Tagebuch

12. September 2023

Nachtrag Berlin: Unser Zimmer hat Nummer 208, wir fühlen uns fast wie früher am Stuttgarter Platz. Natürlich ist die U-Bahn Konstanzer Straße uns näher, was wir aber erst merken, als wir es testen. Die Öffentlichen Verkehrsmittel verschlingen in nicht einmal 48 Stunden 51,40 Euro für zwei Personen. Im Museum sehen wir nach Kurz-Blick in die Dauerausstellung die Fotoreportagen „Niemandsland und Musterdorf“, gestellte Situationen, die durch Bildtexte ein gewisses Interesse gewinnen. Wir treffen unseren Freund und Verleger Christoph, trinken ein wenig Cremant de Loire. Heute übertreffe ich zum zweiten Male nach dem 16. September 2019 die Traum-Marke von 20.000 Schritten: 20.123 zeigt die Uhr zu später Stunde. Das Buch „Lexikon Berliner Grabstätten“ führt uns leider mit seinen Angaben zum Wilmersdorfer Waldfriedhof Stahnsdorf völlig in die Irre: wir fanden Arthur Eloessers Grab zwar, aber nach einer Wald-Odyssee durch den Südwest Kirchhof.

11. September 2023

Das Museum in der Kulturbrauerei wird 10 Jahre alt und will mit mir zusammen feiern. So sagt es die freundliche Einladung, der ich natürlich gern folge. Denn ich bin selbst Gegenstand innerhalb der Dauerausstellung der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Nach der feierlichen Eröffnung war ich erst einmal wieder dort und wurde beinahe von einer Schweizerin in ihr teures Land zu einer Lesung geladen, der begleitende Gatte der Eidgenossin riet ihr aber ab. Die Lese-Reise hätte mich wegen der Schweizer Franken sehr gereizt, aber das ist alles vergangen und vergessen. Heute müssen wir in einer Berliner Pension einchecken, weil unser Stammhotel bei den Preisen so aufgeschlagen hat, dass wir nahe an die Schnappatmung kamen. Für morgen haben wir ein Reiseprogramm an Berlins Ränder geplant, wovon ein Nachtrag berichten wird. Dann gibt es am Wochenende nur noch einen Tagesausflug, dem eine längere Phase der Sesshaftigkeit folgt. 

10. September 2023

Die Gäste des gestrigen Hochzeitsfestes waren zum Teil schon auf den Beinen, als wir unser letztes Frühstück nahmen. Eine alte Weisheit demonstrierte ihre Wahrheit: Man soll lesen, was auf den Plakaten steht, wenn man ein Kurkonzert erleben will. Zwischen der Reka-Klinik und dem Kurhotel hatte zwar jemand die gestapelten weißen Plastik-Stühle malerisch aufgestellt, nur das Konzert gab es an diesem Sonntag im Kurpark, wo der zweite Tag des Rodacher Kurpark & Fischer-Festes tobte. Aber der freundliche Schall trug die blasmusikalischen Leckerbissen weithin. Man hörte auch dann, wenn man gar nicht hören wollte. Das Erlebnis war ein Mercedes-Fahrer, der mit einer Tochter und zwei offenbar sehr teuren Fahrrädern in unserem Nebenzimmer Quartier fand. Er schloss beide Räder zusammen auf dem Balkon (zweite Etage) an, damit sie niemand von dort stehlen konnte. Er hielt vielleicht sogar uns für potentielle Fahrraddiebe. Wir aber fahren morgen lieber nach Berlin.

9. September 2023

Nachtrag Bad Rodach. Heute mehr als sieben Stunden in den Saunen, Plätze im Schatten draußen zeitig gesichert. Inzwischen kennt man seine Nachbarn, weiß, wenn der unfassbare dicke ehemalige Berufsschullehrer im Pool sitzt, läuft nicht nur viel Wasser über den Rand, da gibt es Weltpolitik und die Erklärung sämtliche Phänomene vom Klimawandel bis zur Merkel-Diktatur. Ein Mann, der wirkt, als hätte er wegen unauffälliger, winziger Leistungsdefizite den Hauptschulabschluss knapp verpasst, kooperiert als Denker und Wissender. Überall regieren Idioten, sagt er, nennt als Beispiele Spanien und Italien. Das sollte unsere staatstragenden Medien freuen: das so genannte Volk nimmt nicht die Spur eines Blattes vor den Mund. Von wegen: man kann nichts mehr sagen. Man kann und man darf. Nach Ragout vom Rind, gebratener Hähnchenbrust und rosa Kalbstafelspitz gibt es heute im eigenen Saft geschmortes Nackensteak. Kein Veganer klebte vor der Küchentür: Frankenland.

