel ist vorchristlich: ganz sicher der Andacht, der Anbetung gewidmet, der Einkehr, der Sammlung. Aus Tempeln werden, siehe die christliche Überlieferung, die Händler vertrieben. Wie auch immer von Bodman es sich dachte, ein aktuelles, gar ein modernes Verständnis von Theater lag ihm zweifelsfrei fern und so wohl in voller Absicht.

Bab überschrieb den Abschnitt, in dem er von Bodman behandelt, mit „Die Stufe der schlichten Talentlosigkeit“. Auch dieser Stufe ordnet er Autoren zu, die beachtenswert, die ernst zu nehmen seien. „Zu diesen zähle ich Emanuel von Bodman, der im letzten Jahr eine ganze Reihe von Dramen publiziert hat. Und Bodman ist zweifellos ein Dichter; er hat als Lyriker ein paar Lieder geschaffen, die zu meinem bleibenden Besitz an sprachlich gestaltetem Leben gehören, er findet Verse, die unser Gefühl über alles begrifflich Sagbare hinausführen.“ Damit aber ist alles Lobende bereits erschöpft. „Bodmans Sprachkunst, die ein kleines Stückchen Leben zuweilen herausholt, formt und hält wie ein schöner Goldreif, zerplatzt wie eine Seifenblase, wo sie weit genug werden soll, ein Menschenschicksal, eine ganze Welt zu umspannen.“ Bab beginnt beim gewählten Metrum. Der Dramatiker habe sich für den fünffüßigen Jambus entschieden, „den pathetisch schreitenden fünffüßigen Jambus. Und was er erhält, ist doch Prosa! Peinlich krasse, schwingungslose Prosa“. „Der natürliche Wortakzent widerstrebt dem Versakzent.“ Julius Babs Diagnose ist vernichtend.

„In Bodmans Dialogen aber lebt der jambische Fünffüßler zumeist in erbitterter Feindschaft mit dem inhaltlich erforderten Sinn der Rede … Bodman, der im lyrischen Gedicht oft wunderschön den Sinn der Worte in ihrem rhythmischen Klang zu fassen und zu erhöhen weiß, ist in seinem Dialog völlig unmusikalisch, schreibt eine alltagsgraue, fünffüßig stolpernde Prosa ... fühlt nicht, dass das schon im Metrum angedeutete und durch die stets geäußerten Hochgefühle seiner Personen ständig prätendierte Pathos seiner Handlung die sorglichste Auswahl der Sprachwendungen verlangt … Hinter diesem Grad sprachlicher Ohnmacht lauert die unfreiwillige Komik. Wo der Sprache des Dichters so ganz die Kraft fehlt, durch die redenden Personen eigene und starke Gefühle zu suggerieren, da müssen alle Gestalten im Banalen und Kleinlichen stecken bleiben“. Ganz ähnlich sieht es letztlich auch Hermann Hesse in einem Brief vom 9. Dezember 1919, gerichtet an den Mäzen Hans Conrad Bodmer, es ging dabei um eine finanzielle Zuwendung: „Eine Anzahl seiner Gedichte schätze ich hoch und liebe sie sehr. Anders steht es mit der dramatischen Begabung, in welcher Bodman seine Hauptbegabung sieht. An diese glaube ich nicht“.

Dass Hesse die Zuwendung befürwortete, sei nicht verschwiegen. Als Kronzeuge für ein wie auch immer näher bestimmtes Netzwerk namhafter Kollegen, die mit Emanuel von Bodman kollegial oder gar freundschaftlich verbunden waren, ist er wenig tauglich. Wohl hat er einmal in seiner eigenen Zeitschrift „März“ eine freundliche Annotation veröffentlicht, die wegen ihrer Kürze hier komplett stehen soll: „Die nachstehenden Gedichte sind alle aus Bodmans letztem und schönstem Gedichtbuch „Der Wandrer und der Weg“ genommen, das bei Julius Bard in Berlin erschienen ist. Zwei kleine Sammlungen hat früher der Verlag Albert Langen herausgegeben. Bodmans Gedichtbücher, namentlich aber den „Wandrer“, sollte man allerdings ganz lesen! Es stehen nicht nur schöne Gedichte darin, sondern es geht zwischen den einzelnen Gedichten ein verbindendes Gefühl und schwebt so stark und anhaltend durch das ganze feine Buch, dass kein anderes Gedichtbuch der letzten Jahre mir einen so reinen und innigen Eindruck gemacht hat.“ Hesse ließ dem diese sechs Gedichte folgen: Das Dorf; Reigen; Dein Mund; Gläser; Die helle Nacht; Liebe.

