Tagebuch
14. Juli 2025
Julius Lothar Schücking, den man nicht kennen muss, schrieb „im Felde“, wie man das damals nannte, einen vier Seiten langen Aufsatz „Über Gattungen der Prosa“, mit dem Vorschlag, die Reichsschrifttumskammer möge doch verbindliche, an Beispiele gebundene Definitionen öffentlich machen, was Erzählung, was Novelle, was Anekdote, was Kurzgeschichte sei. Zum Glück war die Kammer mit anderem beschäftigt und das Feld verschlang Schücking 1944 in Russland, weshalb er unter die Vermissten gezählt wird. Den Roman wollte der gute Mann nicht definiert haben, denn er hatte schon selbst festgestellt, dass es darauf keine befriedigende Antwort gebe. Dann springt mir eine Buchbesprechung vors Auge: „Deutsche Geschichte von 1918 – 1939. Die Geschichte einer Zeitenwende“. Sollte unser Olaf tatsächlich den Begriff der Zeitenwende gar nicht erfunden haben? Oder wusste er es und hatte es nur vergessen? Er war ja unser vergesslicher Olaf, der Scholz eben.
13. Juli 2025
Heinz Knobloch hat, welch eine entsetzliche Erkenntnis, an der Wiege der uns allen verhassten Gendersprache gestanden. Heinz, war mein erster Gedanke, als ich seinen verheerenden Satz las, hast du in deinen späten Jahren noch mitbekommen, was du angerichtet hast: all diese doofen, diese erzdoofen Binnen-I, Sternchen, Schluckauf-Pausen beim Reden, Brech- und Würgeanfälle bei mir? Ich sehe sofort Super-Mompi vor mir, den Kurzzeit-Bürgermeister mit Rotschal, der immer von den Berlinerinnen und Berlinern redete. Knobloch redet von Lektorinnen und Lektoren, in umgekehrter Reihenfolge natürlich und schreibt dann: „... es fehlt unserer Sprache an einem Kniff, der die beiden Geschlechter vereinigt, grammatikalisch gesehen.“ Nein, an diesem Kniff fehlt es nicht, fehlte es nie, es fehlt unseren Hirnen ein Arschtritt, damit sie sich wieder mit Dingen befassen, die der zur Vollverblödung tendierenden Menschheit auf den Sprung helfen. Es gibt tatsächlich wichtige Dinge.
12. Juli 2025
Es gibt Prominente, die über ihre Pressesprecherinnen und -sprecher der Welt mitteilen, dass sie seit langem keinen Tropfen Alkohol mehr zu sich genommen haben. Das könnte mein Sprecher von mir so nicht vermelden, auch wenn die Kernaussage richtig wäre. Ich trinke aus Gläsern und in denen würde ein Tropfen zu rasch verdunsten. Tropfen vom Flaschenhals zu lecken gilt auch in meinen Kreisen als unfein, außerdem benutze ich so genannte Tropfenabschneider. Einer geht sogar mit auf Reisen, denn auch in näheren und ferneren Ländern müssen Tropfen abgeschnitten werden. „Jeder von uns muss angestoßen werden, damit der oder jener Groschen fällt“, schrieb einst Johannes Robert Becher. Manche müssen nicht einmal angestoßen werden, sie stoßen selbst an und rufen „Prost“ oder „Cheerio, Miss Sophie“. Wir wissen, wie es weitergeht. Ansonsten aber ist es zutiefst humanistisch, arme Alkoholtropfen zu sich zu nehmen, sie stünden sonst gefährdet auf der Straße.
11. Juli 2025
Aus den Niederungen der Berliner Nebenschauplatz-Politik für junge Kosmonauten auf die Höhen der Wellenkämme. Am 11. Juli 1995 schipperten wir auf einem rückblickend recht kleinen Schiff von Bornholm nach Simrishamn in Schweden. Vor Ort sah und erlebte ich den ersten Systembolaget meines Lebens, wurde vor den zugriffssicheren Bieren stehend fotografiert. Das Bild gab es später dann als gerahmtes Geschenk für mich. Ich erinnere mich der langen Leitung, die ich hatte, bis ich endlich begriff, wie das geht in solch einem Geschäft. Man musste eine Nummer ziehen wie bei uns im Arbeitsamt, das damals noch so hieß und nicht von Agenten geführt wurde. Und wenn die Nummer aufblinkte, durfte man sein Begehr vortragen. Immerhin gelang es mir, schwedisches Bier zu ergattern, in Bornholm war das danach wieder viel leichter mit dänischem Bier. Und wie sie alle kotzten! Wir warteten bis 1999 mit unserem nächsten Schwedentrip, dann voller Bierkauf-Weisheit.
