Goethe: Urfaust; Das Meininger Theater

Es gibt Theaterabende, die so furios beginnen, dass man sich wünscht, sie hätten weniger furios begonnen, weil sonst kaum Steigerungen möglich sind. Es gibt Theaterabende, die haben eine Nebengeschichte, die nicht unbedingt erzählt werden muss, deren Kenntnis jedoch auch nicht schadet. Zuerst das Furiose. Ehe es losgeht in den Kammerspielen, hört man eine Weile Stimmen in der Dunkelheit. Wer nicht völlig ahnungslos ist, erkennt rasch: es handelt sich um „Faust“-Zitate, die so berühmt, ja sprichwörtlich wurden, dass nicht jeder mehr weiß, woher sie eigentlich stammen. Mittendrin ein Nicht-Zitat: „Schokoladenkuchen, dreitausend Kalorien“ oder so, Lacher im Publikum. Es gab Zeiten, da man so etwas Verfremdung nannte. Regisseurin Gabriela Gillert lässt ihren Faust (Vivian Frey) kopfunter hängen über einer Wasserfläche, die fast die komplette Spielfläche ist. Frey spricht den Auftakt-Monolog, als gälte es sein Leben. Diesen Text, der ja nicht eben unbelastet aus der Theatergeschichte kommt, der nach „Umsetzung“ ruft, nach Dynamik gegen die vermeintliche Statik des Wortes. Lax gesprochen, weil es ja ein „Urfaust“ für Jugendliche sein soll, maße ich mir das an: ich war hin und weg. Was geht, erweist sich immer genau dann, wenn es gekonnt wurde. Hier wird es gekonnt. Vivian Frey ist wie ein Kugelstoßer, der alles in den ersten Versuch steckt und damit die Konkurrenz derart schockt, dass die erste Weite zur Siegerweite wird.

Tatsächlich, im Bild zu bleiben, geraten die nächsten Stöße kürzer. Wie mir schien, war Frey immer dann am stärksten, hin bis überwältigend, wenn er monologisierte, im Dialog tendierte er eher zum Normalmaß. Im Programmheft, vermutlich mit der etwas heißeren Nadel genäht, sieht man ihn auf der Seite 14 hängen über dem Wasser, nur wird er dort als Phillip Henry Brehl ausgewiesen, der er nun wirklich nicht ist. Denn der spielt den Mephisto und das, um es wieder gleich zu sagen, stark, hin bis überwältigend. Die Regisseurin hat es offenbar vermocht, aus den beiden Herren eine Spielfreude zu kitzeln, die der Theatergänger am liebsten immer sähe, aber, als Realist, gar nicht so selten auch schmerzlich vermisst. Die heiße Nadel noch einmal ins Gespräch zu bringen: Wer die Ankündigung dieses „Urfaust“ im Theaterblatt SPEKTAKEL vom Februar noch nicht weggeworfen hat, kann dort nachlesen, dass neben den vier Akteuren (und Aktricen), die er jetzt sieht, ein fünfter auf der Bühne stehen sollte: Patric Seibert, da auch noch Dramaturg, dazu Statisterie. Vermutlich wäre Seibert Wagner gewesen, wenn ihn nicht ein spezielles Schicksal ereilt hätte, welches in Meiningen durch Flüsterpropaganda bekannt ist, der weiten Welt aber mit gar nicht so schlechten Gründen ziemlich verschwiegen wird. Im SPEKTAKEL vom März, fast noch druckfeucht, ist Seibert gestrichen, die Statisterie nicht, die aber zur Premiere dennoch nicht in Erscheinung tritt.

Nun denn, aus einem Fünf-Personen-Urfaust ist ein Vier-Personen-Urfaust geworden, auf der Verlustliste gegenüber dem Text, den einst das nicht nur deswegen berühmte Fräulein Luise von Göchhausen (13. Februar 1752 – 7. September 1807) abschrieb, damit ihn Erich Schmidt 1887 entdecken konnte, 94 Seiten Handschrift lang, stehen: der Geist, Wagner, der Student, dem Mephisto einige heiße Tipps gibt, der gesamte Komplex „Auerbachs Keller“ ist gestrichen, damit verbunden die Rollen Frosch, Brander, Siebel und Alten. Gestrichen ist Bruder Valentin, der nur erwähnt wird, als das schon irre Gretchen dem Sünder Faust erläutert, wie sie sich ihre Grablage wünscht, Liesgen fehlt am Brunnen, der ebenfalls fehlt. Zweimal „Heinrich“ wird am Ende auch nicht gerufen, nach Mephistos „Sie ist gerichtet!“ flüstert zwar in Reihe 6 vor mir einer brav „Ist gerettet!“, aber das hat er am falschen Speicherplatz abgerufen. Obwohl, denn der Spieltext der Meininger Kammerspiele hat nicht nur Streichungen, sondern auch Hinzufügungen, der Flüsterer so falsch nicht lag. Denn Gabriela Gillert lässt ihren Faust das mit dem Augenblick sagen und dem Verweilen und der daran hängenden Bedingung, das steht wohl exponiert in „Faust I“, nicht aber im „Urfaust“. Der in seiner unaristotelischen Sturm-und-Drang-Struktur fast wie moderne Stationen-Dramaturgie anmutet, Übergänge kühn vermissen lässt, was selbst Brecht mobilisierte.

