Ernst Cassirer 150

Wäre dies nicht ein hinreichend weit von profaner Erdnähe und popliger Faktizität entferntes Thema für Nachwuchsgrübler und ihre diversen Kollegen: Die Dialektik von Fehlanzeige und Armutszeugnis. Schon die Ergänzung: in der neueren Neuzeit führte ins Fassliche, also in die Irre. Nein, Ernst beiseite, die hinscheidende DDR erfreute 1988 eine interessierte Kleingruppe von potentiellen Lesern mit einem fast 600 Seiten starken Buch. Es trug den aufreizenden Titel „Enzyklopädie zur bürgerlichen Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert“, alleiniger Herausgeber war Manfred Buhr (22. Februar 1927 – 22. Oktober 2008). Er war als langjähriger Direktor des Zentralinstituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR ein maßgebender Mann der Branche, der durchaus auch ein maßregelnder Mann sein konnte. Dass er drei Wochen vor seinem 17. Geburtstag die Mitgliedschaft in der NSDAP beantragt hatte in seiner Geburtsstadt Kamenz, am Geburtstag des Führers schon aufgenommen wurde, war, als ich zuerst dem von ihm und Georg Klaus herausgegebenen „Philosophischen Wörterbuch“ begegnete (in seinem Aufnahmealter) weder Thema noch (wahrscheinlich) bekannt. Er also verantwortete dieses Werk, das an einem so wichtigen Repräsentanten der Philosophie wie Ernst Cassirer kläglich versagte.

Sehr bösartig ließe sich sagen: allein der Fehlgriff an Cassirer bereitet der großen Tradition des Unternehmens Enzyklopädie, die auf Diderot und Kollegen zurückgeht, Schande. Aber es sei. Den VEB Bibliographisches Institut Leipzig gab es bald ebenso wenig mehr wie die ihn tragende DDR. John Erpenbeck und Ulrich Röseberg waren damals Verfasser des Kapitels „Naturwissenschaftliche Entwicklung und spätbürgerliche Philosophie: Physik, Biologie und Psychologie“. Sie zitierten Cassirer einmal zur „Dialektik des Erkenntnisprozesses in der Biologie“ aus dessen Arbeit „Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832 – 1932)“, Ausgabe des Stuttgarter Verlags Kohlhammer von 1957. Die Originalausgabe erschien 1920 und 1923 im Berliner Verlag von Cassirers Vetter Bruno Cassirer, sie stand den Enzyklopädisten der DDR vermutlich nicht zur Verfügung. Immerhin aber: Erpenbeck und Röseberg zitierten aus einer direkten Quelle. Das war ein entscheidender Unterschied zum Kapitel von Hellmuth Lange „Technikphilosophie“. Der vollbrachte das kleine Kunststück, Cassirer nur nach einem anderen DDR-Buch (Berlin 1979, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften) zu zitieren: „Philosophie und Technik. Zur Geschichte und Kritik, zu den Voraussetzungen und Funktionen bürgerlicher Technikphilosophie“, die Autoren: Siegfried Wollgast und Gerhard Banse.

Verglichen mit der DDR war die nicht ältere alte Bundesrepublik geradezu ein Rezeptionsparadies für Ernst Cassirer. Wohlgemerkt: verglichen mit der DDR. Denn sonst hatte es der deutsch-jüdische Emigrant alles andere als leicht. Seine direkten und seine indirekten Widersacher teilweise noch aus Zeiten der Weimarer Republik waren noch oder wieder in Amt und Würden, zum Teil aus Altersgründen nur noch in Würden, aber da. Bis in die jüngste Vergangenheit erregt jede neue Publikation zu Martin Heidegger ein Vielfaches an Aufmerksamkeit selbst im Feuilleton als jede neue Publikation von Ernst Cassirer. Selbst Darstellungen des wahlweise als berühmt oder berüchtigt apostrophierten öffentlichen Dialogs beider 1929 im schweizerischen Davos legen mehr Wert auf den Auftritt Heideggers, des Skifahrers, der mit Fanclub unterwegs war und schon mal hypermodern als Superstar benannt wird nach „Sein und Zeit“ (1927), als auf den „Olympier“ Cassirer, den das Etikett wohl in die Nähe Goethes befördern soll, was die dümmste Idee ja nicht ist. Cassirer und Goethe wären und sind ein eigenes umfangreiches Kapitel im Schaffen Cassirers. Noch im Exil hielt er 1940/41 „Goethe-Vorlesungen“, die inzwischen natürlich längst im Druck vorliegen, allerdings in jener Hamburger Groß-Edition, die auch Wohlhabende nur ungern kaufen.