10. Juli 2025
Die Berliner Zeitung meldet heute, dass die Mohrenstraße endlich Anton-Wilhelm-Arno-Straße heißen darf. In Kreisen der Fackelträger wird das Begeisterung auslösen, ehemalige DDR-Berliner erinnern sich, wie plötzlich überall unbekannte Widerstandskämpfer auf den Straßenschildern in Erscheinung traten, kein Mensch wusste mehr, wo diese Straßen waren. Aber das ist genau der Sinn. Denn den Ruf Berlins, den soll so ein Straßenname natürlich nicht länger schädigen. Bis zu zwei Millionen Tagestouristen wären wohl bei Fortbestand des Altbestandes nicht mehr gekommen. Was kann denn dieser Anton Wilhelm Arno dafür, dass er so weiß nicht ist wie ihr? Früher wurden die bösen Buben in ein Tintenfass getaucht. In Ermangelung der Mauer sollte bald auch Mauerstraße verschwinden als Name, das ist ein diskriminierender Name. Man könnte sie Allee der Grünen nennen. „Unbekannte schießen auf Auto“ steht auch da. Bekannte waren es zum Glück doch nicht.
9. Juli 2025
„Sündenfälle“ ist ein Buch, auf dessen Schutzumschlag der Titel ganz oben steht, links darunter der Name des Verfassers, es ist Victor Auburtin, rechts darunter, worum es sich handelt: Feuilletons. Dann sieht man unten einen Hut und knapp in der Mitte rechts das ä, das oben eigentlich zwischen das f und das erste l gehören würde. Ein Sündenfall ist das nicht, aber ein Einfall. Ich komme bis zur Seite 25 und habe mir den wundersamen Satz markiert: „Es gibt glänzende Schriftsteller, die nie etwas anderes geschrieben haben als über etwas.“ Das erinnert mich an meine philosophische Studentenzeit, deren Beginn vor 50 Jahren ich in Kürze ungebührend feiern werde. Da gab es die Frage. „Warum ist eher etwas als nichts?“ Auburtin schrieb auch: „Ein deutscher Schriftsteller, der noch nie einen Artikel über die Frau Rat geschrieben hat, macht sich neben seinen Brüdern geradezu verdächtig.“ Ich hielt wenigstens einen Vortrag über sie, bin raus aus der Verdachtszone.
8. Juli 2025
Knapp 20 Seiten komme ich in „Vom Wesen des Feuilletons“ voran, darunter haarsträubende Sätze über sowjetische Ansichten zum Feuilleton. Man musste zu DDR-Zeiten immer und überall eine prosowjetische Verbeugung einbauen. Das war im Felde des Sportes für mich in den späten Jahren des Ländchens zunehmend lächerlich, wenn sich die Reporter pflichtgemäß der sowjetischen Hilfe erinnerten beim Aufbau aller Sportarten, obwohl wir längst besser waren, sogar besser im Dopen. Die Emanzipation kam ausgerechnet, als der Dank wieder Sinn gehabt hätte, manche erinnern sich. Da verbot der oberste Wächterrat den „Sputnik“, den ewig niemand las, ähnlich wie die „Presse der Sowjetunion“, nun aber, wegen Gorbatschow, alle lesen wollten. Alle waren gierig auf alte Stalin-Geschichten, der Westen dachte vollends, Gorbi sei auf dem Weg zum Superstar. Hier einfach nur Dienstag, der Tag, an dem ich Radieschen vom Kraut befreie, weil ich der Radieschen-Esser bin.
7. Juli 2025
Wenn du um 10 Uhr einen Zahnarzttermin hast, heißt das keineswegs, dass du um 10 Uhr auch aufgerufen wirst. Früher blätterte ich dort in alten Exemplaren des „Eulenspiegel“, jetzt sitze ich auf dem Flur. Das hat den Vorteil, dass es mich besser vor Corona schützt. Aber vielleicht verwechsle ich das auch nur. Man kann wunderbar Newsletter auf dem Handy löschen, die man theoretisch auch abbestellen könnte, nur klappt das nie. Bisweilen findet sich auch eine Nachricht, die das Lesen lohnt. Wenn es zu lange dauert, habe ich als stille Reserve die Katzenvideos von Leo und Bobby, welchen ich gelegentlich als Aufsicht und Fütterer diene. Auf dem weiten Fußmarsch von der Krankenhausstraße bis zur Höhe werde ich eingesammelt unterwegs, nachdem ich knapp per Whatsapp meinen Standort mitgeteilt habe. So geht das heute und wir klagen, das zu viel Chlor im Trinkwasser ist. Was sind wir für undankbare Menschen. Wir zahlen unseren Wein mit Visa-Card.
