Goethe 1821

Am 5. Mai 1821 starb auf seiner Verbannungsinsel St. Helena der einstige Kaiser Napoleon. Eine halbwegs zeitnahe Reaktion Goethes auf dieses Ereignis geben seine schriftlichen Hinterlassenschaften nicht her: weder in den Briefen noch in den Tagebüchern oder den überlieferten Gesprächen kommt diese welthistorische Aktualität vor. Auch die „Tag- und Jahreshefte“, immerhin Medium des Rückblicks auf ein abgelaufenes Jahr, wobei 1821 das vorletzte in der Reihe ist, klammern diesen Tod aus, der erst mit rund zwei Monaten Verspätung die europäische Medien erreichte. Napoleons Name fällt einmal im Gespräch mit dem befreundeten Joseph Sebastian Grüner in Böhmen während des 46 Tage vom 27. Juli bis zum 13. September dauernden Aufenthaltes dort (Marienbad und Umgebung, Eger und Franzensbad). Und zwar am 9. September: „Wenn ich hier die Sprudelquelle neben der Louisenquelle ansehe, denke ich mir Napoleon getrennt von seinem Sohne auf der Insel Helena, wie er hier eingeengt innerlich lebt, ohne die Grenzen überschreiten zu können. Nur ein großer Geist vermag in solcher Lage standhaft zu bleiben. Indeß seine Haft sollte ihn unschädlich machen, Millionen Menschen sind durch ihn geopfert worden.“ Es ist Grüner, der das gesagt haben will, Goethe ging darauf nicht näher ein. Beide wussten ganz offenbar vier Monate nach dem Tod Napoleons davon noch nichts. 

Nehmen wir den Goethe-Biographen Ludwig Geiger (5. Juni 1848 – 9. Februar 1919) zum Maßstab, dann war das Jahr 1821 für Goethe ein eher bedeutungsloses. Lapidar beginnt Geiger sein 25. Kapitel: „Die Jahre 1819 bis 1823 sind nicht von besonders wichtigen Ereignissen erfüllt, außer dem Zusammentreffen mit Ulrike von Levetzow, auf das der Titel des vorliegenden Kapitels hinweist. Nur wenige Einzelheiten sind besonders hervorzuheben.“ Der Titel des Kapitels lautet: „Letzte Liebe. Marienbader Elegie“. Das weist vor allem ins Jahr 1823, denn 1821 bietet nur den Auftakt für jene drei Marienbader Aufenthalte, deren letzter den Heiratsantrag mit sich bringt, mit dem sich der Herzog Carl August höchstselbst für seinen Freund und Minister ins Zeug legt und dabei schwer abweisliche Versprechungen macht, die dennoch nicht fruchten. Das aber war 1821 noch weit entfernt. Mit deutlich mehr Recht dürfte dieses Jahr das zweite Berliner Jahr Goethes genannt werden, auch wenn es bisher niemand getan hat, soweit ich sehe. In keinem anderen Jahr hat Berlin im Leben Goethes eine größere Rolle gespielt als in diesem, 1778 ausgenommen, als er seinen ersten und für immer einzigen Besuch in der preußischen Hauptstadt absolvierte. Mit bekannten Langzeitfolgen, die in der Literatur zum Thema „Goethe und Berlin“ mehr oder minder ausführlich bereits behandelt wurden. Niemand vermochte es, Goethe erneut nach Berlin zu locken. 

