Arthur Eloesser: Goethes Annette

Hundert Jahre ist es her, dass Arthur Eloesser in der Vossischen Zeitung, die seine war und wenige Jahre danach auch wieder wurde, ohne dass die Verbindung je vollkommen abgebrochen wäre, ein Buch besprach, das 1922 im Wiener Verlag Wila erschienen war. Titel: „Goethes erstes Mädchen“, Verfasser: Heinrich Teweles (13. November 1856 – 9. August 1927). Der hatte sich seit 1899 immer wieder einmal intensiver mit Goethe beschäftigt. 1925 veröffentlichte er bei W. Gente in Hamburg sein „Goethe und die Juden“. Er schrieb selbst für die Bühne, Wikipedia nennt ein knappes Dutzend Titel, war Theaterkritiker, Chefredakteur und sogar Theaterleiter. Im Jahr seines Todes erschien „Theater und Publikum“. Sein frühestes Buch „Der Kampf um die Sprache“ (Leipzig 1884, C. Reißner) gibt es heute wieder als Neudruck, andere, wenn überhaupt, mit hohen Versandkosten in österreichischen Antiquariaten. Knapp 200 Seiten umfasst die Darstellung, die auf Briefen und Gedichten von Goethes Hand fußt. Kritiker Eloesser sieht sie zuallererst als ein Geschenk, „das man einem jungen Mädchen auf den Geburtstagstisch legen kann statt eines Veilchensträußchens“. Da könnte er an den Geburtstag der eigenen Tochter Elisabeth gedacht haben, die wenige Wochen nach dieser Besprechung (gedruckt am 6. Mai 1923, Beilage Literarische Umschau) 16 Jahre alt wurde.

Zu Goethes Zeit galt solch Alter als uneingeschränkt heiratsfähig. Es fällt auf, dass von Anna Katharina Schönkopf (auf der gemeinsamen Leipziger Grabplatte mit ihrem Gatten Christian Carl Kanne in der sonst nirgends verwendeten Schreibweise: Anne Catharina Schoenkopf) behauptet wird, sie sei mit 19 oder 20 Jahren schon eine gesetzte Jungfrau gewesen, also eine Art älteres Mädchen, was selbst auf die damalige durchschnittliche Lebenserwartung berechnet ein horrender Unfug ist. Auch der dezente Hinweis auf einen Doppelkinn-Ansatz ist wenig galant, egal welcher Goetheaner das wem nachgeschwatzt hat. Die Basis dieser Behauptung ist ein Porträt, von dem es zwar eine Theorie gibt, wer es verfertigt haben könnte, womöglich gar in Goethes Auftrag, aber es gibt kein einziges Zeugnis zur Ähnlichkeit des Bildchens mit dem Original. Wer Porträts von Goethes Schwester Cornelia oder auch von Charlotte von Stein kennt, kann sich eine Vorstellung davon machen, wie allein die damalige Haarmode, die bevorzugte Profilsicht, ein Bild verzeichnen kann. Von Anna Katharina, genannt „Käthchen“, oft auch nur Kätchen geschrieben, ist eine einzige Beschreibung ihres Äußeren überliefert. Sie stammt von Johann Adam Horn, einem Studienfreund Goethes, und findet sich in einem Brief vom 3. Oktober 1766 an Friedrich Maximilian Moors.

Wer den Sichtweisen von Herman Grimm folgen will, die dieser 1874 in seinen Berliner Goethe-Vorlesungen vortrug, wird ohnehin zur Überzeugung gelangen, dass es sehr gute Gründe zur intensiveren Auseinandersetzung mit Käthchen Schönkopf gar nicht gibt, dass auch die Leipziger Jahre Goethes insgesamt ehrgeizige Betrachter eher in die Irre führen als zu nützlichen Einsichten. „Bekanntschaften von entscheidender Wichtigkeit für sein späteres Leben hat Goethe in Leipzig nicht gemacht.“ So der Sohn von Wilhelm, der Neffe von Jacob Grimm. Und zuvor: „Wer in den anfänglichen Werken eines großen Künstlers zu sehr bereits den großartigen Inhalt der späteren Meisterwerke nachweisen will, der nimmt der Kraft der reifen Jahre des Mannes, die allein doch das Vollendete zu schaffen vermochte, einen Teil ihres Ruhmes. Goethes Jugendwerke können nur im Zusammenhange mit seiner gesamten Tätigkeit richtig taxiert werden und müssen sich gefallen lassen, von den Arbeiten seines reifen Alters in Schatten gestellt zu werden.“ Dass hier der Name Schönkopf gar nicht erwähnt wird, scheint logisch, auch bei Julius Bab in „Das Leben Goethes. Eine Botschaft“ fehlt er. Doch weil Goethe selbst das Verfahren letztlich vorgab, das Bild seines Lebens anhand von Frauen und Mädchen zu periodisieren, kennen wir es bis heute kaum anders.

