Mulackstraße 25 (2)

Die Mulackstraße hatte, ihrer strategischen Lage wegen, einen ziemlichen Vorteil für mich. Ich konnte an guten Tagen von dort zu Fuß zu den verschiedenen Gebäuden laufen, in denen die wunderbare Raumplanung der Humboldt-Universität zu Berlin meine diversen Seminare und Vorlesungen angesiedelt hatte. An schlechten Tagen lief ich zur S-Bahn Marx-Engels-Platz, von wo ich nur eine Station fahren musste, was geradezu einlud zum Schwarzfahren. Die U-Bahn benutzte ich selten, die Straßenbahn noch seltener und am allerseltensten die O-Busse. Mit ihnen, so meine dünner werdende Erinnerung, bewegte ich mich eigentlich nur rückwärts vom Stadion der Weltjugend, welches davor das Walter-Ulbricht-Stadion gewesen war und jetzt was ganz anderes ist, irgendwas mit Geschäft und Immobilie.

Nahe Marx-Engels-Platz war damals, heute siehe eben: Geschäft und Immobilie, ein kleiner Sportplatz. Auf diesem Sportplatz absolvierten wir angehenden Philosophen gemeinsam mit angehenden Theologen und einigen angehenden Historikern den sozialistischen Hochschul-Pflichtsport. Die sozialistische Sportpolitik hatte kurz zuvor auf höchster Ebene befunden, dass Basketball im Vergleich zu anderen sozialistischen Sportarten eine bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften eher weniger medaillenträchtig sei, was dazu führte, dass überzählige Basketballtrainer zu Hochschulpflichtsportlehrern umgeschult wurden. Auf die Umschulung selbst wurde nicht annähernd so viel Wert gelegt wie heute, wo eine ganze Umschulungswirtschaft am Aufschwung und der sinkenden Arbeitslosigkeit leidet, aber immer noch alle sieben Kilometer eine Filiale unterhält, vor der kleine rauchende Umschülergruppen stehen. Die umgeschulten Sportlehrer beherrschten außer Basketball wenig bis nichts und so musste ich eine Sportart ausüben, die für Brillenträger wie mich in einer Gesamtlänge von 176 Zentimetern nach heutiger Kanzler-Nomenklatur als suboptimal zu bezeichnen wäre.

Dem Pflichtsport fernzubleiben war innerhalb eines sozialistischen Universitätsstudiums eine größere Sünde als nicht der führenden Partei anzugehören. Ich habe Studenten gekannt, die ihrer Zulassung zur Hauptprüfung wegen eine halbe Woche lang täglich acht Stunden Sport trieben, um die Ausfälle auszugleichen. Die Versuchung zu Ausfallstunden war speziell nach dem ersten Brillenmassaker für mich beim Basketball unvergleichlich groß. Als ich später zur Leichtathletik wechselte, denn die war neben dem Sportschießen dazumal die einzige Alternative, hatte ich das Stundenkonto jedoch rasch ausgeglichen. Leichtathletik für Philosophie-, Theologie- und Geschichtsstudenten war ähnlich abwechslungsreich wie Basketball, wir rannten im oben genannten Stadion der Weltjugend immer rundherum, bis die anderthalb Stunden verrannt waren. Auf der anderen Straßenseite gab es eine studentischem Budget fügsame Sportlerkneipe, in der wir ein postsportliches Bier in unsere ausgetrockneten Langstrecklerhälse schütteten, das zweite stillte den Durst und dann bestiegen wir genannten O-Bus.

Die unmittelbar an die Doppelstunde sich anschließende Vorlesung Deutsche Geschichte habe ich immer verschlafen, wenn ich am Langstreckenlauf teilnahm und da ich immer am Langstreckenlauf teilnahm, habe ich die Geschichte immer verschlafen. Was mein bleibendes Interesse an ihr nicht schmälern konnte. Der Hörsaal für diese Geschichtsvorlesung hatte in der Mitte aus mir nicht erklärlichen Gründen eine Art Loge, in der man den Kopf vergleichsweise bequem nach hinten anlehnen konnte und da ich damals noch geräuscharm zu schlafen in der Lage war, hörte man mich nicht, wie ich eben leider auch nichts hörte. Mir sind später manche dieser Vorlesungen als sehr interessant geschildert worden.

