Johannes Urzidil: Goethe in Franzensbad

Expertinnen und Experten müssen nicht schlechten Gewissens zusammenzucken. Sie haben nichts verpasst, nichts übersehen, keine Fußnote überblättert, keine Bibliographie nur zitiert, ohne sie je in der Hand gehabt zu haben. Nein, es gibt kein Buch mit oben genanntem Titel, auch keine separate Schrift in einem Sonderband der indonesischen Schiller-Gesellschaft, deren Belegexemplare auf dem Transport einem verheerenden Brand im Packwagen der South-Indian-Railways zum Opfer fielen. „Goethe in Franzensbad“ ist ein Bastelsatz. Man nehme „Goethe in Böhmen“, ein ansehnlich geratenes Werk eben von Johannes Urzidil, und suche sich dort alles heraus, was er zum Thema zu Papier gebracht hat. Manche nennen dergleichen Forschungsarbeit, manche nur Recherche, letztendlich soll es Menschen geben, die den Wert von Personen- und Sachregistern zu schätzen wissen, weil ihnen dereinst der Lehrer, der Seminarleiter oder gar der Professor höchstselbst vom Katheder dies beibrachten. „Philosoph, hüte dich vor Hypostasierung!“ rief einst der Professor Gottfried Stiehler, dessen 16. Todestag am 3. Dezember wir auf keinen Fall begehen werden, vielleicht aber doch seinen 100. Geburtstag am 23. Juli kommenden Jahres. Denn an diesem Tag, es war ein Mittwoch, wurde er in Langebrück geboren, wo die Stiehlerstraße dennoch nicht ihm gilt.

Bescheidenheit also sei angesagt. Johannes Urzidil (3. Februar 1896 – 2. November 1970), der in Prag geboren wurde, in Rom starb, in England und den USA seine späten Jahre verbrachte, gehört zu den Autoren, die nie in aller Munde waren. Man zählt ihn zum so genannten „Prager Kreis“, über den Max Brod ein lesenswert informatives Buch geschrieben hat. Und es kam dahin, dass ihn die Böhmen, die Tschechen beinahe mehr schätzten als die Deutschen oder gar die Amerikaner. Wie auch immer: Eines schönen Tages veröffentlichte der Verlag Volk und Welt Berlin ein ziemlich dickes Buch, gedruckt auf ziemlich schlechtem Papier und es hieß „Die Rippe der Großmutter“. Das war 1976. Herausgeber Dietrich Simon (1939), im Verlag für Österreich und die Schweiz zuständig, hatte aus nicht weniger als sieben verschiedenen Urzidil-Büchern dies eine gemacht, ein Nachwort geschrieben und so der immer nach Literatur aus dem nichtsozialistischen Ausland begierigen Leser-Gemeinde der sich selbst gern als Leseland sehenden DDR Futter auf die Nachttische geliefert. Mehr kam dann aber nicht. Und ich? Neun Fundstellen fördert die Suchfunktion für www.eckhard-ullrich.de aktuell zutage, neunmal nahm ich die Gelegenheit wahr, auf ihn hinzuweisen, allein sechsmal davon in der Rubrik „Mein Goethe“, was einfach nahe liegt.

Meine Ausgabe von „Goethe in Böhmen“ entstammt der dritten Auflage von 1981, erschienen im Artemis Verlag Zürich und München. Seit Februar 2011 begleitet sie mich. Bei Artemis erschienen auch „Das Glück der Gegenwart. Goethes Amerikabild“, „Amerika und die Antike“ und „Da geht Kafka“. Den freilich besitze ich nur als Lizenz bei Langen Müller, dafür in einer augenfreundlichen Edition. Vier der sieben Bände, die Dietrich Simon für die DDR anzapfte, waren Artemis-Bände, die restlichen drei von Langen Müller. Ernst Schönwiese (6. Januar 1905 – 4. April 1991) hat in seinem Buch „Literatur in Wien zwischen 1930 und 1980“ auch Urzidil einen Beitrag gewidmet, der zu empfehlen ist. Nun aber eilig zu Goethe in Franzensbad. Der nämlich hatte es in Franzensbad selbst meist eilig, fuhr durch auf dem Hinweg, fuhr durch auf dem Rückweg, übernachtete, wenn überhaupt, dort vor der Weiterfahrt in die jeweilige Richtung. Einmal hatte er nach Achsenbruch seines Wagens dort einen Zwangsaufenthalt von zwei Nächten, was ihn gleich wieder auf den Kammerbühl trieb, dem Urzidil in seinem Buch sogar ein eigenes Kapitelchen genehmigte. Darauf komme ich zurück, denn zu diesem Berg entwickelte Goethe eine besondere Beziehung, schrieb alles in allem fünf Aufsätze zu ihm, Dornen im Auge aller, die nur den Dichter Goethe lieben.