Der Brief an Hans Conrad Bodmer benennt auch einen ganz klaren Differenzpunkt, den er im Januar 1911, als die Lyrik-Empfehlung im Druck erschien, natürlich noch nicht kennen konnte. „Alles in allem also kann ich Bodman nur herzlich empfehlen, ich kenn ihn auch persönlich gut. Das einzige, was ich gegen ihn habe, ist seine nationalistische Stellung zum Kriege, er hat mir auch einmal geschrieben, dass er meinen Standpunkt streng verurteile. Ich meinerseits finde, dass alle diese Kriegsdichter der Aufgabe des Geistes nicht gerecht geworden sind.“ Schon bei seinem Freund Ludwig Finckh (21. März 1876 – 4. März 1964) war er nicht in der Lage, solche Sichten zu tolerieren. Dennoch sandte er der Witwe Clara von Bodman 1946 einen Kondolenz-Brief, von dem ich bis heute leider nur zwei völlig gleichlautende Auszüge kenne. „Seine zarte Gestalt, seinen langsam sich zu uns erhebenden, von innen zurückkehrenden Blick, seinen stilstolzen Kopf, sein liebenswertes Lächeln vergessen wir nicht, so wenig wie jene heiter strahlenden Bodenseezeiten vor dem Beginn des großen Elends, so wenig wie seine edlen Gedichte.“ Das sagt vielsagend wenig.

Lapidar zum Thema Jürgen H. Koepp: „Im Ersten Weltkrieg gab B. patriot. Soldatenlieder heraus. 1917 hielt er eine Erbauungsrede vor dt. Fronttruppen“. Die auch gedruckt mit dem Titel „Schicksal und Seele“ 1918 in Stuttgart erschien. „In ihr verband er spätantike Moralphilosophie und abstrakte Mystik zu einer Predigt von überkonfessioneller Religiosität.“ Das wird den Frontsoldaten nach drei Jahren Materialschlachten, nach Gaskrieg und Millionen Toten sicher sehr geholfen haben. Und für Hermann Hesse, der sich zeitgleich bemühte, Kriegsgefangene mit Literatur zu versorgen, auch Emanuel von Bodman hatte ihm eine Nachdruckerlaubnis erteilt, war es wohl eher ein Schlag ins Gesicht. Ob er den freundlichen Brief vom März 1913 auch 1919 noch an von Bodman gerichtet hätte, darf bezweifelt werden. Damals setzte Hesse ihm die Vor- und Nachteile einiger Verlage auseinander. Der Leipziger Verlag Staackmann veröffentlichte 1915 dann tatsächlich ein Buch mit dem Titel „Das hohe Seil“. Erst acht Jahre später und lange nach seinem Kriegsdienst von 1916 bis 1918 in Belgien und Stuttgart brachte der Konstanzer Verlag Oskar Wöhrle die ersten drei Bände der „Gesammelten Werke“, denen 1924 noch weitere zwei folgten.

