Arthur Eloesser in der DDR: Victor Klemperer
LTI ist eine Abkürzung. Sie bedeutet: Lingua Tertii Imperii, Sprache des dritten Reiches. All die zahlreichen Absolventen des Kleinen Latinums unter uns wissen sofort Bescheid, wir reden nicht von den Absolventen des Großen Latinums, die Fehler in den Ovid-Übertragungen von Rudolf Schottlaender mühelos herausfinden würden, hätte Rudolf Schottlaender denn den Ovid überhaupt übersetzt. LTI ist eine professorale Abkürzung, die sich der Romanistik-Professor Victor Klemperer ausdachte, als er schrittweise nicht nur Lehrstuhl und Arbeitsthematik verlor in den Jahren von 1933 bis 1945, sondern als zunehmend diskriminierter „Sternträger“ immer weniger Möglichkeiten fand, sich überhaupt in einer ihm gemäßen Form zu betätigen. Tagebuch hatte er schon vor 1933 geführt, Tagebuch führte er auch nach 1945 weiter bis 1959. Und in diesem Tagebuch sammelte er, mehr oder minder systematisch, mehr oder minder planvoll, Belege für sein Porträt der LTI, das nach der Flucht aus Dresden im Februar 1945 und nach der Rückkehr nach Dresden Monate später in sein „Notizbuch eines Philologen“ (so der Untertitel) einging. Dem Buch-Titel „LTI“ gilt ein eigener Wikipedia-Eintrag mit derzeit zirka 75 Aufrufen pro Tag, die Versionsgeschichte lässt sich heute volle zwanzig Jahre zurückverfolgen. LTI ist eine typisch professorale Abkürzung: sie schließt aus.
Das Buch ist in 36 Kapitel gegliedert, standesgemäß römisch, sprich lateinisch, nummeriert. Im Schnitt kommt ein Kapitel auf weniger als zehn Seiten, die längeren werden von den etwas kürzeren kompensiert. Das Kapitel XXVIII trägt den Titel „Die Sprache des Siegers“, was bereits 1947, als „LTI“ in erster Auflage bei Aufbau Berlin erschien, einer Fußnote bedurft hätte, denn die Sprache des Siegers war ja nun die Sprache des katastrophalen Verlierers. Der Wikipedia-Eintrag vermeldet zum Kapitel XXVIII nichts, er geht von XXVI nahtlos zu XXXII über, was ja nur bedeuten kann, dass keinem der aktuell angegebenen 50 Beiträger zum Eintrag auch „Die Sprache des Siegers“ irgendwie wichtig erschien. Dagegen lege ich stillen Protest ein: Kapitel XXVIII beinhaltet eine fundamentale, nachträgliche Rufschädigung Arthur Eloessers, indem es sein letztes Buch „Vom Ghetto nach Europa“ (Jüdische Buch-Vereinigung Berlin 1936), Ende Februar/Anfang März 1936 auf den bereits extrem eingeschränkten Markt für jüdische Neuerscheinungen gekommen, fast völlig unabhängig von seinem tatsächlichen Inhalt in Zusammenhänge stellt, die keineswegs nahe oder auf der Hand liegen. Für Victor Klemperer ist Eloesser ein Fall des „Übergreifens der LTI ins feindliche Lager“. Dass das eine späte, eine zu späte Diagnose ist, verrät das Buch „LTI“ nicht.
In Kapitel XXVIII lesen wir zunächst: „Es ist nicht die wehrlose Resignation, mit der dieser liberale und ganz assimilierte Literat seine Ausschaltung hinnimmt, es ist nicht einmal die halbe und notgedrungene Hinwendung zum Zionismus, was mich an Eloessers Buch am stärksten frappierte und erschütterte. Die Verzweiflung und das Suchen nach einem neuen Halt waren allzu verständlich. Aber der Schlag ins Gesicht, der ständig wiederholte Schlag! In diesem gepflegten Buch ist die Sprache des Siegers in einer Unterwürfigkeit übernommen, die alle charakteristischen Formen des LTI wieder und wieder anwendet.“ Man darf dem in Dresden in einem so genannten „Judenhaus“ wohnenden Klemperer natürlich nicht unmäßig verübeln, dass ihm Eloessers Tod am 14. Februar 1938 entgangen war. Gar nicht verübeln darf man ihm, dass der Tod von Margarete Eloesser nach dem Transport aus Berlin nach Riga nicht zu seiner Kenntnis gelangte, wenngleich ihm die Berliner Transporte ins Ghetto Litzmannstadt durchaus bekannt waren. „LTI“ aber erweckt den völlig falschen Eindruck, als habe Klemperer das Buch „Vom Ghetto nach Europa“ bald nach dessen Erscheinen in seinen Händen gehalten. Tatsächlich aber meldet das akribisch geführte Tagebuch eine Lektüre erst aus dem Jahr 1942. Und zwar eine keineswegs vollständige Lektüre.