„Franzensbad (Franzensbrunn) war seit 1793 durch das Verdienst des Egerer Arztes Dr. Bernhard Adler als Heilbad eingerichtet worden. Von 1806 an führten fast alle Reiserouten Goethes nach und von den westböhmischen Bädern über Franzensbad, das er so insgesamt dreiunddreißigmal berührte. Die Häufigkeit dieser wenn auch meist kurzfristigen Aufenthalte bewirkte eine besondere Vertrautheit mit dem Örtchen, dessen Mineralquellen (das „Egerwasser“) Goethe nicht nur auf der Durchfahrt direkt an den Brunnen zu trinken liebte, sondern sich auch mit den sogenannten „Franzensbader Krugfuhren“ nach Weimar kommen ließ (1808 sandte er noch vor seiner Abreise vierzig Flaschen davon an Christiane; Tagebuch 5. September). Goethes Aufzeichnungen enthalten zahlreiche Notizen über die Kuranlagen des im Aufschwung begriffenen neuen Bades, über die umgebende Landschaft und über die klimatischen, geologischen und sonstigen naturwissenschaftlichen Besonderheiten des Kreises.“ So eine Art Komprimat Urzidils zum Thema, untergebracht in der Darstellung des Jahres 1808. In diesem Jahr verbrachte Goethe nicht weniger als 122 Tage in Böhmen, ein Drittel des Jahres also, das wiederholte er 1810 und übertraf es 1812, als er gar 136 Tage blieb. 1813 blieb er letztmals mehr als 100 Tage, 1823 zum Abschied 70 Tage.

Urzidil kannte die Goethe-Stätten seiner alten Heimat, seines „Geburtslandes“, wie er einleitend schrieb. Und wandte doch zusätzlich enorme Arbeit auf, um aus „Goethe in Böhmen“ letztlich das Standard-Werk schlechthin zum Thema zu machen. Die kleinteilige Gliederung erlaubt die Lektüre in Portionen sehr gut, den Kapiteln zu einzelnen Jahren, die den ersten Teil bilden, „Siebzehnmal Böhmen“, können zwanglos Kapitel der anderen Teile als Hintergrund- und Zusatzinformationen zugeordnet und gelesen werden. Zu Franzensbad, wie erwähnt, eben das „Kammerbühl“. Einmal wird Franzensbad auch Schauplatz der unendlichen Geschichte „Goethe und die Frauen“. Den Mittelpunkt dafür bildet Sylvie von Ziegesar (21. Juni 1785 – 13. Februar 1858), die sich bisweilen auch als Silvie geschrieben findet. Astrid Seele, Autorin von „Frauen um Goethe“ in der Reihe der Rowohlt-Monographien, hat auf sie verzichtet zugunsten von Minchen Herzlieb im Jenaer Kontext, ohne sie generell unerwähnt zu lassen. Dafür hat in vorausgreifend-ausgleichender Gerechtigkeit der berühmte Paul Raabe (21. Februar 1927 – 5. Juli 2013) eine ganzes Buch um beide gemacht: „Goethe und Sylvie. Briefe, Gedichte, Zeugnisse“, als Band 1446 in der Insel-Bücherei von 2018 greifbar oder in der Cotta-Ausgabe von 1961. Doch auch Urzidil hält seine Leser nicht zu kurz.