8. September 2023

Nachtrag Bad Rodach. Zwei Rentner-Paare schlürfen zum Frühstück Sekt, als wäre das die normale Lebensform für sie. Ich sah das zuletzt in Lloret de Mar vor fast 30 Jahren. Besuche also offenbar in der Regel die sektfreien Hotels. Die Herrschaften klagten über die Gegenwart, einer nahm sogar den Satz in den Mund, früher sei alles besser gewesen. Ja, liebe Uralt-Bundesbürger, es gibt diesen Typ. Der fuhr einst Jahr für Jahr in die FDGB-Urlauberheime, wo die Badewannen halb mit Krimskoje gefüllt waren, man saß stundenlang im Frühstücksraum, wo alles immer so lange nachgefüllt wurde, bis der letzte Gast seine Tagesverpflegung in sozialistische Servietten verpackt hatte. Auch da war ich immer in den falschen Unterkünften, musste 7.25 Uhr am Platz sein und keine Sekunde später, sonst waren die leidlich gefüllten Teller auf den Tischen leer, 7.45 Uhr kam die nächste Schicht, wer nicht fertig wurde, musste draußen weiter kauen. Für Old Ossi und Ossine ist Rodach Naherholung.

7. September 2023

Nachtrag Bad Rodach. Was wir gebucht haben, heißt „Fränkische Wellness“. Wie zuletzt immer sind wir gestern Eisfeld Nord abgefahren. Als wir ankamen, war sogar direkt vorm Hoteleingang ein Parkplatz frei, den wir hätten behalten können. Von Zimmer 202 aus haben wir Ausblick auf die Reha-Klinik, die mich vom 19. Dezember 2022 – 9. Januar 2023 beherbergte inklusive Blick in den Innenhof. Gemischte Gefühle, passend dazu kauften wir Gemischten Satz aus dem Burgenland als Balkonwein, zum Drei-Gang-Menü natürlich Frankenwein. Zur Wellness gehören ein Obstteller mit Pralinen und ein Genusskorb aus der Region voller leckerer Dinge. Wir dürfen täglich die Therme besuchen, so lange wir wollen, auch eine Unterbrechung ist erlaubt, es gibt dafür eine zweite kleine Karte. Uns reicht die große. Aufgüsse mit 20 und weniger Teilnehmern haben wir seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt. Während meiner Reha durfte ich nicht in die Therme, es herrschte noch Corona.

6. September 2023

Wenn die „Junge Welt“ einen Mann bejubelt, den das, was manche Menschen aktiveren Hirns den politisch-medialen Komplex nennen, zurzeit steißtrommlerisch gern als Antisemiten oder auch als Putinisten bestempelt, dann scheint fast alles klar. Ist es aber nicht, denn der bejubelte Mensch, der heute 80 Jahre alt wird, ist Roger Waters. Der gehört zwar schon lange nicht mehr zu Pink Floyd, aber auch andere gehören schon lange nicht mehr zu Pink Floyd. „We don‘t need no education“ kennt jeder, sage ich mal im Brustton intellektueller Überzeugung, man selbst sei immer auch jeder. „Leave the Kids alone“. Das ist heute keine gute Forderung mehr, heute sollen die Kids möglichst Körner essen, wenn nicht fischfreie Fischstäbchen. Und sie sollen glauben, dass Deutschland kein Energie-Problem hat, warum auch?? Also, hau rein, Roger, Dein Gesang war nie meine Sache, ich hielt es mit David Gilmour. Auf dem Weg in ein paar Tage Urlaub will ich mal reinhören in Euch.

5. September 2023

„Kanzler gestürzt!“ In wie vielen Redaktionen hätte solch ein Satz zu spontanen Samenergüssen geführt? (Was durchaus als diskriminierend gelesen werden darf gegen jene, denen das nicht mehr automatisch gegebene biologische Geschlecht aufgrund einer Zuschreibung selbigen Erguss versagt.) Er ist aber nur hingefallen, genau auf sein Auge und das beim Sport. Was mich aus dem unangenehmen Gefühl befreit, mit meinen profanen Stürzen auf das rechte, drei Wochen später das linke Knie, nur einer zu sein, den es gar nicht so schlimm erwischt hat. Weshalb die Nachrichten, die ihre Häme hinter Langberichten über die Häme anderer verbargen, mich einfach nicht in ihr Blickfeld bekamen. Heute ist nebenher noch der 290. Geburtstag von Christoph Martin Wieland, dem Jan Philipp Reemtsma kürzlich die erste Biographie seit 70 Jahren widmete (so die Werbung), angeblich lang erwartet. Reemtsma hat sich tatsächlich vor allem selbst beschenkt: zu seinem 70.!