Auch sein Freund Zelter nicht, der in dieser Hinsicht die größte Hartnäckigkeit entwickelte und dennoch immer erfolglos blieb. Selbst eine zeitweilige Trübung des beiderseitigen sehr engen Freundschaftsverhältnisses nahm Goethe in Kauf, nur nach Norden reisen wollte er halt nicht. An drohenden Reisestrapazen kann es kaum gelegen haben. Die Tour nach Böhmen von Weimar aus war kaum kürzer, die Straßen dorthin kaum besser. Es wäre ein eigenes Thema, das hier nur angedeutet werden kann. Für Zelter blieb immer der eigene Besuch in Weimar und/oder Jena übrig und gegen Ende des Jahres 1821 hatte er sogar einen jungen Begleiter bei sich, der auf Goethe einen bis an sein Lebensende anhaltenden, tiefen Eindruck hinterließ: Felix Mendelssohn-Bartholdy. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe vermitteln nur andeutungsweise eine Vorstellung, wie tief der Eindruck war. Das musikalische Wunderkind spielte buchstäblich stundenlang für Goethe und der gewann, wenn kein völlig neues, dann doch auf alle Fälle ein weitgehend neues Verhältnis zum Phänomen Musik und ihren größten Vertretern von Bach bis Mozart. Auch hier begann im Jahre 1821 ein bis zu Goethes Tod währendes dauerhaftes Verhältnis, das sowohl weitere persönliche Begegnungen als auch briefliche Kontakte umfasste, die Familien einbezogen. „Die Tag- und Jahreshefte“ verweisen auf den glücklichen Umstand, dass ein Flügel vorher rechtzeitig ankam. 

„Durch die kenntnisreiche Sorgfalt eines längst bewährten Freundes, Hofrat Rochlitz, kam ein bedachtsam geprüfter Streicherischer Flügel von Leipzig an; glücklicherweise: denn bald darauf brachte uns Zelter einen höchste Verwunderung erregenden Zögling, Felix Mendelssohn, dessen unglaubliches Talent wir ohne eine solche vermittelnde Mechanik niemals hätten gewahr werden können.“ Schwer zu sagen, ob es Goethe bewusst war oder er je erfuhr, dass der „Streichersche Flügel“ der Fabrikation jenes Andreas Streicher (13. Dezember 1761 – 25. Mai 1833) entstammte, der einst mit dem jungen Friedrich Sachiller auf die Flucht gegangen war und dessen Büchlein über diese Flucht später durch Aufnahme in Reclams Universalbibliothek weite Verbreitung fand. Jedenfalls spielte der Zögling Zelters im Haus am Frauenplan und zwar täglich während der rund zwei Wochen, die beide dort im November 1821 verbrachten. Schon gut zwei Jahre zuvor hatte Goethes Sohn August berichtet, wie Felix und seine drei Jahre ältere Schwester im Hause Zelters in Berlin vierhändig Klavier gespielt hätten. August durfte mit ausdrücklicher Billigung seines Vaters nach Berlin reisen 1819, Quartier fand er bei Karl Friedrich Zelter (11. Dezember 1758 – 15. Mai 1832), mit dem Goethe eine bis zu seinem Tod währende enge Freundschaft pflegte, die 1799 ihren Anfang genommen hatte, als Zelter Texte Goethes vertont hatte und ihm dies ehrerbietig mitteilte. 

Monate vorher aber erlebte Berlin etwas, was auch große Städte nur sehr selten erleben: die Neueröffnung eines Theaters, das bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg zu den allerersten Häusern der Hauptstadt gehörte. In der DDR wurde es als zweites Großprojekt nach der Semperoper in Dresden wieder aufgebaut, allerdings nicht als Theater, sondern als Konzerthaus. Als solches dient es noch heute und steht zwischen dem Französischen und dem Deutschen Dom am Gendarmenmarkt, den manche als einen der schönsten, wenn nicht gar den schönsten Platz in Europa ansehen. 1817 war das „Königliche Nationaltheater“, wie es Carl Gotthard Langhans (15. Dezember 1732 – 1. Oktober 1808) entworfen und erbaut hatte, ein Opfer der Flammen geworden. Karl Friedrich Schinkel (13. März 1781 – 9. Oktober 1841) übernahm die Aufgabe eines Neubaus an gleicher Stelle. Er nutzte dabei die verbliebenen Fundamente des Vorgängerbaus. Die feierliche Neueröffnung war schon am 26. Mai 1821. Gespielt wurde Goethes „Iphigenie“, gefolgt von einem Ballett, doch vorher gab es einen Prolog. Diesen in drei Auftritte geteilten Prolog schrieb Goethe eigens zu diesem Anlass unter ziemlichem Zeitdruck, nachdem ihn Carl Friedrich Moritz Graf von Brühl (18. Mai 1772 – 9. August 1837), der Generalintendant der Schauspiele und Museen in Berlin, dringlich darum gebeten hatte. Der Zeitdruck hat der Qualität des Prologs nicht geschadet. 