Die Bestückung meiner ziemlich leeren Kochstube mit Mobiliar geschah aus der Nachbarschaft. Dort war zwei Hausnummern weiter eine alte Dame gestorben, was insofern kein Wunder war, als außer alten Damen und Studenten kaum jemand in dieser Gegend wohnte, soweit es die weniger tollen Wohnungen betraf. Studenten starben aus Gründen ihres Alters statistisch nachvollziehbar seltener, so dass mein Schnellkauf aus eher antikem Fundus erfolgte. Ich erwarb zwei Sessel, einen großen dreitürigen Kleiderschrank in Pseudo-Mahagoni-Kirschholz-Verschnitt und den schon erwähnten Spültisch mit zwei Schüsseln für insgesamt vierzig Mark der Deutschen Demokratischen Republik. Die beiden Tigermuster-Decken für meine beiden über Eck stehenden Liegen kosteten insgesamt 16 Mark der nämlichen Währung. Eine nötige Investition blieb den beiden Fenstern und der Tür vorbehalten. Ein frisch auf dem DDR-Heimwerker-Markt erschienenes Spezial-Weiß mit  Namen PUR-Lack, dessen Haupteigenschaft die phantastisch schnelle Trocknungsfähigkeit war, verwandelte die Innenseite meiner Tür und die vier Fensterflügel komplett in leuchtende Mahnmale einer unbekannten Renovierungswut. Noch Jahre später bis die postrevolutionäre Brachialsanierung meine schöne alte Bruchbude in einen Teil einer die gesamte obere Etage einnehmenden Wohnung verwandelte, leuchteten meine beiden PUR-Lack-Fenster wie Osram-Birnen in der Polarnacht.

Zu Fuß konnte ich aus meiner Mulackstraße in die Choriner laufen, wo in der 83 ein Freund wohnte, dessen Namen ich wegen seiner heute übergroßen Bekanntheit hier verschweige, er wohnte weit oben, hatte einen tollen Blick in einen toll vergammelten Innenhof und war einfach ein richtig guter Kerl (ist er heute noch, nur heute reißt ihn sein Dasein als Workaholic aus vielen menschlichen Beziehungen). Er zog später in die Schönhauser Allee. In der Wilhelm-Pieck-Straße neben der Post wohnte ein zweiter Freund, der sein unsozialistisch großes Auto in einer Garage in der Linienstraße untergestellt hatte und mich, wenn es sich ergab, mit diesem mit zur Uni nahm. Als ihn später die Mitarbeiter einer großen in der Lichtenberger Normannenstraße angesiedelten Staatsfirma offen beschatteten, weil er unmögliche Leute kannte und unmögliche Dinge tat, war ich bisweilen Zeuge, wie die Schattenmänner, während wir in der Dimitroff-Straße ein preiswertes Mittagessen einnahmen, draußen in ihren Beschattungstransportfahrzeugen warteten und dann immer in Sichtweite knapp hinter uns blieben. Wir langweilten sie wahrscheinlich extrem.

Später ist mein Freund, der heute immer noch mein Freund ist und an Bekanntheit den Erstgenannten nicht ganz erreicht, weil sein Lebensweg gewissen Brüchen nicht ausweichen konnte, in eine andere Wohnung der Wilhelm-Pieck-Straße umgezogen und dann schließlich in die Gormannstraße. In meiner Wohnung trafen wir uns eher selten, ihr Komfort hielt sich in schon beschriebenen Grenzen. Ich hatte meist nur Einzelgäste, mit denen ich Brühkaffee trank und rauchte und über den Weltlauf diskutierte. Am Abend, als das vierstündige Biermann-Konzert in voller Länge übertragen wurde, das die Ausbürgerung nach sich zog, war ich mit Freund Nummer 1 in Biesdorf zu einem Nicaragua-Fest. Er fuhr mich über Stock und Stein durch die Bauplätze des späteren Marzahn mit seinem Motorrad bis in meine Mulackstraße. Ich eilte zur Wohnung von Freund Nummer 2, der selbst nicht in Berlin war, mir aber den Schlüssel überlassen hatte, damit ich das Konzert sehen konnte. Ich sah es atemlos und mit anfangs fühllos vereister Stirn, Mitte November ohne Helm und ohne Mütze auf dem Rücksitz eines Motorrades quer durch Berlin gekommen, die Ohren hörten, die Augen sahen. Und meine Frau, die einmal im Monat ihren Haushaltstag mit dem Wochenende kombinierte, um mich in Berlin zu besuchen, sah alles auch.
Sergio B., einer meiner häufigsten Einzelgäste in der Mulackstraße, wurde, wie ich erst 1993 bei Akteneinsicht erfuhr, der erste Grund, warum die Normannen auch ein gewisses Interesse für meine konspirativ unorganisierte Person entwickelten.


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