Als die Stadt Zürich Emanuel von Bodman 1940 mit ihrem Literaturpreis auszeichnete, war also sehr lange schon kein neues Buch von ihm erschienen. Es ist sogar noch schlimmer, denn diese angebliche Preisverleihung kennt nur Wikipedia und nennt dafür keinerlei Quelle. Tatsächlich ist 1940 nicht nur kein Literaturpreis an Emanuel von Bodman verliehen worden. Es gab gar keinen Preis, für niemanden. Denn die Preisvergabe erfolgte nur aller drei Jahre, die Preisträger waren 1932 Carl Gustav Jung, 1935 Felix Moeschlin, 1938 Maria Waser und 1941 Hermann Hiltbrunner. Auf Robert Faesi 1945 folgte 1948 noch Traugott Vogel, da aber lebte Emanuel von Bodman schon nicht mehr. Von Robert Faesi gibt es dafür wenigstens eine Stimme zu ihm: „Aus der Rasse und Landschaft seiner Heimat zieht er mit starkem Sinn für Zugehörigkeit zur Tradition, für Treue und Ehrfurcht vor dem Dauernden seine beste Kraft. Das Alemannische ist für ihn verfeinert, sublimiert, es liegt viel weniger im Stofflichen als im Wesen seiner Dichtungen.“ Ich entnehme das Zitat der Ansprache zum Gedenken an den 100. Geburtstag 1974, die Dino Larese in Gottlieben hielt.

Larese (26. August 1914 – 18. Juni 2001) hielt seine freundliche Rede in Anwesenheit der schon hochbetagten Witwe Clara von Bodman (9. Januar 1890 – 31. Juli 1982). Niemand wird ihm verübeln, dass er von den beiden ersten Ehefrauen des Gewürdigten kein Wort sagte. Fünfzig Jahre später muss das nicht vorhandene Geheimnis auch nicht eigens gelüftet werden. Die erste Ehe begann 1897 mit Clara Czolbe und wurde nach fünf Jahren geschieden. Von 1902 bis 1909 war er mit Blanche de Fabrice verheiratet. Ihre Eltern lebten im Schloss Gottlieben. 1914 heiratete er Clara Herzog aus St. Gallen, mit der er 1920 das Haus bezog, in dem er später starb. Beide kauften das Haus 1928. Heute kann man dort sein Dichterzimmer sehen, seinen Schreibtisch besichtigen, auf dem zwischen 1930 und 1946 noch manches Werk entstand, das zu Lebzeiten aber nicht gedruckt wurde. Zehn Jahre vor Lareses Rede schrieb Otto Heuschele (8. Mai 1900 – 16. September 1996) ein Nachwort zu einer Bodman-Auswahl für die neue Folge der „Turmhahn-Bücherei“ (Nr. 4). Dort wagte er eine Prognose, die wohl eher Wunschdenken als echten Optimismus zur Grundlage hatte.

„Ohne Zweifel wird eine Zeit kommen, die erkennt, was uns Dichter wie Paul Ernst, Wilhelm Schmidtbonn, Wilhelm von Scholz und andere gegeben haben. In diesem Zusammenhang wir dann auch das Werk Emanuel von Bodmans nach Gebühr erkannt, gedeutet und geschätzt werden.“ Diese Zeit ist bis heute nicht gekommen, es gibt auch keinerlei Anzeichen, dass sie nun plötzlich und unerwartet hereinbrechen könnte. Es sind einfach keine Namen, die einer Roman- wie Avantgarde-fixierten Literaturgeschichtsschreibung neues Interesse abnötigen könnten. Die antinaturalistische Literatur der Neostile ist nie über Gebühr betrachtet worden, zumal die Ismen sich in den wenigen Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende jagten wie die Hasen zwischen den Igeln am Furchenende. Heuschele: „Das, was man großen äußeren Erfolg, was man Ruhm nennt, wurde Emanuel von Bodman nie zuteil … Seine Wirkung kam aus der Stille und ging in die Stille.“ Doch gerade Theaterstücken, die die Bühne brauchen, ist mit Stille wenig gewonnen. Der Theaterskandal half in der Geschichte keineswegs nur Blendern, sehr wohl aber oft absichtsvollen Provokateuren.

