Manfred Bieler 90
Das ist der Lauf der Dinge: zehn Jahre, nachdem einer 80 geworden ist, wird er 90. Und wenn er Glück hat, erlebt er beide Jubeltage bei leidlicher Gesundheit, er kann vielleicht noch mit einem kleinen Eierlikörchen anstoßen oder für eine kleine Dankesrede an die zahlreichen Gäste aufrecht neben seinem Rollator stehen. Manfred Bieler hat nicht einmal seinen 70. Geburtstag mehr erlebt, er starb am 23. April 2002 in München. Mein Tagebuch meldet weder von jenem Mittwoch noch vom Folgetag Bezügliches, was mich nicht wundert: ich lebte voll in meinem Redaktionsalltag mit den üblichen überraschenden Krankmeldungen, mit Sitzungsausfall und Zusatzseite, Kreistag und der Pflicht zum Aufmacher auf der lokalen Seite 1. Bieler hat sich im Lauf der Jahre zum großen Sohn der Stadt Zerbst gemausert, wo er am 3. Juli 1934 geboren wurde. In „Still wie die Nacht. Memoiren eines Kindes“, 1989 bei Hoffmann und Campe in Hamburg, später als Taschenbuch in München gedruckt, lässt er einen Siebenjährigen von sich erzählen. „Bielers „Memoiren eines Kindes“ sind ein Monolog von 382 Seiten, niedergeschrieben von einem Schriftsteller Anfang Fünfzig, der sich gelegentlich aus dem Rauch von dreißig Zigaretten pro Tag zu Wort meldet.“ So der Kritiker Gerhard Schulz am 10. Oktober 1989 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Der Knabe erzählt von Mutter, Vater, Großmutter, Schulz nennt sie „das unerqickliche Personal der Memoiren“. Es kann sich jeder einen Reim darauf machen. Schulz vermutet kurz auch den Parodisten Bieler hinter allem, neigt dann aber doch zur Einsicht, Bieler meine es vollkommen ernst. Der Parodist Bieler veröffentlichte 1958 im Eulenspiegel Verlag Berlin ein rundum höchst erstaunliches dünnes Buch mit dem Titel „Der Schuß auf die Kanzel oder Eigentum ist Diebstahl“. Das konnte man drehen und wenden und es hatte Vortext, der mangels Klappe den Klappentext vollkommen ersetzte. Dort hieß es: „Aus der Art der Parodie kann der Leser einen Schluß auf die Haltung des Parodisten gegenüber dem Schriftsteller ziehen. Diese Haltung wird allemal kritisch sein, nicht als strenge wissenschaftliche, sondern als heitere oder bissige, freundliche oder vernichtende, spielend lehrende Kritik. Was dem Dichter angenehm ist, ist dem Dilettanten ein Greuel, denn Parodie setzt Kunst voraus. Fehlt diese im literarischen Vorbild, so bleibt der Parodie nur der harmlose Spott. Wird die Kunst für kunstfeindliche Absichten missbraucht, so ist die Parodie aggressiv und beweist ihre kunstfreundlichen Absichten.“ Derart vorgewärmt kann der Leser erst einmal staunen, welch in verschiedenen Hinsichten illustre „Opfer“ sich Bieler griff.
