Goethe 1816

Sagen wir so: Der für einen Beitrag dieses Titels unvermeidliche Blick in Goethes „Tag- und Jahreshefte“, in seine Tagebücher und Briefe des Jahres offenbart ganz unvermeidlich eines: Goethe war im Biographischen von höchst merkwürdigen Prämissen getrieben. Sein spezieller Umgang mit dem Tod, dem er, wo immer es möglich war, physisch und geistig aus dem Weg ging, den zu meiden ihm fast zum magischen Ritual geriet, führte schlussendlich dazu, dass der Tod der eigenen Gattin Christiane am 6. Juni 1816 im zusammenfassenden Rückblick der „Tag- und Jahreshefte“ mit keiner Silbe erwähnt ist. Es fehlt auch die familiengeschichtlich keineswegs nebensächliche Verlobung des Sohnes August mit Ottilie von Pogwisch am 31. Dezember, der die Eheschließung im Juli 1817 folgte. Das wäre noch leichter verkraftbar, läse man nicht auf der letzten Seite: „... dagegen versetzte mich der Tod der Kaiserin von Österreich in einen Zustand, dessen Nachgefühl mich niemals wieder verlassen hat.“ Oder haben wir hinzunehmen, dass Goethe den Tod seiner Frau mit einem Gedicht für „verarbeitet“ hielt? Immerhin entnehmen wir dem Tagebuch über einige Tage hin knappste Notizen zum Gesundheitszustand seiner Frau. Die These sei erlaubt, dass in all diesen Notizen das wichtiger ist, was fehlt, als das, was sich nachlesen lässt.

Diese These ließe sich an beliebigen Jahren seines langen Lebenslaufes wiederholen und jeweils neu belegen, sie ist also für 1816 pars pro toto aufgestellt. Konstant bleibt Goethe bei seiner Tagebuch-Marotte, keinen Namen ohne zugehörigen Titel zu nennen, engste Bekannte und Freunde erscheinen so wieder und wieder mit ihren akademischen oder sonstigen Rängen. Unter den für 1816 als bemerkenswert genannten Besuchen ist immerhin auch der von „Hofrätin Kestner aus Hannover“. Es handelt sich, wir wissen es, um Charlotte Buff, jene Charlotte aus der Wetzlarer Zeit, die Goethes größtem Buchhandelserfolg, dem „Werther“, den Stoff einhauchte. Thomas Mann hat, Verzeihung, liebe Eulen in Athen, aus der Begegnung seinen Wunder-Roman „Lotte in Weimar“ gemacht, den wiederum Egon Günther verfilmte. Schaut man sich die lange Liste der Darsteller und Darstellerinnen an, Lilli Palmer war Charlotte, Martin Hellberg Goethe, der heute fast omnipräsente und in jeder Rolle großartige Thomas Thieme Kestner, der „Dritte im Bunde“, ist man noch immer fasziniert. Katharina Thalbach war Ottilie von Pogwisch, Jutta Hoffmann Adele Schopenhauer und Rolf Ludwig just jener Kellner Mager, mit dem der Thomas-Mann-Roman unnachahmlich anhebt. Die Kino-Premiere gab es übrigens am 6. Juni 1975, Christianes Todestag, sinnig gewählt.

1816 ist das Jahr des Wagensturzes von Mönchenholzhausen, von Goethe der Nachwelt so im Tagebuch vom 20. Juli überliefert: „Früh um 7 Uhr mit Hofr. Meyer abgefahren. Um 9 Uhr kurz vor Mönchenholzhausen umgeworfen. Hofr. Meyer an der Stirn beschädigt. Die hintere Achse des Wagens zerbrochen. Gegen 1 Uhr wieder in Weimar. Betrachtung über die nächsten Arbeiten.“ In den „Tag- und Jahresheften“ liest es sich so: „Bei herannahender guter Witterung gedachte ich nach Wunsch und Neigung die schönen Tage des vorigen Jahrs im Mutterlande abermals zu genießen. Freund Meyer sollte mich begleiten; Natur und Kunst sollten uns mit ihren Schätzen überfüllen. Vorarbeiten waren gemacht, Plane entworfen wie alles zu genießen und zu nutzen wäre; und so saßen wir wohlgepackt und eingerichtet in einem bequemen Wagen; aber die Hälfte des Erfurter Weges war noch nicht erreicht, als wir umgeworfen wurden, die Achse brach, der Freund sich an der Stirn beschädigte und wir umzukehren genötigt wurden. Aus Unmut und Aberglaube ward die vorgesetzte Reise vielleicht übereilt aufgegeben ...“. So bietet Goethe seine eigene Deutung des offenbar alles andere als unwillkommenen Reiseabbruches an. Nach Baden-Baden sollte es gehen, zu Marianne von Willemer hätte es vielleicht auch, und sei es als Abstecher, geführt.