Begnügen wir uns mit einer kleinen Titel-Auswahl: „Goethe und die geschichtliche Welt“, darin auch „Goethe und das 18. Jahrhundert“ sowie „Goethe und Platon“ (Philosophische Bibliothek Meiner 474); „Rousseau, Kant, Goethe“, darin „Goethe und die Kantische Philosophie“ sowie „Kant und Goethe“ (2024 100 Jahre alt); „Goethes Pandora“ und „Goethe und die mathematische Physik. Eine erkenntnistheoretische Betrachtung“ (beide in „Idee und Gestalt“); „Goethes Idee der Bildung und Erziehung“ sowie „Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über Lotte in Weimar“. Es steht zu vermuten, dass „Goethe und die mathematische Physik“ als Titel nicht unbedingt Neugier-Eruptionen auslöst, selbst unter eingefleischten Goetheanern nicht. Dass aber im Kant-Jahr 2024 nicht auch der eine oder andere Blick auf Ernst Cassirer fiel, mag ich nicht glauben. Immerhin steht auf der Großschublade für ihn das Stichwort Neukantianismus, Unterabteilung Marburger Schule, Klassenzimmer Hermann Cohen (4. Juli 1842 – 4. April 1918). Auf den machte den Studenten Cassirer Georg Simmel (1. März 1858 – 26. September 1918) aufmerksam und es wurde ein folgenreicher Tipp. 1896 geht der 22jährige Cassirer nach Marburg, drei Jahre später promoviert er bei Cohen dort zum Thema „Descartes Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis“. Nach zehn Jahren mit Wohnsitz in München wechselt er für 17 Jahre nach Berlin.

Ob sich Arthur Eloesser und Ernst Cassirer je begegnet sind, ist nicht bekannt, so weit ich sehe, es ist jedoch keineswegs ausgeschlossen. Schon deshalb, weil Bruno Cassirer nicht nur Verleger seines Vetters war, sondern auch Verleger der zweibändigen Literaturgeschichte Eloessers. Namentlich spielt Cassirer dort nur eine sehr kleine Rolle. „Gegen Positivismus und Materialismus protestierte die Kathederphilosophie mit der Neu-Kantischen Bewegung, die von Hermann Cohen in Marburg hervorgerufen wurde, und die unter Windelband die andere sogenannte Badensche Schule des transzendentalen Idealismus hervorbrachte. Die Verbindung mit der eigentlichen Literatur, die seit der Romantik unterbrochen war, stellte Cohens Schüler Ernst Cassirer, der letzte und besonders berufene Biograph Kants, mit seinen Abhandlungen „Freiheit und Form“, „Idee und Gestalt“ her, die das gemeinschaftliche Aufbauwerk von Kant und Fichte, Goethe und Schiller zeichneten, den Betrieb der Literaturgeschichte aus einseitig philologischen Bestimmungen und auch aus ihrer Unterwürfigkeit gegen die naturwissenschaftlichen der Milieutheorie erheben halfen.“ Eloesser hebt damit ein Verdienst Cassirers heraus, das anderen so nicht auffiel: wie Wiederherstellung der seit der Romantik unterbrochenen Verbindung mit dem, was er „eigentliche“ Literatur nennt.

Damit ist umgekehrt natürlich auch die Philosophie, auf alle Fälle die, wie sie Cassirer betrieb, in einen weiteren Begriff von Literatur einbezogen. Als besonders berufenen Biographen Kants nennt ihn Eloesser wegen des 1918 gedruckten Buches „Kants Leben und Lehre“. Es erschien als Ergänzungsband XI der elfbändigen Kant-Ausgabe, die Cassirer zwischen 1912 und 1923 edierte, die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt hat sie 1975 neu gedruckt. Auch „Idee und Gestalt“ ist dort 1971 neu gedruckt worden. „Von allen Werkes Goethes“, so lautet dort der erste Satz, „scheint die „Pandora“ am meisten einer abstrakten „philosophischen“ Auslegung fähig zu sein und ihrer, zum vollen Verständnis ihres Gehalts und Aufbaus, zu bedürfen.“ Das lohnende Thema soll hier nicht verschenkt werden, es bleibt bei dem Hinweis, dass Goethe eben keineswegs zuerst und vor allem für ein breites Publikum schrieb. Was eine abstrakte, eine philosophische Auslegung nötig hat zum vollen Verständnis, muss sich nicht schämen, darf aber auch herzliches Desinteresse nicht als Boshaftigkeit auslegen. Volles Verständnis scheint mir außerdem selbst eine fragwürdige Vorstellung. Es ist hinsichtlich der Absichten eines Autors auch bei überragender Quellenlage kaum zu erzielen, in allen Leser-Kontexten aber bekanntlich in Raum und Zeit offen.