In acht Abschnitten sind es 35 Namen, in jeder Hinsicht gesamtdeutsch, wie das wenige Jahre später kaum noch denkbar gewesen wäre, darunter immerhin zwei Frauen. Die sollen ausgleichend zuerst genannt sein: Hedda Zinner und Ingeborg Bachmann. Und es wäre eine nicht ganz humorfreie Untersuchung wert, ob irgendwo in den Wäldern, Feldern und Steppen gesamtdeutscher Literatur-Betrachtung noch einmal diese beiden Namen zugleich genannt sind. Immerhin: Hedda Zinner kommt vor Ingeborg Bachmann. „Die vertauschten Stoffe“ heißt der Abschnitt mit Zinner, „Wenn der Hund mit der Wurst übern Eckstein springt“ der mit Bachmann. Zinner nur mit Peter Hacks unterm Dach, Bachmann mit Gottfried Benn, Helmut Heissenbüttel, Walter Höllerer und Paul Celan. Die nicht ganz humorfreie Untersuchung könnte auch der Frage gelten, ob irgendwann und irgendwo jemals Ernst Jünger gemeinsam mit Kuba ein zweiseitiges Inhaltsverzeichnis zierte. Das vollbringt Manfred Bieler, der beispielsweise Stephan Hermlin eine „Ballade vom Melken der Kühe“ zuordnet und Franz Fühmann ein Gedicht „Rumpelstilzchen“. Fühmann hat sich spät mit einem Hörspiel „Rumpelstilzchen“ gerächt, Ursendung am 4. Juli 1987, da er selbst schon drei Jahre tot war. Auch Johannes R. Becher ist der „Schönheit des Melkens“ verfallen: in einem Sonett.
Als Bieler 1968 nach München übersiedelte, war er tschechischer Staatsbürger, Mitglied des tschechischen Schriftstellerverbands sogar, mit einer Tschechin seit 1965 verheiratet, was ehrbare Verlage wie Reclam Stuttgart über längere Zeit nicht davon abhielt, ihn in ihren knappen Notizen zur Biographie als aus der DDR kommend zu bezeichnen, was eben allenfalls mittelbar stimmte. Der Norddeutsche Rundfunk Hamburg sendete am 24. September 1968 das Hörspiel „Vater und Lehrer“, eine gleichnamige Erzählung von knapp zehn Druckseiten Länge findet sich auch in dem Band „Der junge Roth“, dessen elf Erzählungen wiederum komplett nachgedruckt sind in dem Band „Naida. Gesammelte Erzählungen“ aus dem Jahr 1991, der offenbar letzten Buchveröffentlichung Bielers. Ob er nun 20 oder 30 Hörspiele schrieb in seinem Leben, wie geschrieben steht, obwohl nirgends die zwanzig oder gar dreißig Titel genannt werden (mit einem Dutzend Titeln darf man zufrieden sein), ist letztlich zweitrangig. Seine „Nachtwache“ nahm ich vor zehn Jahren zum Anlass für meine Äußerungen zum 80. Geburtstag, jetzt las ich außer „Vater und Lehrer“ neu auch noch „Der Hausaufsatz“, Erstsendung im Saarländischen Rundfunk am 8. März 1972. Da hatte ich meinen 19. Geburtstag, mit Urlaubssperre in NVA-Grau, gerade eine Woche hinter mir: ohne Radio.
Wahrscheinlich wäre ich, hätte ich „Vater und Lehrer“ zur passenden Zeit gehört, also vielleicht in den Jahren 1975 bis 1980, als mir die kruden Seminare zu Geschichte der KPdSU während meines Philosophie-Studiums zu Berlin die Langlebigkeit der stalinistischen Denkungsart vorführten, dass es keiner alternativen Fakten bedurfte, in stille Begeisterung verfallen. Dieser mildzynischbrutale Landesvater ohne überdeutlichen Parteihintergrund, der sich im Gefängnis politische Gefangene vorführen lässt, erinnert natürlich an die Herren Stalin, Mao und Kim, die sich zu Lebzeiten just so oder ähnlich anreden und andichten ließen, noch die besseren Exponenten der DDR-Literatur etwa dichteten 1949 Hymnisches, dass sich die Balken bogen. Werner Klippert, der, wenn Wikipedia nicht lügt, am 22. April seinen 101. Geburtstag feiern durfte, schrieb im Nachwort: „Bielers Hörspiel „Vater und Lehrer“ ist eine Satire, die böseste vermutlich, die in jüngster Zeit auf den Stalinismus geschrieben wurde. Sie trifft aber als Modell totalitärer Gewalt grundsätzlich jedes derartige System, ganz gleich, welcher Farbe und an welchem geographischen Ort.“ Wobei daran zu erinnern wäre, dass Marcel Reich-Ranicki den satirischen Roman „Bonifaz oder Der Matrose in der Flasche“ auch deshalb wenig erbaulich fand, weil er sich westdeutsche Verhältnisse vornahm.