6. Juli 2025
Ich beende „Rund um das Buch“ von Heinz Knobloch, es ist eines von nur zwei Büchern, die er im Verlag für die Frau Leipzig veröffentlichte, das andere heißt „Rund um das Bett“ und ist als „Sibylles Kopfkissenbuch“ bezeichnet. „Rund um das Buch“ ist ähnlich als „Sibylles Lesezeichen“ ausgewiesen. Nur solche Bücher führe ich in Urlauben mit mir, Bücher, in denen ich jederzeit die Lektüre unterbrechen kann. Lesezeit ist morgens, bis das Bad frei wird, zwischendurch, ehe die Tischzeit heranrückt, falls eine heranrückt. Wir laufen nach drei Tagen mit weniger Schritten die 10.000 wieder und verabreden, wie wir morgen verfahren, wenn ich meinen Zahnarzttermin habe. An uralte Zeiten erinnert mich „Sechs Tage in Heiligenstadt“, natürlich auch von Knobloch. Es erinnert mich an Ewald Heerda, den Urfreund meines Vaters, der sich in Heiligenstadt zum Autor
heimatgeschichtlicher Broschüren und Bücher aufschwang. Im Netz fand ich seine Todesanzeige.
5. Juli 2025
Wenn es heimwärts zehn Stunden dauert wie hinwärts, ist das kein Grund zur Beruhigung, noch gar zur Beunruhigung. Manchmal sind Straßen eben freier als andermal. Dann kann sich unterwegs die Notwendigkeit ergeben, unmittelbar nach einer Pause gleich noch eine Pause einzulegen, sonst müssten alle am Treffpunkt mit dem anderen Bus zu lange warten, was unterm Strich natürlich als Option schlechter abschneidet. Immerhin treffen wir unsere alten Bekannten aus Gehren wieder, die Urlaub am Fuß der Zugspitze hinter sich haben und im Herbst nach Japan fliegen werden zu einer Rundreise dort. Dort werden wir uns nicht treffen. Der Vorteil von Busreisen am Wochenende liegt darin, dass die sonst rollenden Lkw jetzt alle Raststätten, alle Parkplätze und inzwischen auch Parkbuchten belegen. Man muss sie nicht überholen, denn sie stehen. Freilich immer auch auf dem Busparkplätzen. Wenn deutschlandweit erst überall E-Zapfsäulen für alle Lkw stehen! Dann aber.
4. Juli 2025
Schon wieder der letzte Tag vor der Heimreise morgen. Es geht nach Rauris und anschließend nach Zell am See. Natürlich kenne ich Rauris wegen der dortigen Literaturtage, in einem Ordner würde ich sogar ein paar Zeitungsausschnitte finden zu Hause. Unser Hotelchef spielt heute den Führer. Ihm ist der Verweis auf die verunglückte Schiweltmeisterin, so schreiben die das dort, Ulli Maier, wichtiger als irgendwelche Literaturtage. Wir sehen ihr Grab, wir sehen ihr Denkmal und dann trotz allem das Mesnerhaus Kultur & Literatur mit der Bank davor, die alle Preisträgernamen von 1972 bis 2021 anzeigt. In Zell am See eine Seerundfahrt und danach Fahrt zu einem Goldwaschplatz. 32 der Preisträgernamen sagten mir etwas, der Rest nichts, aber das kann ich verkraften. Immerhin ist auch Juli Zeh darunter, unsere Wunderknäbin, die sich sogar einen SPD-Fanclub erobert hat, was mir eher nicht gelingen würde. Abends schon wieder das Abschiedsbier am Pool, drin war ich nicht.
3. Juli 2025
Heute geht es zum Gloßglockner, auch den sahen wir 1992 zuletzt. Beim Zwischenstopp Fusch an der Großglocknerstraße das erste Murmeltier noch vom Bus aus, es versteckt sich unter einem parkenden Auto und ist dann weg. Wir schauen uns die Ausstellung an, ehe es weiter geht bis zur Kaiser-Franz-Josefs-Höhe. Dort klettern wir zum ausgewiesenen Murmeltierweg, sehen etliche Löcher mit halben Möhren davor und Erdnuss-Schalen, was anzeigt, wie wenig sich Touristen an die Ansagen halten. Aber kein einziges Murmeltier. Auf dem Weg zum Parkhaus dann doch welche unterhalb der hohen Mauern. Einmal zwei sich balgende Jungtiere, denen eine deutlich größere Mutter nach Schnupperprobe Einhalt gebietet. Es hält nicht lange vor wie bei uns menschlichen Jungtieren auch, wenn wir aus dem Bau kriechen dürfen. Im Ein-Kind-Zeitalter fällt das Balgen freilich aus. Die Pasterze ist seit 1992 irrwitzig abgetaut, dafür sehen wir den Gipfel wolkenfrei.