Man könnte sogar im Gegenteil behaupten, es sei ärgerlich, wie selten das kleine Werk Beachtung findet bei jenen vielen, die Goethes Namen ständig im Munde führen. Nicht nur, dass im ersten Auftritt eine sehr konzentrierte Aussage zur „Iphigenie“ zu finden ist, die unmittelbar anschließend gespielt wurde. Es beginnt mit den Versen „Vom tragisch Reinen stellen wir euch dar / Des düstern Wollens traurige Gefahr“. Goethe ist, als er diesen „Prolog zu Eröffnung des Berliner Theaters im Mai 1821“, so der förmliche Titel, niederschreibt, selbst ein überaus erfahrener Praktiker des Theaters, keineswegs nur ein Dichter von Bühnenwerken, dem es möglicherweise gleichgültig ist, ob seine Sachen spielbar oder nicht spielbar sind. Auch Lesedramen fanden damals durchaus ein Publikum. Goethe wusste genau, was auf einer Bühne wirkt, was weniger oder gar nicht. Er machte sich auch keinerlei Illusionen über die Bedürfnisse eines Publikums, das vor allem unterhalten werden wollte. Ein einfacher Blick auf die Spielpläne des Weimarer Hoftheaters zeigt, ich will mich hier nicht wiederholen, dass eben Iffland und Kotzebue deutlich häufiger gespielt wurden als Goethe selbst oder auch Schiller. In den Prolog ist solches Wissen als Wunsch und Forderung an das neue Haus wie an sein Publikum ausdrücklich eingeschrieben. Die dreiteilige Gliederung mit den Regieanweisungen für die Akteure sprechen noch heute eine sehr klare Sprache. Eine schöne auch. 

Goethe lässt es in einem prächtigen Saal in antikem Stil beginnen, es soll eine Aussicht auf weites Meer geben. Die Muse des Dramas will er herrlich gekleidet wissen. Für die zweite Szene verwandelt sich das Theater in eine Wald- und Felspartie: „Blasende Instrumente hinter der Kulisse erhalten die Aufmerksamkeit und leiten das Folgende ein.“ Die jetzt auftretende Muse hat ein Pantherfell um die Schultern und das Haupt mit Efeu bekränzt. Am Ende der zweiten Szene tanzen Sylphen und Undinen, zwischendurch verfinstert sich das Theater, überzieht sich mit rotem Schein, um schließlich hell zu werden und zu einem Ziergarten. Auch die dritte Szene gehört der Muse, die eben noch ein wenig mitgetanzt hat und sich nun direkt an die Zuschauer wendet. Goethe greift auf die klassische Mythologie der vier Elemente zurück, derzufolge Sylphen die Luftgeister sind, Undinen die Wassergeister, Salamander sind dem Feuer zugeordnet und Gnome der Erde. Goethe rechnete offenbar mit einem soliden Vorwissen der Zuschauer. „Die Kunst versöhnt der Sitten Widerstreit, / In ihren Kreisen waltet Einigkeit.“ So spricht die Muse und ist sehr optimistisch: „Was heute wirkt, es wirkt aufs ganze Leben.“ Wenn die Musenworte auch den Architekten nennen, seinen Namen natürlich nicht, dann hat das insofern Berechtigung, dass der Dichter des Prologes Entwürfe von Schinkel vorher sehen durfte und auch mit seiner Meinung dazu gefragt war. 