Man könnte durchaus sagen, der „Urfaust“ zerfällt in Teile. Weil er am 25. Mai seinen 80. Geburtstag feiert, soll Friedrich Dieckmann kurz zu Wort kommen, geschrieben im Januar 1984: „Urfaust, erster Teil – das endet mit Auerbachs Keller, Nachhall von Goethes Leipziger Studentenzeit; vielleicht war es (Faust-Bilder hingen dort vom Gewölbe) das erste, was er von dem Stück schrieb. Urfaust, zweiter Teil, das ist etwas anderes, ein szenischer Roman mit bösem Ausgang, genannt Gretchen-Tragödie. Der Professor des ersten Teils war eine Projektion des Studenten; nun verwandelt er sich ganz in diesen.“ Und: „Die Geschichte vom flüchtigen Liebhaber ist Goethes eigene Geschichte; sie wiederholt sich ihm einige Male, bis er, spät, unter eigentümlichen Umständen, ein getreuer Gatte wird.“ Gabriela Gillert hat das Zerfallen mit ihrer Spielfassung fast zum Verschwinden gebracht. Es bekommt dem Text. Gern hätte ich gewusst, ob Phillip Henry Brehl seinen Hustenanfall spielte oder überspielte, es sah nach letzterem aus und hörte sich so an, dann wäre zu allem auch noch die spielende Schlagfertigkeit von Vivian Frey zu loben, der den Dialog im keinesfalls warmen Wasser auf eine Art rettete, die man früher elegant nannte. Letztmals Friedrich Dieckmann: „Gleichwohl; das Unfertige gibt Spiel-Raum; es lädt das Theater dazu ein, ein Werk auf seine Weise zu Ende zu dichten.“ Es gelang, auf eine Meininger Weise.

Dreimal stellt Gretchen (Meret Engelhardt) die Gretchen-Frage und wie sich Faust-Frey da heraus zu winden versucht, ehe er dann sagt, was er hochgestochen sagen muss laut Text, das erzeugt ein paar passende Lacher. Man umschleicht ein drehbares Teil, das vor allem als Gretchens Kammer dient, das aber besteigbar ist (Bühne und Kostüme Helge Ullmann), das Paar sitzt romantisch oben und spricht hier einen Dialog, der Goethe in Jetztsprech verwandelt: die Szene, in der Gretchen sich wundert, wie es ihr gelingt, diesen Faust zu fesseln. Meret Engelhardt zeigt, wie es sie auch körperlich ergreift, der Sexualphysiologe wüsste dem brünstigen Faust vom Eisprung zu berichten, der vollkommen unromantische Anteile an dem hat, was man Liebe auf den ersten Blick nennt. Aber wird sind im Theater. Goethe mochte zwar später die Romantik nicht, als junger Stürmer und Dränger aber gehörte er auch zur Empfindsamkeit, denn die Empfindsamen stürmten und drängten im Nebenjob und umgekehrt. Dieses Gretchen sehnt sich und für den Eisprung spricht das rasche Schwangerwerden. Das, wir wissen es aus der Goethe-Biographie, und wer es nicht weiß, bekommt es bei jeder Urfaust-Inszenierung irgendwie mitgeteilt, mindestens im Programmheft, führt geraden Weges zum Verbrechen des Kindsmordes, hier strafverschärfend zusätzlich nach unabsichtlich-fahrlässigem Muttermord und beruht auf einem tatsächlichen Fall von 1772 in Frankfurt am Main.