„Vielmehr war er vibrierend und äußerst beweglich, was sich schon darin zeigte, dass diese böhmische Epoche Goethes sich auf verschiedenen Theatern abspielte: vom 15. Mai bis zum 9. Juli in Karlsbad, vom 9. bis zum 21. Juli in Franzensbad, dann bis zum 30. August in Karlsbad und nachher bis zum 12. September wiederum in Franzensbad, wozu noch nicht weniger als dreißig Ausflüge in die betreffenden Umgebungen kommen … von Franzensbad aus unter anderem zweimal nach Eger, nach Liebenstein, St. Anne und achtmal auf den erloschenen Vulkan Kammerbühl (Kammerberg). Anlass zu diesem häufigen Szenenwechsel bildete … vor allem die Primadonna dieser vulkanischen Phase, Silvie von Ziegesar.“ Silvie von Ziegesar heiratete später einen Herrn Friedrich August Koethe, was bis heute immer wieder mal einen Scherzkeks auf den Plan ruft: von wegen nur ein Buchstabe getauscht. Bei Paul Raabe sind die Jahre bis 1817 mit Zeugnissen belegt. Goethe wurde sogar Pate des ersten Kindes von Koethe und Silvie. Weil die Familie Ziegesar am 1. Juli 1808 von Karlsbad nach Franzensbad übersiedelte, folgte ihnen Goethe, und zwar klammheimlich: „Dort mietete er sich im gleichen Haus ein wie Ziegesars.“ Was zu Schwierigkeiten mit Marianne von Eybenberg führte, doch das wäre eine andere Geschichte.

„Ein Goethe kann selbstverständlich in Franzensbad nicht unbemerkt bleiben. Dem Verkehr mit Kurgästen ist nicht auszuweichen. Am 10. Juli nimmt er an dem Hochzeitsball der Demoiselle Genofeva Adler teil … Dabei bot sich Gelegenheit zu einigen Tänzchen mit Silvie“. Zu Hause, auch das wäre eine andere Geschichte, war Goethes Christiane keineswegs in naiver Ahnungslosigkeit befangen, er ließ ihr hie und da Informationen zukommen, die man als Andeutungen lesen könnte. Es handelt sich um das sattsam bekannte Thema der „Äugelchen“ in Goethes Leben, bei Astrid Seele spielt eine Vorliebe für weiße Kleider eine erklärende Rolle, wofür Johannes Urzidil wiederum keine spezielle Sensibilität entwickelt. „Als er nach seinem wieder aufgenommenen Karlsbader Aufenthalt sich Ende August abermals nach Franzensbad zur Nachkur begab, unterhielt er sich auf der Fahrt mit Riemer über einen eminent erotischen Vorwurf. Es war der Stoff zu dem Gedicht „Das Tagebuch“ … Das Gedicht wurde dann 1810 geschrieben. Als aber 1811 in der Gegend von Franzensbad ein Achsenbruch an Goethes Reisewagen einen Aufenthalt verursacht, notiert er ganz im Sinne jenes Gedichtes: „Das Übel macht eine Geschichte, das Gute keine.“ Franzensbad genoss immer den Ruf eines die Liebes- und Lebenskräfte anregenden Kurorts.“

„Im Mittelpunkt des Franzensbader Kurlebens jedoch standen zwei Wiener Damen, auf die Goethe schon in Karlsbad von seiner in Wien ansässigen Freundin Marianne von Eybenberg neugierig gemacht worden war. Es waren dies die schöne Cäcilie von Eskeles, geborene Itzig, und deren Schwägerin Eleonore von Fließ.“ Ihnen liest Goethe vor aus eigenen Werken und Riemer, Friedrich Wilhelm Riemer (19. April 1774 – 19. Dezember 1845), der Goethe seit 1806 immer wieder nach Böhmen begleitet, notiert: „Jüdische Frauen besitzen die Gabe, sein sensibles Publikum zu sein, öfter in noch liebenswürdigerer Gestalt“. Urzidil ergänzt, dass Goethe die Verbindung mit diesen beiden Damen auch in späteren Jahren aufrecht erhielt. Und hält dies fest: „Die Kurliste zeigt auch in Franzensbad, ebenso wie in Karlsbad, ein Überwiegen russischer und polnischer Aristokraten auf“. 1811 dann der schon erwähnte Achsenbruch auf schlechter Straße: „Es wurde 2 Uhr früh, bevor Goethe und Riemer in dem beschädigten Vehikel nach Franzensbad gelangten, wo sie sich infolge der notwendigen Reparatur auf zwei Tage einrichten mussten. Aber die Wartezeit vergeht schnell. Man betrachtet die Aufzüge, Volkstrachten und Marktfreuden der Landeskirchweih (16. Mai, St. Johann von Nepomuk) und besteigt und studiert von neuem den Kammerbühl.“

