Gotthold Gloger 100

Um einen Gegensatz zu konstruieren, der einer ist: Wenn Uwe Berger über diesen oder jene schreibt, dann fühlt man sich in ein sehr mittelmäßiges Nachschlagewerk, wahlweise auch in ein Lehrheft für Kreisparteischulen der SED versetzt. Wenn Peter Hacks über Gotthold Gloger schreibt, dann hat man, ich jedenfalls, das Gefühl, diesen Gloger unbedingt kennen lernen zu müssen. Wobei mir natürlich, berufskrank, wie ich bin, sofort auffällt, dass Peter Hacks kein Wort über das verliert, was Gloger gemalt oder geschrieben hat. Berger und Hacks waren des Jahrgangs 1928, Gloger vier Jahre älter. Hacks ist aus dem Westen in die DDR gekommen, Gloger auch. Von wo Berger kam, wohin er ging und was er trieb, ist zwar bekannt, aber kaum von Interesse, weil er, siehe oben, ein Mensch war, den man, ich jedenfalls, froh sein darf, nicht kennen gelernt zu haben. Ich bin in Gehren aufgewachsen, das immer als Gehren/Thür. firmierte. Goethe war mal da und, wie ich weiß inzwischen, dieser und jene andere auch. An den beiden Häusern, in denen ich von 1953 bis 1979 lebte (und schuf!), wird aller Wahrscheinlichkeit nach nie eine Tafel angebracht werden, die auf mein früheres Dortsein verweist. In Gehren jedenfalls stand aus dem Jahr meiner Geburt ein Buch mit dem sehr seltsamen Titel „Philomela Kleespieß trug die Fahne“, leidlich dick. Ich las es nie.

Später zog ich von Gehren, Meldeadresse, tatsächlich aber von Pennewitz, nach Ilmenau um. Und sehr viel später erfuhr ich, dass Gotthold Gloger zusammen mit Bodo Uhse auch in Ilmenau war, nähere Umstände kenne ich nicht. Uhse starb, als ich mein 11. Lebensjahr zu leben beschäftigt war: ich las viel, schrieb nichts, jedenfalls nichts, was Literatur betraf oder gar sein wollte. Das kam später, aber nicht zu spät. Gotthold Gloger also gehörte mit dem Roman über die Frau mit der Fahne zum umfangreichen Buchbestand meiner Eltern. Als ich deren Nachlass aufzulösen hatte, waren hinzugekommen: „Der Mann mit dem Goldhelm“ (1972), „Ritter, Tod und Teufel“ (1976) und „Meine Feder für den König“ (1985). Wo „Der Mann mit dem Goldhelm“ stand im Wohnzimmer, weiß ich noch genau: links neben dem Fernseher in der unteren Reihe, wo die anderen, müsste ich lügen. In Gehren hätte ich bis 1975 jeden Wechsel in den Regalen bemerkt, nach dem Umzug meiner Eltern aus der Talstraße in die Obere Marktstraße verlor ich den Überblick. Die „Philomela“ jedenfalls stand in der alten Wohnung hinter Glas. Also Peter Hacks: „Gotthold Gloger ist ein physikalisches Ereignis. … Wenn ich gemeinsam mit Gotthold Gloger über Land gehe, erzählen die Leute nachher: da waren zwei Männer hier, ein großer und ein kleiner. Der kleine bin dann ich.“

Hacks verrät aber nicht nur nichts über die Bücher Glogers, er verrät auch nicht, wann er ihn kennen lernte und wo, wo er mit ihm über Land ging und warum. „Er ist heil wie ein Symbol, und dieses Symbol hat eine große und schöne Frau und ein (großes und schönes) Kind.“ Die große und schöne Frau war vermutlich nicht mehr die Schauspielerin Christine Gloger (25. Februar 1934 – 19. Februar 2019), denn diese Ehe währte nur vier Jahr von 1956 bis 1960. War aber, und das ist von Belang, mit der Lebensstation Meiningen verbunden, denn am dortigen Theater war die Gloger engagiert, ehe sie zum Berliner Ensemble wechselte, wo sie lange und sehr erfolgreich blieb. Die buchförmige Spur der Meininger Zeit hat den Titel „Meininger Miniaturen“, erschien im Berliner Eulenspiegel Verlag 1965 mit Illustrationen von Albrecht von Bodecker. Aus diesem 150-Seiten-Büchlein fand „Ein Afrikaner in Meiningen“ 1969 in die Leipziger Reclam-Anthologie „DDR-Reportagen“ (RUB 481). Ansonsten ist Gloger, warum auch immer, anders als viele seiner Kollegen nicht Dauergast in Anthologien gewesen. Ebenso fehlt er in Kritikensammlungen, in der NDL, er fand also eher die Aufmerksamkeit der Leserschaft als die der berufsmäßigen Literaturbeobachter. Einschlossen dabei auch das Ministerium für Staatssicherheit, das sich nicht herausgefordert fühlte.