Als nach einer Stunde und 45 Minuten das große Verbeugen im Gange ist, bekommt Meret Engelhardt von diesem ihrem Vivian Frey einen Kuss auf den Mund. Zuschauer bekommen diese prima Chance nicht, obwohl sie ihr Angetansein durchaus in dem einen oder anderen Falle gern ähnlich zum Ausdruck gebracht hätten. Was wäre das aber für eine quirlende Knutscherei, käme es in Mode statt der zu zählenden Vorhänge aus Urgroßmutters Theaterzeiten. Alle diese Rollentexte, die nicht selten im Publikum still mitgesprochen werden von „Es war ein König in Thule“ über „Meine Ruh ist hin“ bis „Ach neige“ sprach Meret Engelhardt auf besondere Weise. Sie sprach sie, um auf jenen Brecht zu kommen, der 1952/53 mit Egon Monk als ausführendem Schüler seinen bald abgesetzten „Urfaust“ inszenierte, uneingeschüchtert von der Klassizität des vollendeten Faust. Mal hatte sie das kanariengelbe Reclam-Heft in der Hand, als müsste sie sich des Textes versichern, mal kniete sie mit Blick zum Publikum. Sie hielt die Szenen mit den Kästchen voller Schmuck im Weiblich-Allzuweiblichen, fast herzig, sie hätschelte den Teddy, hinter dem Mephisto das Kästchen versteckte, nachdem Faust es zuerst wie Nikolaus im rosa Gummistiefel seiner Angebeteten versenkte, auf die sie wohlerzogen und ordentlich ihre Ringelsocken gebreitet hatte. Einfälle! Auch die Idee, mit einer rosa Polaroid-Kamera Selfies zu schießen, die Faust findet: Einfälle!

Johanna Rudolph (20. August 1902 – 29. Mai 1974) fuhr am 28. Mai 1953 in NEUES DEUTSCHLAND rufmörderisch schwerste Geschütze auf gegen die Inszenierung des Berliner Ensembles, die zuerst in Potsdam erprobt worden war, ehe sie überarbeitet in Berlin herauskam, sie dekretierte: „Der Urfaust offenbart Goethes Sinn für echte Volkstümlichkeit. Er ist ein Beweis dafür, mit welch sicherem Griff sich der junge Dichter die positiven weiterführenden Elemente des ihm zur Verfügung stehenden kulturellen Erbes aneignete, wie er an sie anknüpfte und was er als ungeeignet für seine Konzeption beiseite ließ.“ Gretchen war für Rudolph „die poetische Verallgemeinerung des Mädchens aus dem Volke, des deutschen Mädchens, das mit seiner liebenden Hingabe entgegen den unmenschlichen Normen der herrschenden Gesellschaft das Recht auf eine höhere Moral vertritt.“ Läse man das den Meininger Mimen vor, wüssten sie, wovon die Rede war? Quark mit herrschender Klasse? Hatte Goethe tatsächlich die ihm unterstellte „Konzeption“ oder doch gerade nicht, weshalb er ein Vierteljahrhundert verstreichen ließ, ehe er, von Schiller getrieben, zu einer Zuflucht nahm. Das Gretchen des Finales von „Faust II“, ist das wirklich dies Mädchen, das in den Kammerspielen an der Seerose zupft: „Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich...“? Und wenn: sechzig Jahre Werkgeschichte reden gegen Kurzschlüsse.

Der Vierte im Bunde ist Christine Zart als Nachbarin Marthe. Ist man schon ein Frauenfeind, wenn man sie drall nennt, weil sie vollkommen zweifelsfrei nie Twiggy spielen könnte? Sie ist, was man, als Christine Neubauer sich noch keine Falten an die Wange gehungert hatte, gern und eifrig ein Vollweib nannte. Phillip Henry Brehl ist, als er wie der Heimkehrer in „Draußen vor der Tür“ vor ihre Augen humpelt an seiner Krücke und im Soldatenmantel, sofort ein Augenschmaus für sie, die von ihrem Mann allein im Stroh gelassen wurde. Sie flirtet, macht ihm Avancen, die zart zu nennen eine heftige Untertreibung wäre (der Kalauer ist nun raus, ich bin erleichtert). Der Brehl-Mephisto ist vor dieser Marthe auf steter Flucht zu ausdauerndem Vergnügen des Premieren-Publikums. Christine Zart hält eine erstaunlich sichere Mitte zwischen verruchter Laszivität und drohendem Blümchen-Sex, sie nascht, wenn ich das richtig sah, Marsh Mellows, zu denen auch das Gretchen greift. Wir sind in Bodennähe, der Boden ist wässrig (und glitschig, was nicht vollkommen ungefährlich für die Darsteller ist, noch beim Eilgang zur Rampe zum Verbeugen). Bliebe das natürlich höchst moderne Tanzen zur fast höchst modernen Musik (Xell): Mir hat es gefallen, es fallen einem diese oder jene Figuren ein, die sich so bewegen, wie sich hier bewegt wurde. Frohgemut entfernte ich mich in Richtung Parkplatz. Es regnete bis zu Hause nicht mehr.
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