„Zwischen Neuklassik und Neuromantik stehend, versuchte er, die tragischen Verkettungen, die das Schicksal der Menschen bestimmen, darzustellen und ins Allgemeingültige zu erheben.“ Man muss gar nicht erst die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen verstehen, um zu erkennen, wie wenig erfolgversprechend von solchen gedanklichen Voraussetzungen her ein Weg zu Werken zu beschreiten ist, die mit wirklichem Leben auch nur annähernd etwas zu tun haben. Das gar nicht zu wollen, sollte man von Bodman zugestehen. Am deutlichsten ablesbar war mir das in jener kleinen Geschichte, die den 1964er Band beschließt. Sie heißt „Der Pfarrer von Bernrain“. Sie widerlegt ganz nebenbei auch Bodmans eigene Sentenz aus dem Tagebuch, die da wenig originell lautet: „Die Heimat des Künstlers ist sein Werk.“ Wäre es so, hätte der Künstler nicht wieder und wieder Schauplätze erstehen lassen, die nicht nur der näheren, sondern gar der allernächsten Umgebung entstammen. Bernrain ist ein Quartier von Kreuzlingen, in Kreuzlingen lebte Bodman nach dem Umzug aus Friedrichshafen, von Kreuzlingen aus besuchte er die höhere Schule in Konstanz.

Die Geschichte des Pfarrers liest sich durchaus angenehm und flüssig, was ich (für mich) von allen Geschichten behaupten kann, die ich jetzt neu oder nach Jahren wieder las. Aber: „Der Pfarrer von Bernrain“ könnte vermutlich in einem Band von Renaissance-Novellen stehen und würde dort nicht als Fremdkörper wirken. Ganz abgesehen vom behaupteten, nicht erzählten inneren Konflikt des Pfarrers, der lügen musste, um eine Gefahr abzuwenden: Was bringt einen Autor am Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Idee, Derartiges könne einer nennenswerten Zahl von Lesern interessant sein? 1981 las erstmals „Der Metzger von Straßburg“, den ich sicher nie kennengelernt hätte, hätte ich nicht jene preiswerten Bändchen des Aufbau-Verlages gesammelt, die „bb-Bücher“ hießen. Ich war angetan, wie ich meinen alten Notizen entnehmen darf, und jetzt keineswegs enttäuscht von der erneuten Lektüre. Für das Finale der Geschichte ist sogar eine Zeit angegeben: 1899. Der Metzger, den seine Frau mit einem Gefreiten betrog, bringt weder seine Frau noch den Gefreiten um, sondern andere Soldaten, die jenen Uniformknopf tragen, der der Frau (angeblich) den Kopf verdrehte.

Emanuel von Bodman erzählt das ganz einfach, er gibt keine tiefenpsychologischen Deutungen, er verschweigt auch, ob, und wenn ja, welche Wirkungen der Fall in und um Straßburg hatte. Auffällig: derjenige, der schließlich die rätselhaften Morde klärt, ist ein Schwabe. „Das hohe Seil“, das, wie erwähnt, dem Buch von 1915 den Titel lieh, las ich 2002. 1907 bereits entstanden, erzählt der Autor von einem Artisten mit dem seltsamen Namen Miljeppa. Wirklich heißt er Brändle und stammt aus Radolfzell und wieder sind wir am Bodensee. Mit wechselndem Erfolg ziehen er und die Truppe durch Deutschland und Europa, am Ende gehen sie von Frankfurt am Main aus in seine alte Heimat, wo er seinen Landsleuten zeigen will, wohin er es gebracht hat. Zwischen zwei Frauen, etwas verkürzt gesagt, verliert er die lebenswichtige Konzentration und stürzt vom Hochseil in den Tod. Der als Erzähler fungierende Clown der Artistentruppe sagt von der treuen Ehefrau: „Blickte sie da nicht zu ihm empor, stolz, einen solchen Mann zu besitzen, der allnächtlich um einen Augenblick der Freiheit und um einen Zinnteller voll Nickel sein liebes Leben aufs Spiel setzte?“