Nutznießer des Achsenbruchs war das heute 2453 Einwohner zählende Bad Tennstedt (Stand 31. Dezember 2015). Wer gern eine geballte Ladung Uninformiertheit genießen möchte, rufe die WIKIPEDIA-Seite zu Bad Tennstedt auf. Dort lesen wir (letzte Seiten-Änderung am 22. Juli 2016) dies: „Johann Wolfgang von Goethe traf 1816 auf der Durchreise nach Baden-Baden, wo er eine Kur antreten wollte, in der Stadt ein.“ Die Fußnote dazu lautet: „Ein Radbruch nahe der Stadt zwang ihn jedoch zur Rast und dabei erfuhr er von der erst kürzlich eröffneten Kureinrichtung, Goethe unterließ die Weiterreise und blieb weitere fünf Wochen in Tennstedt.“ Die Tennstedter Schwefelquellen wurden bereits seit 1812 zu Heilzwecken genutzt, wovon Goethe vermutlich aus dem Munde des Weimarischen Regierungsrates Christian Friedrich Schmidt hörte, dessen Bruder Karl August Schmidt Badearzt in Tennstedt war und dann tatsächlich auch Goethe während der sieben Wochen seines Aufenthaltes bei sich beherbergte. Heinrich Meyer folgte Goethe und blieb insgesamt nur vier Wochen. Tatsächlich ist richtig, dass Goethe 1816 nicht einmal in Jena länger zusammenhängend verweilte als in Bad Tennstedt, dafür ungewöhnlich lange ununterbrochen in Weimar, kompakte sechs Monate am Stück allein vom 10. September 1816 bis 20. März 1817.

Goethe reiste 6.45 Uhr am 24. Juli von Weimar gen Bad Tennstedt. Bei Wolfgang Vulpius lesen wir: „... neben dem Kutscher auf dem Bock saß Ferdinand Schreiber, sein neuer Diener und Sekretär, der lange Bursche, den er kurzerhand Karl nannte.“ Obwohl Goethe mit diesem Schreiber sehr zufrieden war, entließ er ihn, als jener krank wurde. Schreiber starb 1849 in Jena im Alter von 52 Jahren. Er war es, dem Goethe erst das Schema, dann auch den Text „Sankt Rochus-Fest zu Bingen“ diktierte (vgl. dazu mein Text in dieser Rubrik, veröffentlicht am 16. August 2014). Wir sehen Goethe von einer Seite, die ihm wenig schmeichelt, denn einen Diener nicht bei seinem Namen nennen, kann durchaus als diskriminierend empfunden werden, einen Diener aber entlassen, weil er ins „Siechenhaus“ eingeliefert werden musste, war wohl zeitüblich, deshalb aber kaum nobler. Diener „Karl“ trug auch Goethes Geologenhammer, wenn der in der nahen Umgebung nach Sammlerstücken suchte. Goethe hatte in Kreisamtmann Cölestin August Just einen geschätzten Gesprächspartner, bei ihm traf er den Bürgermeister, den Landrat. Wolfgang Vulpius: „Schon nach zwei Wochen Bade- und Trinkkur stellte er fest, dass ihm das Schwefelwasser gut bekomme.“ Ein zweites Mal ist Goethe dennoch nicht nach Bad Tennstedt gekommen, so toll wars dann doch nicht.