Wir verbleiben beim Buch „LTI“, denn die Tagebücher Klemperers sind erst sehr viel später gedruckt worden und durchaus nicht in seinem ursprünglich geäußerten Sinne. „Mit Arthur Eloesser war ich, ohne ihn je persönlich kennengelernt zu haben, buchstäblich aufgewachsen. Als in den neunziger Jahren mein literarisches Interesse sich zu regen begann, war er der Theaterkritiker der „Vossischen Zeitung“, und ein solcher Posten schien mir damals einer der höchsten und beneidenswertesten.“ Für einen Philologen sind diese Angaben ungewöhnlich unpräzise, vermutlich aus schlichter Unkenntnis. Eloesser war nie der Theaterkritiker der „Vossischen Zeitung“, er war immer einer der Theaterkritiker der „Vossischen Zeitung“, hatte immer mindestens einen Kollegen neben und über sich, der das Entscheidungsrecht innehielt, wer zu welcher Aufführung geht. In der ersten Phase war das vor allem Alfred Klaar, später Monty Jacobs. Das erklärt manche Auffälligkeit im Corpus der vielen hundert Kritiken. Klemperer weiter: „Sollte ich heute Eloessers Leistung zusammenfassend beurteilen, so würde ich sagen, sie stimmte genau zur damaligen (noch nicht Ullsteinschen) „Tante Voß“; es war keine aufregende, aber eine gediegene, keine revolutionäre, aber eine brav liberale Leistung.“ Auf welcher Basis er das so tapfer behauptet, verschweigt Klemperer.
Wen rechnete er unter die revolutionären, die aufregenden Kritiker? Was ist brav liberal im Unterschied zu einfach nur liberal? Darf man einem Sprachkritiker, der das feine Sensorium dauersimuliert, dergleichen einfach durchgehen lassen? „Und weiter ist von diesen Kritiken mit aller Bestimmtheit zu sagen, dass sie ohne jede nationalistische Enge und immer mit dem Blick auf Europa - wie denn Eloesser meiner Erinnerung nach eine tüchtige Doktorarbeit über Dramatik der französischen Aufklärung geschrieben hat -, dass sie immer durchaus und in aller Selbstverständlichkeit deutsch gehalten waren; niemand hätte auf den Gedanken kommen können, dass sie etwa von einem Nichtdeutschen herrührten.“ Wenn Klemperer die Doktorarbeit tüchtig nennt, sollte man annehmen, er habe sie auch gelesen. Das wiederum ist schwer vorstellbar, da sich die tatsächliche Doktorarbeit „Die älteste deutsche Übersetzung molierescher Lustspiele“ nennt und keineswegs die Dramatik der Aufklärung behandelt, mit der sich zwischen 1933 und 1945 vor allem Klemperer selbst befasste für eine große Arbeit über die französische Literatur des 18. Jahrhunderts. „Und jetzt, welche Veränderung! Trostlosigkeit des Gescheiterten, des Ausgestoßenen von der ersten bis zur letzten Zeile. Das ist buchstäblich zu nehmen.“ 1936 hätte Klemperer anders geurteilt.
Und genau hier liegt das Problem der inhaltsfremden Beurteilung des Buches „Vom Ghetto nach Europa“, in dem Victor Klemperer, wie sich vermuten lässt, lediglich nach Belegen für sein vorher feststehendes Grundurteil suchte. Denn, und jetzt wird es Zeit, dem bisher nur erwähnten Umstand Bedeutung zu geben, Klemperer blätterte in Eloessers Buch volle sechs Jahre nach dessen Erscheinen, vier Jahre nach dem Tod Eloessers und natürlich offensichtlich völlig unbeeindruckt von den gar nicht so wenigen Kritiken am Buch in der bis 1938 noch legalen, wenn auch eingeschränkt wirksamen jüdischen Publizistik. Selbst das Motto von Ludwig Lewisohn, dessen Namen Klemperer nicht nennt, von dem er aber weiß, dass es ein amerikanischer Verwandter Eloessers ist, muss als Beleg herhalten. Lewisohn (30. Mai 1882 – 31. Dezember 1955) war ein in Berlin geborener Vetter Eloessers, seine jüdischen Eltern emigrierten 1890 in die USA, wo er eigene Erfahrungen mit antisemitischer Diskriminierung machte, weshalb sein Satz „We are not wanted anywhere“ eher eine sachlich-schlichte Erfahrung als resignierte Trostlosigkeit verkörpert. Mit kaum zehn willkürlichen Beispielen, acht Namen aus dem letzten Buch Eloessers glaubt Klemperer seine Mission erfüllt, von der freilich nie ganz klar wird, worin sie eigentlich bestehe.