Auf Gretchen folgt deshalb Käthchen und wer bei Gretchen noch bereit ist, an eine Konstruktion des späten Autobiographen zu glauben, der von einem zum anderen Gretchen leiten wollte, ist Käthchen vollkommen zweifelsfrei keine Fiktion. Wir wissen, wann sie geboren wurde: 22. August 1746, sie war also fast auf den Tag drei Jahre älter als Goethe, der Jungstudent aus Frankfurt am Main, in seinen ersten Jahren fern der Heimat. Sie starb am 20. Mai 1810 in Leipzig, dem sie treu geblieben war. Vier Jahre zuvor, am 20. Februar 1806, war ihr Gatte Christian Carl Kanne gestorben (Julius Vogel nennt den 21. Februar als Todestag), den sie Anfang Mai 1770 geheiratet hatte. Bekannt ist, dass Goethe sein „Käthchen“ nur einmal noch sah, 1776, dass er Briefe an sie richtete zwischen September 1768 und Januar 1770. Nicht nur Heinrich Teweles, dessen Buch von 1922 Arthur Eloesser sehr wohlwollend besprach, versammelte die spärlichen Dokumente. Zuvor hatten es Otto Jahn (16. Juni 1813 – 9. September 1869) und Gustav Woldemar Freiherr von Biedermann (5. März 1817 – 6. Februar 1903) getan, Max Morris stellte für seine Dokumentation „Der junge Goethe“ auch alles aus Leipzig zusammen, dessen ersten Band Arthur Eloesser ebenfalls besprach.

Für ein 1932 zuerst erschienenes Buch „Der Rokoko-Goethe“ zeichnete der Wiener Autor und Historiker Heinz Kindermann als Herausgeber verantwortlich. 1970 publizierte in ihrer „Reihe Irrationalismus“ die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt davon einen unveränderten reprographischen Nachdruck. Kindermann war am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP geworden, er wurde Fördermitglied der SS, was seiner Rehabilitation in Wien später ebenso wenig im Wege stand wie den hohen Auszeichnungen, mit denen er nach 1965 geehrt wurde. Auch „Der Rokoko-Goethe“ versammelt die einschlägigen Dokumente und Werke, die Briefe und Gedichte der Leipziger Jahre. In Kindermanns 1952 erstmals veröffentlichtem Buch „Das Goethebild des XX. Jahrhunderts“ fällt der Name Kätchen (ohne h) Schönkopf als erster der Frauen, vor denen Goethe immer wieder die Flucht ergriff. 1923, auf dem Höhepunkt der deutschen Inflation, war „Goethes erstes Mädchen“, das Buch von Teweles, etwas wie Trost, „nachdem auch die Natur in diesen schlimmen Zeiten so teuer geworden ist. Kleine Blumen, kleine Blätter – der unvergessene und unersetzte Direktor des Deutschen Landestheaters in Prag hat seine zu frühe Muße benutzt, um sie zum Strauß zu binden.“

So seltsam es klingen mag: um an Arthur Eloessers Aussagen zu Goethes „Annette“ zu erinnern, auch weil sie kaum Alterungsspuren zeigen und von niemandem wirklich überholt wurden, sollte man auf Parallel-Lektüre anderer Autoren zum Thema verzichten. Sonst geht es einem wie mit Sabine Appel, die ein dickes Buch über Goethe und die Frauen schrieb, Titel „Im Feengarten“. Dort ist Käthchen mit einem Theologen verlobt, als Goethe seine Leipziger Jahre beginnt. Wenn es so gewesen wäre, hätte sich alles mit absoluter Sicherheit anders entwickelt. Tatsächlich aber hat sich Käthchen erst mit jenem Mann verlobt, den sie dann tatsächlich heiratete, als die Nicht-Affäre mit Goethe längst zu Ende, der Stammelbrief-Schreiber längst in seiner Heimatstadt. Und dieser Mann Christian Carl Kanne war Jurist, promoviert im Jahr der Verlobung. Eloesser hat darauf verzichtet, diesen Lebensdetails überhaupt viel Aufmerksamkeit zuzuwenden. „Käthchen Schönkopf, genannt Annette, Goethes erstes Mädchen? Sie war die erste nicht, wird der Goethe-Philologe mephistophelisch einwenden. Aber das Frankfurter Gretchen, das ihr zuvorkam, ist doch sehr viel mehr Dichtung als Wahrheit und fast zum Märchen geworden wie die Kindheit selbst. Dieses Gretchen, ganz unter der guten Gesellschaft, führte ja nicht einmal einen Familiennamen.“