„Eröffnen die Räume, die heiteren, hellen, / Sich als ein Gemeingut, wie heilende Quellen“ dem hoffentlich zahlreich herein strömenden Publikum, dann hat Goethe sich einen Vergleich gegönnt, den er einer privaten wie öffentlichen Seite seines eigenen Lebens entnahm: seinen wiederholten Reisen eben zu heilenden Quellen in Karlsbad und Marienbad. Es ist sicher nicht zu weit hergeholt zu behaupten, dass er während der Arbeit am Prolog, den er partienweise nach Berlin sandte und mit dem Grafen von Brühl in engem Austausch, bisweilen schon voraus dachte an die Fahrt nach Marienbad, die ihn zunächst über Pößneck und Hof nach Eger führte, wo er mit Grüner zusammen traf, dem übrigens Johannes Urzidil in seinem von mir immer wieder empfohlenen Buch „Goethe in Böhmen“ ein eigenes, knapp zehn Seiten umfassendes Kapitel gewidmet hat. Den 49 Böhmen-Tagen des Jahres 1821 folgten 1822 70 und 1823 noch einmal 75 Tage, danach kehrte Goethe nie mehr dorthin zurück. Sein glücklich-unglückliches Verhältnis zu Ulrike von Levetzow hat schon Bände der Goethe-Literatur gefüllt und bisweilen schleppt sich die Deutung auch in neuere Tage fort, die uralte Ulrike habe Jahrzehnte nach den Geschehnissen der Jahre 1821 – 1823 nicht mehr ganz genau gewusst, woran sie sich erinnerte. Wer je mit alten Leuten bei klarem Verstande zu tun hatte, weiß, dass ihnen gerade die weit entfernten Ereignisse am deutlichsten vor Augen stehen. 

Auch Johannes Urzidil hat sich für die Sicht entschieden, die oben bereits für Ludwig Geiger geltend gemacht wurde. Für ihn bringt die Reise nach Marienbad „die letzte große Epoche seiner Gefühle“ für Goethe. Zunächst landet Goethe als Nummer 403 auf der Marienbader Kurliste, er wohne „im Graf Klebelsbergischen Hause.“ Goethe bekam im ersten Stock des später „Stadt Weimar“ genannten Hauses zwei Zimmer. Der Hauseigentümer Franz von Klebelsberg zu Thumburg (24. Juli 1774 – 28. Dezember 1857) beherbergte Amalie von Levetzow mit ihren drei Töchtern Ulrike, Amalie und Berta, dazu die Eltern der Witwe. Erst 1843, nach mehr als 20 Jahren, durfte er Amalie heiraten, er brachte es in seinem Leben immerhin bis zum österreichischen Finanzminister. Goethe, mild verblendet könnte man es nennen, schenkt Ulrike, die nie etwas von ihm gelesen hatte zuvor, ausgerechnet die fast noch druckfrische erste Ausgabe von „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, exakter Titel des Erstdrucks von 1821: „Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. Ein Roman von Goethe. Erster Teil“. Urzidil kommentiert: „Es ist ein rührendes Bemühen um ein ahnungsloses Kind, das unversehens in das Vertrauen des die Dichtung und wissende Erfahrung vieler Zeitalter umschließenden Weltgeistes gezogen wird. Wäre sie aber nur um etwas weniger naiv gewesen, so hätte sie in äußerste Bestürzung geraten müssen.“ 