„Ein Afrikaner in Meiningen“ hat das Irritierende, dass der Reporter nicht nur den Namen des Fußballers kennt, sondern auch den des Mädchens, das ein Kind des Krieges sein soll, Vater ein amerikanischer Soldat. Nun waren die Amerikaner 1945 eher in Thüringen als die Rote Armee, zogen aber Anfang Juli wieder ab, weil Thüringen zur sowjetischen Besatzungszone gehörte. Das Mädchen Rowena, 15 Jahre alt, zeugt davon, dass sich das Geschehen 1960 ereignet. Das Spiel der damit auf alle Fälle sehr jungen Nationalmannschaft Guineas gegen Turbine Erfurt in Schmalkalden dürfte irgendwo fußballaktenkundig sein. Entscheidend aber ist die Aussage des Mädchens, sie habe als „Mischling“ nichts auszustehen unter den Weißen, was der Dolmetscher mit der Aussage ergänzt: „In der DDR gibt es keine Rassenhetze.“ Den Ort des Geschehens kann heute noch jeder Besucher Meiningens betrachten, das Hotel „Sächsischer Hof“ steht, wo es stand, es beherbergte unter anderem auch mich relativ regelmäßig, wenn ich an den Treffen des Schriftstellerverbandes Suhl in Meiningen teilnahm. Gotthold Gloger war da längst weggezogen aus Thüringen. „Sein herrlicher Brustkorb könnte in Klingenthal gebaut sein“, schrieb Peter Hacks, voraussetzend, dass seine Leser damit Musikinstrumentenbau assoziieren und die richtigen Instrumente im Kopf haben.

Wer am 17. Juni Geburtstag hat, selbst wenn es diesmal der 100. ist, der hat immer den 17. Juni im Nacken. Am 17. Juni 1953 vollendete Gotthold Gloger sein 29. Lebensjahr, er war noch Bürger der Bundesrepublik Deutschland, die seinem ersten Roman wenig freundlich gesonnen war, man mag es heute gar nicht glauben. Jedenfalls berichtete Hans Henny Jahnn (17. Dezember 1894 – 29. November 1959) von Beschlagnahmen des Buches „Philomela Kleespieß trug die Fahne“ dort und von einer Anklage. Bei Peter Hacks lesen wir: „Das Singen lernte er im Kirchenchor zu Büdingen. Nolde brachte ihm die Aquarellmalerei bei, Hans Henny Jahnn das hormonelle Düngen von Tomaten, Lewin das Bestimmen von Bronzegeräten oder alter Keramik.“ Es könnte Leo Lewin gemeint sein, Emil Nolde ist gemeint. Für alle, die sich wundern, dass Hacks, der arge Schelm, den Orgelbauer, Kleistpreisträger, Expressionisten, Pferdezüchter und Atomwaffengegner Jahnn ausgerechnet als Tomatenzuchtexperten vorstellt, sei gesagt: so war er eben, er fand es nach 1990 nicht einmal seltsam, sich einen bekennenden Stalinisten zu nennen. Was Gotthold Gloger wohl nie getan hätte. Von dem Hacks schrieb: „Die moderne Literatur zum Beispiel hat ihn nie behelligt.“ Und beispielgebend die Namen von Samuel Beckett, Frank Kafka und Jean-Paul Sartre bereithielt.