Empfindet der ungesicherte Artist auf dem Hochseil tatsächlich ein Freiheitsgefühl? Projiziert nicht eher der Künstler Emanuel von Bodman eigene Phantasien in ihn? Otto Heuschele zitiert ihn mit diesen Sätzen: „Ich gehöre in vergeistigtem Sinn eigentlich zu den Seiltänzern, Zirkusreitern, die ihr Leben fortwährend aufs Spiel setzen. Wenn ich nur Zirkusmusik höre, bin ich in meinem Element.“ Und ergänzt aus eigenem Wissen: „... eine höchst wundersame Fügung brachte es mit sich, dass sein letzter Ausflug in die Welt der Besuch einer Vorstellung des Zirkus Knie in Kreuzlingen Anfang Mai 1946 war.“ Wozu wieder die Erzählung „Gefährlicher Tanz“ sehr gut passt, in der der Seiltänzer Franz Knie aus der berühmten Knie-Dynastie zu Tode kommt, weil er sich von einem ihn und sein Leben still beneidenden Mitschüler verunsichern lässt. Der Mitschüler Wenk zeigt ihm sein Spiegelbild, während er die Donau auf dem Seil überquert. Er stürzt ins Wasser: unglücklich auf einen Stein. Im Milieu handelt auch die Geschichte „Der Riese Lukas“, die ganz traditionell das Leben des Preisringers Lukas erzählt, den Ehrlichkeit am Ende den auskömmlichen Job kostet.

Denn Ringkampf ist ihm immer damit verbunden gewesen, auch einmal nach Vor-Absprache zu verlieren. Als er dies öffentlich macht, lernt er das kennen, was man heute die Wettmafia nennen könnte, es gibt ein Kartell der Veranstalter, die ihm nie wieder eine Arbeit geben. Lukas stirbt an einem Schlaganfall nach ungesundem Leben und ohne abtrainiert zu haben, wir wir heute sagen müssten. Der Sargtischler hat an dem Riesen so viel Freude, dass er lachen muss! „Ich will mein heftiges und leicht umschlagendes Temperament, an dem ich selber am meisten leide, tragen, wenn aus dem Versuch, diese Disharmonien zu harmonisieren, ewige Werte herausquellen.“ Als Zitat aus dem Tagebuch liest sich das wie ein heftiger Fall von Selbstüberhebung. Es würde direkt in den Selbstmord führen für jeden Fall, in dem die ewigen Werte nicht quellen, was so Emanuel von Bodman natürlich nicht gemeint hat. „Der Dichter muss an der Entwicklung der Kultur regsten Anteil nehmen. Im Augenblick des Schaffens aber steht er über allen Entwicklungen. Zeitlos ist er der Zentralkraft nahe, ihr Künder und Deuter.“ Viel mehr Selbstbewusstsein ist kaum denkbar.

Mit Zentralkraftkündern wollen Leser selten gern zu tun haben. Emanuel von Bodman hat es selbst im „Pfarrer von Bernrain“ dargestellt: der Erfolg kam erst nach dem Lügen. Auch die Sergeantin, eine niedere Charge in der Heilsarmee, von der die gleichnamige Novelle erzählt, ist eine Künderin. Was ihr widerfährt, ist zwar bezeichnend, weil es Verhältnisse beschreibt, letztlich aber lässt von Bodman wie in einer uralten Komödie, in der sich am Ende immer mindestens zwei Paare kriegen, ein Happy End zu. Damit der uneheliche Sohn später auch den „Kriegsruf“ verteilen kann wie seine verwachsene Mutter, die, um einmal im Leben die physische Liebe zu genießen, sich mit einem wildfremden jungen Mann in Schaffhausen einlässt, worauf sie prompt schwanger wird. Erst von dieser Betty Kümmerle her verstehe ich, was der so harmlose Satz über die Tochter des Müllers in „Die weiße Mühle“ besagen will: sie sei geradgewachsen. Nur so hat sie eben eine reale Chance auf dem Heiratsmarkt für Töchter von Vätern ohne Stammhalter, die aber dennoch eine Firma vererben wollen. Diese Tochter Frieda entscheidet sich bewusst gegen den dritten Sohn des Weinhändlers.