 

4. September 2023

Die Gesamtmenge alkoholhaltiger traubenbasierter Getränke, darunter sogar Beerenauslese, die mich Ahnungslosen an Sherry erinnerte, führte gestern zu einem seltenen Phänomen: unser Tatort-bezogener Weinbedarf wies auf einer Skala von Null bis Elf eine glatte Null aus. So folgten wir dem Geschehen um Ulrike Folkerts und Lisa Bitter ohne Wein, obwohl doch der Sonntag seit Einführung des Julianischen Kalenders oder etwas später unser Muskateller-Tag ist. Jeden Sonntag ein anderer natürlich. Nun denn. Der gestrige geht heute ins Rennen, was kein Dammbruch ist. Wie wir überhaupt meinen, man solle nicht jeden Scheiß zum Dammbruch ernennen, die Weggespülten echter Dammbrüche könnten sich diskriminiert fühlen, soweit sie nicht gleich ersoffen sind. Aus Dresden hören wir, dass dort „Der Besuch der alten Dame“ mit einem jungen männlichen Darsteller gezeigt werden soll. Bald als Hund von Baskerville eine Promenadenkatze im Leib eines Iltisses?

3. September 2023

Nachtrag: Die abendliche Weinprobe schlägt alle Weinproben, die wir kennen und vermutlich auch die, die wir nicht kennen. Wir werden zum Quartier gebracht, auch wieder abgeholt. Dem Frühstück folgt ein Sektfrühstück mit mitgebrachten Thüringer Bratwürsten aus Unterpörlitz, Chorgesang für den Senior-Chef im Ruhestand, der ein letztes öffentliches Solo singt für seine Tochter, die vor vierzig Jahren die Weinkönigin war und uns verwöhnt, als wären wir eine etwas aus den Nähten platzende Schar von Kindern. Es ist Kirchweih im Dorf, das wir nun erst ausführlicher erkunden. Weinberge überall, aber auch krähende Hähne. Meine App belobigt mich, weil ich sie jetzt 60 Tage in Folge nutzte, was mich zu Level 3 führte. Heute neu nur die Lorbeerkirsche, die man auf keinen Fall essen sollte. Wir starten, weil wir uns schwer trennen können, fast eine Stunde später, sind aber dennoch fast planmäßig wieder in Ilmenau. Jede Weinkiste ist mit Namen versehen, das hilft sehr.

2. September 2023

Nachtrag: Die Gegend ist neu für uns, auch wenn wir inzwischen schon an die 50 Sorten Wein von dort getrunken haben. Die Einladung zur Busreise bekommen wir seit einigen Jahren, immer stand ein anderer Termin im Weg. Nun endlich klappt es, etliche der Mitreisenden kennen wir, einige sehr gut. Wir steigen in Bad Kreuznach aus dem Bus, wo uns nach einer frei verfügbaren Pause eine Stadtführung erwartet. Im Kurviertel atmen wir Sole ein, die ein Zerstäuber in die Umgegend bläst, sitzen vor den Gradierwerk-Teilen, meinem miesen Husten tut das mehr als gut. Ich belichte in der Kurhausstraße eine Buntnessel, einen Gedenkstein für Friedrich Müller, der als Maler Müller ein wenig bekannt ist, in Kreuznach geboren am 13. Januar 1749, später noch das Schild an dem Haus, das als sein Geburtshaus gilt. Auch an Friedrich Christian Laukhard wird erinnert, der am 28. April 1822 in Kreuznach starb. Fröhlicher Empfang in Sommerloch, unser Quartier liegt in Braunweiler.

1. September 2023

Eine Eintragung vom 1. September 1973 gibt es nicht im Tagebuch, dessen allererster Band die Zeit vom 19. September 1971 bis zum 6. Dezember 1973 umfasst mit vielen großen Lücken. Die größte Lücke erhielt später den Titel „Kulturschock NVA“ und wurde ein Buch im Chr. Links Verlag. Jetzt auch schon wieder zehn Jahre her. Immerhin finde ich unter dem 19. September 1973 den Grund für mein knapp vierwöchiges Schweigen. Es war die siebente und letzte gemeinsame Ungarn-Reise mit meinen Eltern, angetreten am 30. August, beendet am 17. September. Vergeblich versuchte ich, in Ilmenau Reiner Kunzes „Brief mit blauem Siegel“ zu ergattern. Vergriffen, hieß es. Mein Exemplar entstammt der zweiten Auflage von 1974 und gehörte zuvor Dominique Krössin, die heute, wenn es keine Namensgleichheit gibt, Bezirksstadträtin für Schule, Sport und Kultur in Pankow ist. Da ich morgen in Bad Kreuznach und Umgebung auf Weinreise bin, verordne ich mir ein Kurzschweigen.


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