Um nachvollziehen zu können, wie groß die Zumutung war, der Goethe das Mädchen aussetzte, und es war definitiv eine Zumutung, sollte man sich einige der ersten Reaktionen anschauen, die Goethes später Roman auslöste bei Lesern, die ihren Goethe kannten, mochten oder sogar über alles liebten. Irritation gab es allenthalben und mehr oder minder angestrengte Versuche, sich die Lektüre schön zu reden, nicht zuletzt anderen gegenüber. Wer mochte schon an Goethe zweifeln? Hinzu kam, was Ulrike von Levetzow vermutlich gar nicht registrierte, noch das Kursieren der „falschen Wanderjahre“, von einem gewissen Herrn Pustkuchen, also von Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen (4. Februar 1793 – 2. Januar 1834). Er hatte eine eigene Fortsetzung von „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ geschrieben, sie hieß tatsächlich nur „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ und kam nahezu zeitgleich mit Goethes Roman auf den Markt. Eine Büste Pustkuchens steht übrigens im saarländischen Wiebelskirchen, wo er an Wassersucht starb (laut WIKIPEDIA). Ob Wiebelskirchens großer Sohn Erich Honecker (mit oder ohne Ironie zu lesen) von Pastor Pustkuchen und seinem antiklassischen Schaffen je Notiz nahm, entzieht sich meiner Kenntnis. Therese Huber beispielsweise meinte: „Das ist nun etwas breit wie eine gute Nudelsuppe … Einiges las man schon im Damenkalender. Das ist eine heillose Manier, dieses Fragmente-Auftischen.“ 

Therese Huber (7. Mai 1764 – 15. Juni 1829) war eine Professorentochter, in erster Ehe mit Georg Forster, in zweiter mit Ludwig Ferdinand Huber verheiratet. Der wiederum war jener Huber, der sich in Leipzig mit Christian Gottfried Körner anfreundete, beide gemeinsam diejenigen, die Friedrich Schiller in einer Situation halfen, als der Hilfe bitter nötig hatte. Das kann hier nicht näher ausgeführt werden, ist außerdem oft beschrieben worden. Charlotte von Stein pickte sich Goethes Ansichten über Religion aus den „Wanderjahren“ und gestand später Goethes Urfreund Knebel: „Aber alsdann wusste ich nicht mehr, wo ich war. Ich werde so dumm, dass ich gewisse Dinge nicht mehr begreifen kann.“ Johann Kaspar Friedrich Manso (26. Mai 1759 – 9. Juni 1826) fand den Roman „so reich an schönen Bemerkungen, dass man sie auf der Stelle auswendig lernen möchte“. Wilhelm Grimm sah es so: „Er hat aus dem Roman eine Art Decamerone gemacht. So schön die einzelnen Stücke, so leer die Verbindung.“ Schwierigstes Lesepflaster also für Ulrike von Levetzow. In seine „Tag- und Jahresheften“ für 1821 hält sich Goethe auffallend bedeckt bezüglich der Wanderjahre, die „zwar nicht aus einem Stück, aber doch in einem Sinn erscheinen sollten. Es war nur wenig daran zu tun, und selbst der widerstrebende Gehalt gab zu neuen Gedanken Anlass, und ermutigte zur Ausführung.“ Hätte er mehr tun müssen, den Roman auch einen sein zu lassen? 

Wenige Tage vor seiner Abreise nach Böhmen begrüßte Goethe in Weimar einen Gast, den er nie wieder danach persönlich traf, mit dem ihn aber fortan eine bis zu seinem Ende anhaltende freundschaftliche Beziehung verband: Carl Gustav Carus (3. Januar 1789 – 28. Juli 1869). Carus selbst hat unter dem Datum des 21. Juli 1821 in Rudolstadt seine Begegnung mit Goethe plastisch und recht ausführlich beschrieben. Für Interessenten sei das Büchlein „Briefe und Aufsätze über Landschaftsmalerei“ von Carus empfohlen, als Band 34 in der Gustav-Kiepenheuer-Bücherei erschienen. Es enthält einen Brief Goethes an Carus vom 20. April 1822. Immer zu empfehlen ist das von Werner Völker zusammengestellte Bändchen „Bei Goethe zu Gast“ (insel taschenbuch 1725). Dort findet sich auch die genannte Niederschrift aus Rudolstadt. Carus fand vor allem die Augen an Goethes äußerer Erscheinung eindrucksvoll. Zitiert sei hier dennoch nur dies: „Der Diener brachte eine kleine Kollation. Es war mir ein rührendes Verhältnis, Goethe zu sehen, wie er mir den Wein eingoss und ein Brot mit mir teilte, selbst von der einen Hälfte genießend und mir die andere reichend!“ Das also ließ Goethe sich an jenem Julitag nicht nehmen, während alle anderen Handreichungen dem Diener überlassen blieben, der, das ist der Beschreibung nebenbei gut zu entnehmen, sich mit Goethes Sammlungen bestens auskennen musste, hatte er etwas herbeizuholen. 