In einem 1984 anlässlich des 80. Geburtstages von Bodo Uhse gedruckten Almanach des Aufbau-Verlages, Herausgeber war Günter Caspar, dessen 100. Geburtstag auch noch ins laufende Jahr 2024 fällt, auf den 6. August nämlich, ist Gotthold Gloger zweifach vertreten. „Kanne und Glas“, vier Druckseiten knapp, ist mit „Bauerbach, August 1963“ datiert, damit durch den Tod Uhses am 2. Juli 1963 angeregt. Das wirkt etwas angestrengt, grenzt in der Art, sich selbst zu verkleinern, um den anderen größer erscheinen zu lassen, ein wenig an falsche Koketterie. Immerhin, Gloger überliefert diesen Uhse-Rat: „Denke daran, dass gute Gedanken langlebig sind.“ Der zweite Beitrag im Band heißt „Auf dem Ellenbogen“, datiert mit „Kraatz. November 1981“. Dort erfahren wir: „Meine erste Reise aus dem Westen in die DDR führte mich im Frühjahr 1951 nach Bad Saarow zu einem Schriftstellertreffen.“ Aus Bodo Uhses leider DDR-üblich an sehr vielen interessanten Stellen gekürzten Tagebüchern kennen wir auch den genaueren Zeitpunkt: 19./20. April, allerdings 1952. Namen der Teilnehmer finden sich nur bei Gloger, nicht bei Uhse. „Wenn ich verreise, an die See fahre oder nach Thüringen, Bodo treffe ich überall, in Ilmenau, in Meiningen oder in der Rhön wo wir wanderten.“ Der Ellenbogen ist ein Berg von 813 Metern Höhe, verteilt über drei Bundesländer.

Als er zuerst auf Bodo Uhse traf, war er, anders als Peter Hacks (für offenbar später) behauptet, durchaus bei Franz Kafka, James Joyce und eben Hans Henny Jahnn: „Ich wehrte mich gegen Tendenziöses, denn die Kunst war für mich etwas, was dem „Politischen grad gegenüberstand, und keines der beiden hatte etwas miteinander tu tun.“ Gloger erinnert sich an ein Bankett in Meiningen für „Aktivisten der ersten Stunde“ im Jahr 1957, an das höchste Dorf der DDR, Frankenheim, an den Blick vom Berg nach Hessen und Bayern. Und wieder das Pröbchen Selbstverkleinerung: „Richtig lernen werde ich es wahrscheinlich nie; aber wenigstens bekam ich einen Begriff davon, wie schwer Schreiben eigentlich ist, welche Kraft dazu gehört, einfache Sätze aneinanderzureihen“. Zwei Jahre zuvor lieferte Gloger für eine Umfrage der NDL, sein Beitrag war der kürzeste von insgesamt fünfen, diese Antwort: „Warum ich historische Romane schreibe? Auf keinen Fall, weil ich in der Vergangenheit untertauchen möchte, denn ich schreibe von heute aus für meine Leser von hier. Ich würde auch mein Schreiben treffender als vergleichende Standortung bezeichnen wollen, der ausgestattet ist mit ein paar historischen Fakten.“ Und weiter: „Meine Vorliebe für die bildende Kunst, welche ich ja auch ausübe, drängt mich zu den bildenden Gestaltern vergangener Zeiten.“

Die Doppelbegabung reichte Herausgeber Joachim Walther 1978 jedenfalls nicht, Gotthold Gloger einen Platz in seiner Anthologie „Mir scheint, der Kerl lasiert. Dichter über Maler“ einzuräumen. Hineingepasst hätte er bestens und ihm wäre wohl auch etwas eingefallen, wenn er nichts Passendes in der Schublade gefunden hätte. Das Lexikon „Schriftsteller der DDR“ bescheinigt ihm „ein reiches Fabuliervermögen und eine unterhaltsame Erzählweise“. Dass er Drehbücher schrieb, allein oder als Ko-Autor, ist überliefert, dass er auch vor der Kamera stand: als Darsteller, wohl weniger. Wenn es auch keine tragenden Rollen waren: er spielte in „Addio, piccola mia“ und zuvor schon in „Leben mit Uwe“, Regie jeweils Lothar Warnecke. Über „Leben mit Uwe“ wollte „Die Eule im Kino“, also Renate Holland-Moritz, seinerzeit nicht in Bravorufe ausbrechen, den Büchner-Film hat sie gleich ganz ausgelassen, jedenfalls aus der Sammlung ihrer Filmkritiken. Uhses Tagebuch vom 30. März 1956 hält fest: „Die Schüler des Literatur-Instituts fehlten. Gotthold führte mich nachher in die Kneipe, in der sie Skat spielten.“ Klar, wer Gotthold war. Warum ich über ihn schreibe? Auf keinen Fall, weil ich in der DDR-Vergangenheit untertauchen möchte, denn ich schreibe von heute aus für meine Leser hier. Wer dieses Ende eine gestohlene Pointe nennt, hat natürlich völlig recht.


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