Klippert fand übrigens damals die Erfindung sinnreich, dass Vater und Lehrer durch einen Spiegel hindurch seine Opfer sehen konnte, sie ihn aber nicht. Das kennt man inzwischen aus zirka zweitausendvierhunderteinunddreißig Krimis. Schwer vorstellbar, dass das zu Manfred Bielers Zeiten noch etwas Stalinistisches gewesen sein könnte. „Im Roman“, so Klippert, der seinerseits 1977 mit dem Büchlein „Elemente des Hörspiels“ in die Literatur grätschte, „der im allgemeinen die Menschen in all ihrer Relativität die Welt bestehen lässt, kann die Erbitterung, die sich in einem Schriftsteller angesammelt hat, nicht unmittelbar Form werden lassen. … Das völlig auf den Kopf gestellte Bild des Menschen und seines Staates kann erst die Satire vorzeigen.“ Das mag so sein, wenn man einräumt, dass Romane natürlich nicht im allgemeinen Menschen die Welt bestehen lassen: es gibt einen auffallend großen Sektor im weltweiten Romanaufkommen, in dem die Menschen an der Welt zerbröseln, zerbrechen, jedenfalls am Ende oder bei Rückblicksentwürfen am Beginn mit den Füßen zuerst aus dem Raum getragen werden. Vater und Lehrer ist auf die Art eine lächerliche Figur, wie es Gestalten der Satire eben sein können, sie ziehen kaum Hass auf sich, eher erhebende Verachtung: sie predigen nicht Wasser und trinken Wein. Sie trinken ohne Predigt.
Bieler legt seinem Hörspiel-Stalin durchaus launige Sätze in den Mund, wie: „Es ist lustiger, an zu guter als an zu schlechter Nahrung zu sterben.“ Oder: „Geschichtlich gesehen ist es beinahe gleichgültig, ob man das Rokoko macht oder den Unabhängigkeitskrieg. Nur eben beides zugleich geht halt schwer.“ Vater und Lehrer weiß, dass er belogen und betrogen wird, kennt das Prinzip der Potjomkinschen Dörfer, das alle kennen, die dort leben durften, wo Väter und Lehrer ihr Wesen trieben, ihre Weltkriege gewannen oder wahlweise den sich stets verschärfenden Klassenkampf.
Hätte ich am 8. März 1972 das Hörspiel „Der Hausaufsatz“ gehört, wäre meine Begeisterung ganz sicher im Stall geblieben. Dieses Eintauchen in den Sprachduktus junger Leute aus der Generation „Schulmädchen-Report“ mag präzise belauscht sein, die Plänkelei zweier sehr junger Leute, die zufällig und dann doch gar nicht so zufällig telefonisch aneinander geraten, hat Untergründe und Hintergründe, letztlich aber interessieren die Dramen im Umfeld von Schulaufsätzen dann doch ein erwachsenes Publikum eher nicht. Die Figur Gori ist ein zur Karikatur tendierendes Bild eines Mitglieds des RSK, ausgeschrieben: Revolutionäres Schülerkomitee. Er schwätzt altklug allerlei Angelesenes daher, um dem zwei Jahre jüngeren Mädchen Nele zu imponieren. Er meint es ernst.
Immerhin: die Lektüre ein reichliches halbes Jahrhundert nach der Ursendung vermittelt sogar eine Lehre: manch linkes Geschwätz ist uralt: „Ich war in Israel. Aber nicht, weil ich mit der israelischen Politik sympathisiere. Wir als RSK unterstützen ja die Araber.“ Auch Rudi Dutschke ist, ohne namentlich genannt zu sein, ins Hörspiel gerutscht: „Wir dürfen nicht Outsider bleiben, sondern müssen einsickern. Die ganze Scheiße ist nur von innen her zu knacken.“ Der Marsch durch die Institutionen ist, wie wir wissen, in den Medien bestens gelungen, das Einsickern geschieht heute eher über Außengrenzen. Unterm Strich geht ein Rechtsruck durch Europa wie weiland das gern berufene Gespenst. In einem Punkt reproduziert dieser Gori sogar authentisches DDR-Gefühl, wenn er von sich sagt: „Es gibt nichts mehr zu tun für mich. Es ist egal, wer recht hat. Ich bin zu spät gekommen. Alles ist fertig.“ Wie oft ist solch Lebensbefund der jüngeren Generationen in der DDR wohl artikuliert worden, das fiel sogar den professionellen Literaturbeobachtern auf, wobei wir wissen: fertig war eigentlich nie etwas in diesem kleinen Staat, im Gegenteil, man konnte allenfalls selbst fertig gemacht werden in einem weiten Spektrum von spezieller Subtilität. Manfred Bieler war, wenn man Marcel Reich-Ranicki folgen möchte, eher Frauenversteher als Männer-Experte.