Und noch ein Mann fällt in das angeblich so ereignisarme Jahr 1821, der erst zwei Jahre später, da schrieb Goethe schon keine Jahresrückblicke mehr, zu größter Bedeutung für ihn gelangen sollte. Es ist Johann Peter Eckermann. Wie zufällig folgt er in Werner Völkers Buch unmittelbar auf Carus und ist völlig zurecht dem Jahr 1823 zugeordnet. Dennoch gehört er zu 1821. Denn vom 25. August stammt sein Schreiben an Goethe, beiliegend eine „Übersicht meines Lebensgangs“, am 21. August niedergeschrieben. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als die Bitte, Goethe möge sich die Gedichte Eckermanns anschauen, die im Frühjahr 1821 im Druck erschienen waren, und möglichst seine Meinung dazu äußern. Verbunden ist Eckermanns Sendung mit Glückwünschen zu Goethes Geburtstag. Am 2. Oktober 1821 antwortete Goethe aus Jena, wo er sich seit dem 15. September aufhielt (er blieb bis zum 4. November). „Erklärung und Bitte“ ist diese Antwort überschrieben: „Seit mehreren Jahren bin ich so glücklich, des schönen Vertrauens meiner Landsleute zu genießen. Ich erhalte daher öftere Sendungen und Anfragen von wohldenkenden, talentreichen, strebenden jüngeren und älteren Personen. So wie es nur möglich war, habe ich darauf erwidert; nun aber vermehrt sich dieses Wohlwollen, indeß die Kräfte sich vermindern und Einzelnen zu antworten ganz unmöglich wird.“ Fast zwei Jahre schwieg Eckermann daraufhin. 

Aber er arbeitete an seinem angekündigten Aufsatz „Beyträge zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe“. Für den reichten Goethes verminderte Kräfte dann und es begann 1823 ihre folgenreiche Arbeitsbeziehung. In seinem Tagebuch hielt Goethe immerhin schon 1821 für sich (und seine Nachwelt) fest: „2. Oktober. Jena. … An Eckermann, Studiosus in Göttingen.“ In den „Tag- und Jahresheften“ taucht, oben schon angedeutet, Berlin immer wieder auf: Sendungen von dort, Reisende von dort und dahin, noch den botanischen Garten in Jena und dessen erfolgreiches Gedeihen brachte Goethe mit einer Berlin-Reise des Hofrats Voigt und des Kunstgärtners Baumann in Verbindung. Achim von Arnim teilte Wilhelm Grimm am 22. Dezember 1821 diese Neuigkeit über Goethe mit: „Als etwas Neues sei aber nicht übergangen, dass er jetzt eine Leidenschaft fürs Vorschneiden gefasst hat, eine Viertelstunde am Nebentische auf den Bratvogel wartet und triumphierend hinter dem Bedienten mit der Karkasse herzieht.“ Was Carl Gustav Carus so seltsam erschien, war es offenbar gar nicht. Goethe gefiel sich, wie er gar nicht umständlich zu verbergen suchte, neben vielem anderen auch in der Rolle des aufmerksamen Hausvaters. Und hatte dabei nach dessen Besuch mit Zelter noch lange den Knaben Felix Mendelssohn vor Augen, wenn er seinen Blick in Richtung Flügel wandte. Man darf das ein schönes Finale für 1821 nennen.


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