Dabei kann sich diese Entscheidung darauf stützen, dass es eine echte Alternative gibt. Der in der Mühle arbeitende Mahlbursche ist es, auf den der hochmütige Sohn aus der Nachbargemeinde herabblickt. Und eben selbst der Sohn eines Müllers ist. Es ist wie mit jenen Aschenputteln der Märchen, die unter ihren Mäusefellen Königstöchter sind. Am Ende stellt sich die weiße Mühle nicht nur der Konkurrenz der Stadtmühle, die bislang mit weißerem, feineren und sogar billigerem Mehl aufwarten konnte. Den wirklichen Gang wirtschaftlicher Entwicklungen stellt von Bodman damit zwar glatt auf den Kopf, aber er befolgt immerhin seine eigene Maxime auf eigene Weise: „Diskret sein in der Darstellung mancher Zustände wirkt oft mehr als ihre Beschreibung oder unverhüllte Wiedergabe.“ Auch eine andere solche Maxime sei zitiert, die eigenartige Weltsicht ihres Schöpfers zu demonstrieren: „Das Wort ist ein Mittel, um etwas Unsagbares, das hinter ihm liegt, anzudeuten. Solang der Dichter das nicht erfasst hat, gibt er nur Wortkunst, nicht Zeichensprache.“ - „Dichter sind schonungsbedürftig – ihre Mutter heißt Leid.“ Das sagt er auch.

Otto Heuschele baute 1964 darauf, dass auch Liebhaber und Freunde eines Dichters sich der Aufgabe stellen könnten, ein Werk und ihren Schöpfer im Bewusstsein der Menschen zu halten. Man müsste das „der“ durch „einiger“ ersetzen, dann bliebe immer noch eine große Aufgabe. Es war wiederum Hermann Hesse, der 1949, drei Jahre nach dem Tod von Emanuel von Bodman, die Erinnerung „Schulkamerad Martin“ zu Papier brachte, darin sich der Kamerad anlässlich Hesses 50. Geburtstag brieflich erinnert: „Andern Tags haben wir dann die ganze Künstlerkolonie dort am See entlang abbesucht: E. v. Bodman, W. v. Scholz, auch bei einem Maler haben wir hereingeguckt.“ Hesse kommentiert: „Ja, wie nun dies? Einen ganzen Tag bin ich also mit meinem Gast bei Bekannten und Freunden in jener Gegend herumgefahren, ohne mehr etwas davon zu wissen. Ich bin bereit, zu seinem Gedächtnis mehr Vertrauen zu haben, als zu meinem, ihm war dies alles ja neu, was mir gewohnt war, und bei E.v. Bodman bin ich damals in der Tat einigemal zu kurzem Besuch gewesen, nicht aber bei W. v. Scholz“. Wir dürfen uns entscheiden, wem wir eher glauben.

Wer nüchtern genug ist, Wahrscheinlichkeiten zu prüfen, mag auf der Bodenseekarte nachschauen: von Gaienhofen aus, wo Hesse damals lebte, musste der See mindestens zweimal überquert werden: auf dem Hinweg, auf dem Rückweg. Jeder Besuch war sicher mehr als ein kurzes Händeschütteln am Gartentor und selbst von Steckborn auf der Schweizer Seite braucht es, wenn man (noch) nicht den gelben Schweizer Postbus benutzen kann, ein gediegenes Weilchen bis Tägerwilen und dann Kreuzlingen. Womit ich nur sagen will: ich vertraue Hesse eher als dem Kameraden Martin. Auch Fritz Böttger, Verfasser einer recht umfangreichen Hesse-Biographie für DDR-Leser, ging mit den Nachbarschaften am Bodensee recht großzügig um: Er ließ Hesse aus Gaienhofen nach Gottlieben reisen, als Hesse schon nicht mehr in Gaienhofen und Bodman noch nicht in Gottlieben wohnte. Müsste ich mich vorsorgend untersuchen lassen, weil mir dergleichen auffällt, anderen aber selten bis nie? Ich gebe Dino Larese das letzte Wort: „Die Erinnerung an Emanuel von Bodman verklärt die Landschaft von Gottlieben und hebt sie ins Besondere, ins Seltene.“ Das unterschreibe ich.


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