„Er ist nur ein Popanz, eine schlecht und recht zusammengeleimte Marionette.“ Sagt der Kritiker 1969 in der ZEIT über den Richter Paul Deister in „Maria Morzeck oder Das Kaninchen bin ich“, den im DEFA-Film von 1965 Alfred Müller spielte. (Ein kurzer Blick auf die Besetzungsliste lässt nostalgische Gefühle aufkommen: die DDR hatte Schauspieler!!) „Aber wo immer eine realistisch erzählte Liebesgeschichte auch spielen mag, sie kann nicht auskommen ohne mindestens zwei glaubhafte Figuren. Hier indes ist es nur eine. Merkwürdig: Frauengestalten geraten dem Romancier Bieler ungleich besser als Männer.“ Rückblickend erscheint das als voreilige Behauptung, denn nach Veröffentlichung der bearbeiteten Fassung legte Bieler ja noch eine ganze Reihe von Büchern, auch Romane, vor, von denen Reich-Ranicki dann keine Notiz mehr nahm. Interessant ist, dass er schon zu „Bonifaz oder Der Matrose in der Flasche“ eine ähnlich geteilte Meinung vorgetragen hatte: „Das Buch beginnt mit leidlich amüsanten Episoden und enthält Abschnitte, die von Bielers Phantasie und Humor zeugen. Aber letztlich erweist sich dieser moderne Schelmenroman als so armselig, primitiv und schwerfällig, dass sogar die DDR-Presse, obwohl er die westdeutschen Verhältnisse nach 1945 sehr scharf kritisiert, ihre Enttäuschung nicht verbergen wollte.“
Zum 1983 erschienenen Roman „Der Bär“ schrieb Volker Hage im Jahresrückblick des Stuttgarter Reclam-Verlags „Deutsche Literatur 1983“: „Wenn das biedere Epos wenigstens unterhaltsam wäre! Es ist aber nur Geschichtsstunde, uninspiriert erzählt, möglicherweise als Vorlage für einen Film geeignet.“ Werner Ross schrieb in der Deutschen Zeitung vom 20. Oktober 1978 über den Roman „Der Kanal“: „Es ist Bielers Stärke, dass er jede seiner Szenen mit plastischer Akribie gestaltet, aber es ist seine Schwäche, dass er nie davon lassen kann.“ Stärken hie, Schwächen da, der Leser entscheidet unbeeindruckt für sich, welche seiner privaten Waagschalen er steigen, welche sinken lässt. Leserin Licita Geppert etwa, die sich 1999 die fast 700 Seiten der Neuausgabe des Romans „Der Mädchenkrieg“ vornahm, sie für die Ausgabe 1/1999 von „BerlinerLesezeichen“ zu rezensieren, fand für sich: „Die Banalität der weltverändernden Umschwünge wurde selten so eindringlich nahegebracht wie hier, wo sie fast unerwähnt bleiben.“ Und schloss für sich: „Neben der Erfahrung eines wenig beschriebenen Kapitels deutsch-tschechischer Geschichte bürgt Bielers virtuos gehandhabte Sprache ebenso wie die sicher geführte Handlung für hohen Lesegenuss.“ Von Zerbst nach Prag geht es im Roman, von Zerbst nach Prag ging es für Manfred Bieler auch einmal.