Denn alles, was Victor Klemperer der LTI zuordnet, ist anfechtbar, mit sehr wenigen Ausnahmen. Er hat das selbst gemerkt und kommt deshalb immer wieder auf sehr wenige Fälle zurück: fanatisch und Fanatismus. Bereits die Nazifizierung der Vorsilbe ent- ist fragwürdig, schon, wenn man seine eigenen Beispiele begutachtet. Wenn es um harmlose Wörter wie holen geht, zieht Klemperer seine Wunschbedeutungen buchstäblich an den Haaren herbei, es ist alles nachlesbar. „Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer wieder meine Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre.“ Konsequent gedacht, würde dies bedeuten: das Seil war sehr niedrig gespannt: ein Absturz nahezu gefahrlos. Sensiblen Sprachkennern müsste dergleichen auffallen. „Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit und einige für immer, ins Massengrab legen.“ Gilt hier nicht auch für ihn selbst, was er zuvor in Kapitel I allgemein behauptet hatte? „Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewusst in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag.“ Schwer zu sagen, welche Vorstellung Klemperer von Massengräbern hatte und den Liegezeiten darin, ihr metaphorisches Potential ist arg überschaubar.
In „Tagebücher 1942“ steht unterm Datum 28. April 1942: „Ich lese Arthur Eloesser, „Vom Ghetto nach Europa“. Das ist ein besonderes Kapitel, die Einwirkung der LTI auf die Juden.“ Da fängt es schon an: Eloesser schreibt, wie der Untertitel klar aussagt, über „Das Judentum im geistigen Leben des 19. Jahrhunderts“. Was also könnte Klemperer meinen? Auf die deutschen Juden des 19. Jahrhunderts hat die LTI wohl eher nicht gewirkt, es gab sie ja noch gar nicht. Nimmt Klemperer vielleicht den einen Eloesser für die Juden unter Einwirkung des LTI? Übertrieben wissenschaftlich wäre das nicht. Wie ist er überhaupt mit sechs Jahren Verspätung an das Buch gekommen? Kein Wort dazu. „Ein deutscher Jude, einerlei welchen Berufs, kann heute nichts schreiben, ohne die Spannung Deutsch-Jüdisch ins Zentrum zu stellen. Aber muss er deshalb vor der Meinung der Nationalsozialisten kapitulieren und muss er ihre Sprache annehmen? Arthur Eloesser, già unbefangen deutscher Theaterkritiker der „Vossischen Zeitung“, tut beides ohne Einschränkung.“ Das italienische „già“ meint hier „bereits“ und unterstellt, dass ein „unbefangen“ deutscher Theaterkritiker schon quasi im Selbstlauf unterwegs ist zur Kapitulation vor der Nazisprache. Erst am 7. Mai 1942 (mein Vater feierte seinen 21. Geburtstag), erscheint der Name Eloesser abermals.
„Ich muss ein kurzes Notizblatt anlegen, ich muss mit Eloessers Buch vergleichen. Jüdische Literaten vor und nach der Machtübernahme, 1929 und 1936.“ Vergleichen will Klemperer hier mit Heinrich Spiero: „Ich las zu Ende: Heinrich Spiero, „Schicksal und Anteil“. Spiero ist ein Literat, der ungefähr mir parallel gearbeitet hat, etwa ein halbes Dutzend Jahre älter als ich.“ Das autobiographische Buch „Schicksal und Anteil“ erschien 1929 im Berliner Wegweiser Verlag, sein aus jüdischer Familie stammender Autor konvertierte schon als Kind zum Protestantismus und überlebte die Nazizeit in Berlin. Es fällt auf: Spiero hat er zu Ende gelesen, von Eloesser ist vorher und nachher nie mehr die Rede. Im Tagebuch auch nicht der geringste Beleg, die Behauptung über die angebliche Kapitulation Eloessers ist lediglich behauptet. „Die Sprache des 3. Reiches aber ist immer um mich und lässt mich keinen Augenblick los, bei der Zeitungslektüre beim Essen, auf der Tram, mit ihr lebe ich, für sie sammle und registriere ich absichtslos“, hieß es noch 1941. Da Victor Klemperers „LTI“ in der DDR von 1947 bis 1990 in einer Reihe von Auflagen in drei Verlagen in mir unbekannter Höhe immer wieder gedruckt wurde, bleibt das Fazit: sein verzeichnetes und alles in allem sehr kenntnisarmes Eloesser-Bild prägte das Eloesser-Bild der DDR folgenschwer negativ.