Ob Käthchen „vollbusig“ war, wie Sabine Appel spekuliert, war Eloesser keine Überlegung wert: „Von den Frauen in Goethes Leben ist Annette die erste historische Figur, sogar etwas zu historisch, weil sie es zu keinem legendarischen Eigenleben gebracht hat, etwas Vorläuferin und Rosalinde vor den Julien, die sich nun immer dichter folgen. Annette lebt nicht im Gesang, wie Friederike, Lotte, Lili, Charlotte, Christiane, wie Minna Herzlieb, Marianne von Willemer, und Ulrike von Levetzow, die bestimmt Goethe letztes Mädchen war. Nicht, weil sie schlechter war als die anderen, sondern weil der Studiosus Goethe, der in Leipzig noch recht a la mode lebte, die die feinen Manieren des Dichtens nach Wieland, Gellert, Weise lernte, noch nicht der richtige Goethe war.“ Goethe war noch gar nicht Goethe, diese These stimmt passgenau zu Herman Grimm. Dass der Kritiker den Namen Rosalinde ins Spiel bringt, zielt auf Shakespeare, dies für die erfahrungsgemäß extrem wenigen Uneingeweihten. Ein gewisser Romeo war vollkommen unsterblich in eine Rosalinde verliebt, ehe ihm eine Julia ins Auge fiel und sofort hatte er keine Erinnerung mehr, wer Rosalinde gewesen sein könnte. Manche Autoren verzichten auf ein d im Namen, was zu einer (deutschen) Rosaline führt.

„Zwei Bändchen, lange unbekannt und erst posthum veröffentlicht, gehören dem Mädchen, das in dem gutbürgerlichen Hause Schönkopf für Goethes Tisch sorgte, seine Wäsche durchsah und ihn bei knapper Zeit und enger Aufsicht auch mit ihren Gunstbeweisungen knapphalten musste. Das Buch Annette und das Leipziger Liederbuch sind Rokokotändeleien von einem, der in seiner Unreife schon einmal sehr klug, sehr fertig war, bevor das Genie in Sturm und Drang auch das Erdreich seiner Dichtung fand.“ Neunzehn Dichtungen stehen unter dem Titel „Annette“, überliefert als Schönschriften von der Hand des Goethe-Freundes Behrisch, „Goethes Leipziger Liederbuch“ ist unter diesem Titel erst 1932 gedruckt worden. In den entsprechenden Sammlungen zu den Leipziger Jahren finden sie sich unter „Neue Lieder“. Der Erstdruck von 1770 gab keinen Hinweis auf den Verfasser. Anders, etwas anders, erging es Goethes „Die Laune des Verliebten“: sie erlebte 1779 eine Liebhaberaufführung in Weimar, mit Goethe als Eridon, er spielte sich also selbst, wenn wir ihm selbst und der von ihm bestimmten Überlieferung glauben wollen. Und 1806 rückte das Vier-Personen-Stücklein ein in die Cotta-Ausgabe: leichtgewichtigste Anakreontik als Klassik.

Was den Kritiker Eloesser keineswegs daran hindert, seine Zweifel öffentlich zu machen: „Und was die „Laune des Verliebten“, Goethes erstes büßendes Bekenntnis, anbelangt, so weiß ich nicht recht, warum diese Schäferei mit ihren bebänderten Hirtenstäbchen zu Schüleraufführungen und Theatereröffnungen immer wieder abgestaubt wird. Aber Anette als Persönlichkeit, oder sagen wir lieber Käthchen Schönkopf verdient ihre besondere Huldigung insofern, als sie, wie hier anhand der Dokumente nachgewiesen, von Goethe so gut geliebt worden ist wie Friederike, die Lilli, die Lotte, die Charlotte usw.“ So gut geliebt ist eine freundliche Formulierung. Die Ähnlichkeiten, die zu Recht beschworen werden, sind keine der Güte, sondern solche sich wiederholender Fixierungen, sich wiederholender Gefühlsaufschwünge. Wie Schiller (angeblich) an faulenden Äpfeln in seiner Schublade riechen musste, um auf Schöpfertemperatur zu kommen, so musste sich Goethe verliebt fühlen und idealerweise mindestens eine Person haben, der er gleichzeitig von seinem Verliebtsein berichten konnte. Im Schönkopf-Fall war es Behrisch, der auch selbst mit mild homoerotischem Nebenton angeschmachtet wurde. Am Ende ging es regelmäßig um nicht sehr viel mehr als nichts.

