M. B. - Kein Nachruf

Seit mir vor Monaten zugetragen wurde, wie schwer und woran er erkrankt war, hatte ich meine fast drei Jahre währende Abstinenz bezüglich seiner Äußerungen im Tagebuch wie auch seiner hie und da immer noch einmal auftretenden Publikationen aufgegeben. Ließ mir aus der Buchhandlung in Rudolstadt sein Buch „Das literarische Rudolstadt“ kommen, das er sich selbst zu seinem 70. Geburtstag geschenkt hatte. Als kürzlich mich der Anruf erreichte, es komme täglich eine Palliativschwester zu ihm nach Hause, war mir natürlich klar, was bevorstand. Fast fünf Wochen noch hat er seinen letzten Tagebuch-Eintrag überlebt, falls man das noch Leben nennen will. Es hat mich sehr berührt. Seither schaute ich aller paar Tage nach, fragte zuletzt bei Gelegenheit einer Pressekonferenz in Meiningen einen Kollegen, der nichts wusste und sich erkundigen wollte bei Frank Quilitzsch. Dessen Nachruf steht heute in der TA. Die Ergänzung in seinem WIKIPEDIA-Eintrag war 37 Minuten alt, als ich sie sah. Nein, das hätte ich ihm auch auf dem Gipfel meines Ärgers über seine falschen Behauptungen über mich nicht gewünscht. Er hielt mich zeitweise für seinen Feind, ich weiß bis heute nicht wirklich, warum. Noch am 30. Oktober, wie ich jetzt lese, leistete er sich eine Anspielung auf mich, in der er mir Neid unterstellte. Das war, als ihm nichts mehr einfiel, sein unchristliches Memorieren einer der sieben Todsünden in meinem Register.

Wir kannten uns von 1975 her, saßen erst einander gegenüber, später nebeneinander im Prosa-Seminar, das der Geraer DDR-Schriftsteller Martin Viertel während des Schweriner Poetenseminars leitete. Wir bekannten einander unsere gemeinsame Vorliebe für Günter Kunert. Wenn ich jetzt den IM-Namen von Viertel hier verschweige, dann ausnahmsweise im Sinne von M. B., der bis zuletzt keine Gelegenheit ausließ, dergleichen Verweise abzuwerten. Neuen Kontakt erfreulichster Art bekam ich mit M. B. über den Umweg unserer gemeinsamen Tätigkeit. Ich schrieb seit 1986 für etliche Tageszeitungen, eine Wochenzeitung und zuletzt auch für die NDL Literaturkritiken, er war für die EULENSPIEGEL-Rubrik „Literatouristik“ verantwortlich. Nicht selten besprachen wir die gleichen Bücher, bestätigten einander oft auch in unseren finalen Urteilen. Als die DDR sich in ihr finales Stadium begab, entstand im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig ein Plan für die Essay-Reihe: M. B. und ich sollten uns gegenseitig Briefe schreiben. Der Verlag war dann der schnellste im Kündigen aller Vereinbarungen aus der implodierenden DDR, auch ein Projekt für den nächsten oder übernächsten Band der „Positionen“, angeregt von Hinnerk Einhorn, in dem ich mit Landolf Scherzer hätte korrespondieren sollen, der übermorgen seinen 80. Geburtstag feiert, ohne Gruß von M. B. erstmals, starb einen raschen und wenig heldischen Tod. Ich hatte dann einen Karriereknick.

Leitete Lokalredaktionen, die den alten Blättern Konkurrenz machen wollten. Die aber haben alle überlebt, manche hinter neuem Titel getarnt. Die behielten ihr Personal, sogar die stellvertretende Chefredakteurin, andere stellten junge Sportreporter an die Spitze, die rasch lernten, dass die DDR Vergangenheit ist. Unsereiner nahm an den gescheiterten Projekten teil, 1996 am längsten Presse-Streik der deutschen Nachkriegsgeschichte, der mich per Foto sogar in diverse überregionale Blätter hievte, wie ich ein Transparent haltend vor der Münchener „Süddeutschen Zeitung“ demonstrierte. Nebbich. Mein Job in Arnstadt, wo ich unter verschiedenen Arten von Gegendruck inklusive juristischer Drohungen die neue Lokalausgabe von „Freies Wort“ leitete, brachte neuen Kontakt zu M. B., der dann eine Weile mehr oder minder kontinuierlich anhielt. Mit der Installation meiner Internet-Seite, die bis heute auch die Rubrik „Alte Sachen“ enthält, nutzte ich die Möglichkeit, die nun längst verschollenen Texte in ihrer Urfassung neu zu publizieren, Texte zu M. B. waren mit die ersten, die ich ins Netz stellte. Wir begegneten uns in der „Literarischen Gesellschaft Thüringen“, in Rudolstadt im Theater, besuchten uns gelegentlich sogar ganz privat in meiner Keplerstraße oder in seiner Schillerstraße. Er wusste immer alles und kannte immer jeden und jede. Diverse spielten zwischen uns noch keine Rolle. Ich fand es normal, täglich sein Tagebuch zu lesen, er las meins.