Feuilletonwürdig, und das ohne alle eigene Absicht oder gar Schuld, ist das Ende von Ernst Cassirer. Der am 28. Juli 1874 in Breslau als viertes Kind geborene Mann starb vor Erreichen seines 71. Geburtstages in New York auf der Straße. Die Details hat Toni Cassirer, mit der er seit dem 16. September 1902 verheiratet war, in ihren Erinnerungen „Mein Leben mit Ernst Cassirer“ (zuletzt Hildesheim 1981, danach Hamburg 2003) geschildert. Es war der 13. April 1945, am Vortag war Präsident Franklin Delano Roosevelt gestorben, Cassirer war erschüttert. Er schrieb vormittags an einem Vortrag, hielt mittags eine letzte Lehrveranstaltung an der Columbia University, aß mit Kollegen, spielte noch eine Partie Schach und wollte sich dann ein Taxi nehmen. Einer seiner Studenten bot an, ihm behilflich zu sein: „Cassirer stimmte lächelnd zu, schwankte leicht, sank in die Arme des jungen Mannes und starb an Herzversagen.“ Eine ernsthafte Herzerkrankung war bereits 1936 bei ihm diagnostiziert worden, sie hinderte ihn letztlich auch an einem erneuten Ortswechsel von der Ostküste zur Westküste zu einer auch nur befristeten Gastprofessur nach Los Angeles. In die USA kam er als schwedischer Staatsbürger, die Universität Göteborg verlieh ihm 1941 noch einen Ehrendoktortitel, wie es sechs Jahre zuvor schon die Universität Glasgow getan hatte.

Dass es 1919 die ganz junge Universität Hamburg war, die ihn in eine Professur berief, und nicht eine der altehrwürdigen, lange deutsche Philosophiegeschichte repräsentierenden Universitäten, sagt viel über das damalige Deutschland. In Hamburg wählte man ihn auch für ein Jahr zum ersten und gleich wieder für lange letzten deutsch-jüdischen Rektor. Der vier Jahre ältere Arthur Eloesser hätte noch zum Christentum konvertieren müssen, um in Berlin die Chance auf eine Professur zu erhalten. Ernst Cassirer musste das Ende des Ersten Weltkrieges abwarten. In Berlin war 1907 sein Kolleg zwar das bestbesuchte der Fakultät, von deren Mitgliedern aber besuchte niemand seine Vorträge. Hamburg hielt jedoch nicht nur die Professur für ihn bereit, dort entdeckte er auch die Bibliothek Warburg. Der acht Jahre ältere Aby Warburg (13. Juni 1866 – 26. Oktober 1929) war schon ehrenhalber Professor der Universität Hamburg, als diese sich noch in Gründung befand. Das philosophische Hauptwerk Cassirers, die dreibändige „Philosophie der symbolischen Formen“, ist ohne die Bibliothek Warburg kaum denkbar. Dass beide Männer Freunde wurden, versteht sich. Ulrich Raulff hat sich dem Thema unter der Überschrift „Von der Privatbibliothek des Gelehrten zum Forschungsinstitut. Aby Warburg, Ernst Cassirer und die neue Kulturwissenschaft“ gewidmet.

Von Thomas Meyer stammt eine, wie es heißt, maßgebende Biographie Cassirers (2006 bei Ellert & Richter in Hamburg), von der Kritik gleich mit empfohlen auch „Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie“ von Massimo Ferrari (Felix Meiner Hamburg 2003). Dagegen musste sich das Buch von Sigrid Bauschinger „Die Cassirers, Unternehmer, Kunsthändler, Philosophen. Biographie einer Familie“ (C. H. Beck München 2015) den deftigen Vorwurf eines gebundenen Zettelkastens gefallen lassen. Wenig Lob erntete auch „Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers“ (Stuttgart, J. B. Metzler 2003), wobei die Kritik eher das Handbuch als Handbuch betraf, weniger den tatsächlichen Inhalt des Bandes. Ralf Konersmann schrieb 2004 anlässlich einiger Bände der großen Ausgabe des Hamburger Verlags Felix Meiner: „Auf seinem langen Weg vom akademischen Neukantianismus zur Kulturphilosophie hat dieser enzyklopädische Geist all die Steine eigenhändig umgedreht, mit denen die Straßen der Vernunft gepflastert sind.“ Und: „In Cassirers Lektüren kann man das Denken dabei beobachten, wie es sich über sich selbst aufklärt.“ In meinem Philosophiestudium 1975 – 1980 an der Humboldt-Universität spielten zwar Neukantianer verblüffende Rollen, Ernst Cassirer erweckte meine Aufmerksamkeit aber erst später.


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