Einige Jahre später schrieb Arthur Eloesser in seiner zweibändigen Literaturgeschichte dann: „Es war seine vorwegnehmend weltmännische, seine kavaliersmäßige Epoche im Leben und Schreiben. Das Schäferspiel „Die Laune des Verliebten“, in dem man eine echte Erregung aus seinem Liebeshandel mit Käthchen Schönkopf entdecken kann, erledigte er nach der Vorschrift der dramatischen Porzellanmanufaktur mit Eleganz und blumiger Empfindsamkeit“. Das ist keine Rücknahme der Fragezeichen aus dem Jahr 1923, nur mehr Abstand, mehr Einordnung. Doch zurück zur älteren Buchkritik: „Das Verhältnis war nicht an sich spielerisch, sondern die Dichtung, der modische Gefühlsausdruck um sie herum. Und wenn nach dem Wort des späteren Weisen nur der geschundene Mensch erzogen wird, der Studiosus Goethe hat in Leipzig nicht nur seine Haut, sondern beinahe sein Leben zugesetzt. Der Werther war noch nicht reif, der junge Patriziersohn aus Frankfurt trug da noch ein Zöpfchen. Hätte er die Leipziger Wirtstochter heiraten können oder sollen? Dass Goethe die kleine Annette nicht heiraten konnte, hat er sich bald verschwiegen, bald eingestanden.“ Vermutlich hat er nicht einmal spielerisch darüber fabuliert. Warum auch?

„Es war eine Liebe mit vorher gesteckten Grenzen, ein Verhältnis à concession, wie die Franzosen sagen. Und es war der Form nach auch eine Liebe à la mode, wie sie zu dem galanten Leipzig im Zeitalter der Empfindsamkeit gehörte. Der Jüngling musste lieben können, er war zweiter Klasse, wenn er kein Mädchen hatte. Genießend und leidend, gequält und quälend, übt Goethe hier Leidenschaft. Und nicht nur er, auch seine Freunde jubeln in der Genugtuung, dass er kein stolzer Phantast ist, dass er kein totes Herz hat. Denn das fühlende Herz musste man haben in der Rousseau-Zeit.“ Goethe übt – das ist der Kern. Noch in den viel späteren, den reiferen, den viel literarischeren Briefen an Charlotte von Stein übt Goethe. Deshalb auch geht er kaum je auf das ein, was Charlotte schrieb. Es geht um ihn, er knüpft an sich selbst an, schreibt sich selbst fort. „Diese Geschichte aus der empfindsamen und galanten Zeit geht im Reifrock und im geschnürten Mieder, das die damals noch unentbehrlichen Amoretten umspielen und umschielen. Käthchen Schönkopf war gewiss ein richtiger, junger, warmer Mensch. Annette ist eine allerliebste Meißner Figur. Ein Freund und Kenner hat sie in dem großen Goethe-Kabinett auf ihr besonderes Konsölchen gestellt.“

Dieses nur auf Heinrich Teweles und sein Buch bezogene Fazit hat Arthur Eloesser in seiner Literaturgeschichte nicht wiederholt, obwohl er sonst durchaus bei sich selbst nachgelesen hat, wie sich leicht zeigen ließe. „Es war die Liebe zur Liebe, die Goethe zu dem Leipziger Mädchen trieb, die ihn alle Skalen und Läufe lernen ließ, ein Spiel, das er noch nicht beherrschte und das den jungen Virtuosen aufrieb.“ Die Briefe, die Goethe im Verlauf von etwa anderthalb Jahren noch aus Frankfurt an Käthchen Schönkopf schrieb, haben Eloesser nicht mehr beschäftigt. „In der ganzen Liebesgeschichte ist etwas Ungesundes“, heißt es 1930. Er konstatiert nun eine „Tollheit, mit der er die unhaltbare Beziehung zu Käthchen in ein Hörigkeitsverhältnis mit den dazugehörigen Auflehnungen und Verletzungen verzerrte“, nennt es sogar „seelische Zerriebenheit, die ihn auch aus anderen Gründen ermüdete“. Immer, und das bleibt bis heute, ist der Blick auf Anna Katharina Schönkopf ein Blick auf Goethe. Seine Perspektive auf sie erschließt sich uns. Halbwegs. Auch wenn die frühen Dokumente keineswegs als Kommentar zu zwei Druckseiten in „Dichtung und Wahrheit“ gelesen werden sollten. Ihre Perspektive auf ihn bleibt uns auf immer verschlossen.


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