Am 31. Januar 1816 erging das folgende Schreiben Goethes an Christian Gottlob Voigt: „Ew. Excellenz, auch für meinen Theil für die gestrigen schönen und ehrenvollen Stunden höchlich dankbar, übersende die wenigen von mir gesprochenen Worte. Leider konnt ich sie, da mir die Veranlassung so spät gegeben wurde, vor der Feyerlichkeit nicht vorlegen. Gegewärtig geschieht es auf Veranlassung des Canzlers Müller und Bertuchs; eine Relation der Feyerlichkeit sowie des Gesprochenen soll, wie sie sagen, gedruckt werden. Ob sich meine Worte dazu qualificiren, überlasse Ihrer Beurtheilung. Darf ich mir dagegen das von Ew. Excellenz Gesprochene und das Gedicht, von welchem wir nur den Schluß gehört, gehorsamst ausbitten.“ Die Rede ist von der vortägigen Feier anlässlich der Überreichung eines Ordens an Goethe und Voigt. In voller Schönheit hieß er „Großkreuz des Großherzoglichen Hausordens der Wachsamkeit oder vom Weißen Falken“ (vgl. dazu mein „Von Goethe und seinen Orden“ in dieser Rubrik am 21. März 2014). Die Rede Goethes kann man natürlich nachlesen und sie ist nach heutigen Maßstäben geradezu peinlich anbiedernd. Reizvoll allenfalls die spürbare Mühe des Redners, dem Falken metaphorisch etwas im Gegensatz zum Adler abzugewinnen, der Großherzog war seit 1815 eine „königliche Hoheit“.

Vom 19. Juli 1816, dem Tag vor der Abreise gen Baden-Baden, stammen ganze Serien von Briefen unterschiedlicher Länge, ein sehr kurzer erging an Friedrich Wilhelm Riemer: „Wie leid es mir thut Sie, mein guter Riemer, mit meinem Sohne in einem Verhältniß zu sehen welches mir nicht erlaubte Sie einzuladen, muß ich aussprechen eh ich scheide. Möge bey meiner Rückkunft alles ausgeglichen seyn. Das Osteologische Manuscript wünsche auf die Reise mit. . diese Gegenstände sind in der Welt sehr rege. Geben Sie es an Überbringer. Der kleinen Frau die schönsten Grüße“. Es glich sich nichts aus, wie sich bald herausstellte, Goethes nächster Brief an Riemer datiert erst wieder vom 8. März 1819. Mit der kleinen Frau ist Caroline Ulrich gemeint, die als Gesellschafterin Christianes im Haushalt gelebt hatte wie Riemer lange Zeit auch. Allein der ironiefreie Gruß an sie macht jene Deutung fragwürdig, die die fast drei Jahre anhaltende Entfremdung darauf zurückführen möchte, dass sie die Quelle von Gerüchten über Augusts Braut Ottilie gewesen sein soll. Es wird wohl eher Sache des Sohnes mit seinem einstigen Hauslehrer gewesen sein, der Vater stellte sich keineswegs überraschend natürlich auf die Seite seines Sohnes. Noch 1820 wird Riemer bei der Besetzung des Direktorpostens am Gymnasium übergangen, Goethe muss ihn überreden, nicht alles hinzuwerfen.

Am 28. August, seinem 67. Geburtstag, schrieb Goethe aus Bad Tennstedt an seinen Berliner Freund Carl Friedrich Zelter leicht melancholisch; „Diesen meinen Geburtstag feyre ich in besonderer Einsamkeit. Hofrath Meyer, der vier Wochen bey mir verweilte, und Geheimerath Wolf, der auf anderthalb Tage einsprach, gingen heute früh weg und so bin ich mir selbst überlassen.“ In diesem Brief beklagt sich der Absender über Wolf und dessen Widerspruchsgeist. „Eine solche Unart wächst von Jahr zu Jahr und macht seinen Umgang, der so belehrend und förderlich seyn könnte, unnütz und unerträglich, ja man wird zuletzt von gleicher Tollheit angesteckt, daß man ein Vergnügen findet das Umgekehrte zu sagen von dem was man denkt.“ Von einer Tollheit infiziert werden, das war für Goethe eine fürchterliche Vorstellung. Viel Lebenskraft hatte er bis hier im Kampf gegen eigene Tollheiten investiert, da sollten fremde erst recht keine Macht gewinnen. Friedrich August Wolf war nur zehn Jahre jünger als Goethe, Jahrgangsgefährte von Schiller und bedeutender Homer-Forscher. Verlassen wir Goethe mit seinem letzten Tagebucheintrag des Jahres, 31. Dezember 1816: „Gegen Abend Hofr. Meyer. Frau von Pogwisch und Tochter. Verlobung von Ottilie von Pogwisch mit meinem Sohn. Nachts bey Frau von Heygendorf.“ Was er da wohl trieb?


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