Am 17. Mai ist der Wagen wieder reisefertig, es gibt keinen Grund zu bleiben. 1812 findet die in die Geschichte eingegangene historische Begegnung mit Beethoven statt, der von Franzenbad her auf der Heimreise war. „Die Nachwelt hat mit Behagen dennoch viele Aufsätze, ja ganze Bücher darüber geschrieben, wie kläglich devot sich Goethe und wie bewundernswert hochgemut sich Beethoven benommen habe“. Urzidil enthält sich des Kommentars. Noch 1822, während seines vorletzten Böhmen-Aufenthaltes, von dem Goethe zu diesem Zeitpunkt freilich nicht ahnt, dass es eben der vorletzte ist, bleibt er an Franzensbad interessiert: „Dass auch Franzensbad besucht wurde, ist selbstverständlich. Die „Büchervermehrungsliste“ führt neues Material über das Bad an, so Franz Ambros Reuß, „Beschreibung des Kaiser Franzensbades“ und E. Ossan „Mineralquellen bei Kaiser Franzensbad“. Auch solch anhaltendes Interesse muss oben erwähnten, letztlich falschen Freunden Goethes ein Ärgernis sein, zog es doch Zeit ab vom Werk in deren Sicht, die blind war dafür, dass genau das alles eben auch Werk war und bleibt. „Ein wenig abschätzig war es wohl, wenn er (am 27. Mai 1807 durch Franzensbad fahrend) in sein Tagebuch einträgt: Merkwürdig, dass die Pfaffen sich keines Gesundbrunnens und Bades bemächtigt“ haben. Auch das konnte also Goethe bewegen.

Und eine weitere Person war für ihn mit Franzensbad verbunden: „Als er 1818 nach längerer Pause wieder nach Böhmen kam, begrüßte ihn Josephine in Franzensbad. Sie sprachen über Tod und Verklärung Maria Ludovicas.“ Die Rede ist von Josephine O'Donnell (1779 – 1833), die Hofdame bei der Kaiserin Maria Ludovica war, zu der Urzidil wiederum im zweiten Teil seines Buches, „Drei Frauen“, ein eigenes Kapitel verfasst hat. „Und als er dann fünf Wochen später wieder durch Franzensbad kam, war es der Gedanke an Josephine und die Vision Maria Ludovicas, aus denen sich die „Divan“-Verse im „Buch der Betrachtungen“ formten“. Womit Franzensbad auch ein Bezug zum „Westöstlichen Divan“ zugewiesen wäre. „Der „Divan“ wurde ferner in diesem Sommer noch um das in der Nacht vom 13. zum 14. September in Franzensbad (unmittelbar vor dem Verlassen Böhmens) geschriebene Gedicht des „Buchs der Betrachtungen“ bereichert: Woher ich kam? Es ist noch eine Frage“. Einem der Kammerbühl-Aufsätze entnimmt Urzidil ein Zitat, dem er umgehend die Qualität eines goldenen Wortes beimisst: „... wo ein bedeutendes Problem vorliegt, ist es kein Wunder, wenn ein redlicher Forscher in seiner Meinung wechselt.“ Zwar geht es dabei nur um den Vulkan, doch wäre Goethe nicht Goethe, schaute er nicht sofort auch weit über Böhmen hinaus.


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