Ich fand es normal, da und dort eine Anspielung auf ihn einzubauen, er fand es nicht so toll. Manche seiner Rückhand-Returns auf mich lasen sich wie Richtigstellungen nach Presserecht. Was ich albern fand. Milde noch waren unsere Meinungsverschiedenheiten, als ich dreist äußerte, man könne nicht Kritiken zu einem Theater schreiben, dessen Förderverein man selbst vorsteht. Das glaube ich noch immer, ich glaube ebenfalls, dass es nicht hilft, nach der Premiere mit sämtlichen Beteiligten in der Kantine zu sitzen. Er sah das, wie er behauptete, entspannt. Irgendwann ertappte ich ihn bei falschen Behauptungen, die Solothurner Literaturtage betreffend. Ich hatte sauber und normal journalistisch recherchiert, wie ich es immer tue, er fand es empörend, dass ich sogar in Solothurn selbst angefragt hatte nach seinem Auftritt, bei dem er Jurek Becker getroffen haben wollte, der gar nicht dort war. Es entspann sich ein unappetitliches Geplänkel, spitzte sich zu. Dabei hatte ich am Beginn seines Opus-Magnum-Projekts „Rentnerlehrling“ noch Manuskript-Begleitung und Begutachtung auf seine Bitte hin getätigt. Bis heute finde ich die Idee für das Buch großartig, das Buch leider wurde alles andere als großartig. Ich konnte es nicht lesen, so ärgerte ich mich fast Seite für Seite. Es wurde sein letzter Dank an mich, als ich ihm geschrieben hatte, ich würde meine vernichtende Kritik nicht öffentlich machen. Bald danach brachen wir einvernehmlich miteinander.

Nun gibt es ihn nicht mehr. Ein wortloser Händedruck in Weimar war unsere letzter Kontakt, ich weiß nicht einmal genau, wann das war: 2017 oder 2018. Um eines seiner Bücher in die Hand zu bekommen, muss ich von meinem Schreibplatz nicht einmal aufstehen, nur den Drehsessel leicht drehen und den rechten Arm ausstrecken. Viele dieser Bücher tragen eine persönliche Widmung für mich, witzig einige, gewollt witzig andere. Leider hat die gewollte Witzigkeit bei ihm immer breiteren Raum eingenommen, je älter er wurde. Manchmal nervten seine Sprachmätzchen, seine gepressten Wortspiele, sein Kunst-Sächsisch. Am meisten nervten seine posthumen Belobigungen der DDR, seine bisweilen böse aggressiven Attacken gegen Leute, die sich erlaubten, nicht alles gut dort zu finden. Während der Buchmesse in Leipzig stellte er mich einmal einem Mann vor, der das „Weltbühnen“-Imitat „Ossietzky“ repräsentierte. Der würde sicher auch von mir etwas drucken, so M. B., Honorar aber gebe es keins. Meine Neigung zu Arbeiten ohne Entgelt war von Null nicht zu unterscheiden. Ich lese oft und viel Ossietzky, also Carl von Ossietzky. Da weiß ich, was ich habe.„Das literarische Rudolstadt“ liegt auf dem Haufen der Bücher, die ich in absehbarer Zeit zu lesen beabsichtige. Es konkurriert mit „Schauplätze der österreichischen Literatur“; „Leben und Tod des deutschen Judentums“ und „Aufsätze zur literarischen Schweiz“, ein Podestplatz ist eher unsicher.


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