Hans Natonek 125
Nur auf die beiden von mir vor fast vier Jahren hier schon gelobten Auswahlbände bezogen lässt sich mein Satz rechtfertigen: Was und worüber er auch immer schrieb, keine seiner überaus zahlreichen publizistischen Arbeiten erschien an einem seiner Geburtstage gedruckt. Mit einer Ausnahme: „Schuld und Strafe eines Volkes“ stand am 28. Oktober 1939 in „Das neue Tage-Buch“, Paris. Da war Hans Natonek 47 Jahre alt, lebte noch im französischen Exil, wo er in Paris, unter anderem, Joseph Roth beim Trinken, beim Schreiben und beim Sterben gesehen hatte. Natoneks Arbeiten über Roth verdienen eine eigene Würdigung, sie seien hier nur erwähnt: „Werfel, Josef Roth und der 5. Schwejk“ (31. Mai 1928), „Die Verklärung Österreichs. „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth“ (12. Oktober 1932), „Erinnerungen an Joseph Roth“ (Juni 1939), „Glossen zum Juden-Christen Joseph Roth“ (Juni 1939), „Ein Zeuge Österreichs. Vom Leben und Sterben des Dichters Joseph Roth“ (10. Juni 1939), „Die Legende Roth“ (1. Juli 1939), „Hiob auf der Bühne“ (1. Juli 1939), „Joseph Roths letztes Werk“ (20. Oktober 1939), „Jugendgedichte eines Toten. Zum Todestag Joseph Roths“ (Mai 1940), „Der Bote“ (27. Juli 1962). Durchweg alle empfehlenswert.
Zweimal, auch das noch pure Statistik, kamen Natonek-Artikel kurz vor seinem Geburtstag: am 26. Oktober 1926 „Bei den Bibliophilen. Zur Leipziger Tagung“ und am 27. Oktober 1929 „Dichter an der Propagandafront. Offener Brief an Thomas Mann“, beide gedruckt in der „Neuen Leipziger Zeitung“. Dieser eine aber, dieser an seinem 47. Geburtstag gedruckte Artikel, der im Buch „Letzter Tag in Europa. Gesammelte Publizistik 1933 – 1963“ gerade mal zwei Druckseiten füllt, hat es in einem Maße in sich, dass man nur staunen kann. Natonek zitiert zunächst einen deutschen Chefredakteur, dessen Namen er nicht nennt: „Macht aus Deutschland ein englisches Protektorat!“ habe der an seinem Schreibtisch gestöhnt, als Hitler die Macht übernommen hatte. „Keinen besseren Leitartikel hat er je hervorgebracht, als diesen Aufschrei zwischen den stummen Wänden.“ Kommentierte Natonek, um dann zu seinem Thema zu kommen: „Wenige Monate später war unser Schriftleiter ein hundertprozentiger Nazi, dessen Angst in einen widerlichen Devotismus umschlug, … einer der tausend Chefredakteure Kirchner, einer der Millionen des deutschen Volkes.“ Eine Fußnote hinten erläutert knapp: Rudolf Kirchner, Chefredakteur der „Frankfurter Zeitung“.
So eine Kritik ist rasch formuliert, aber dennoch mit Vorsicht zu genießen. Erstens hieß dieser Chefredakteur gar nicht Kirchner, sondern Kircher, er war mehr als dreißig Jahr für die „Frankfurter Zeitung“ tätig, war Korrespondent in London und Berlin gewesen. Aus seiner Feder stammten mehrere England-Bücher, von denen Kurt Tucholsky „Engländer“ (1926) und „Fair Play. Sport, Spiel und Geist in England“ (1927) in seiner Kolumne „Auf dem Nachttisch“ ausdrücklich lobend schrieb. Die „Frankfurter Zeitung, auf das Jahr 1856 zurückgehend, war das, was man heute gern Flaggschiff nennt. Alles, was Rang und Namen hatte, von A wie Adorno und B wie Walter Benjamin bis Z wie Arnold und Stefan Zweig schrieben irgendwann für sie, Joseph Roth belieferte sie aus Paris und war in ihrem Auftrag auf ausgedehnten (und gut bezahlten) Reportage-Reisen. Rudolf Kircher (5. Juni 1885 – 27. September 1954) war kein gut gewähltes Beispiel für widerlichen Devotismus, eher eines jenes Schreibens „zwischen den Zeilen“, das in Diktaturen nicht selten dem Journalismus nahezu einen Kunstcharakter aufzwingt. Um ihn und seine Anpassungsleistungen ging es Hans Natonek jedoch gar nicht, sein Titel sprach das sehr klar aus.
Liest man heute vor dem Hintergrund aufgeregter und zum Teil nahezu naiv geführter Debatten um die Alternative für Deutschland (AfD), deren unterschiedliche Repräsentanten immer wieder genau diesen Problemkreis thematisieren, den kleinen Text aus dem Jahr 1939, der Zweite Weltkrieg war erst knapp zwei Monate alt, die wirklich großen Verbrechen des Nationalsozialismus zu einem nicht geringen Teil noch gar nicht begangen, dann erscheint dieser in Prag geborene Natonek fast als ein Prophet bis in die Nuancen möglicher Argumente und Gegenargumente. „Das viel erörterte Thema, ob ein Volk und seine Gewalthaber zu identifizieren sind, kann man goethisch-menschlich vielleicht so lösen: „Ihr lasst den Armen schuldig werden, dann überlasst ihr ihn der Pein...“. Das ist nachlesbar in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, 1. Band, 4. Buch, 13. Kapitel. Dem Leipziger Lehmstedt Verlag und Herausgeberin Steffi Böttger sei ausdrücklich gedankt für diese Art Angabe, mit deren Hilfe jeder Interessierte das Zitat leicht nachprüfen kann und nicht nur jene wenigen Besitzer der üblicherweise herangezogenen Großausgaben, möglichst der historisch-kritischen. Goethe und die deutsche Schuldfrage, das ist eine immer noch überraschende Denk-Konstellation.
„Schuldig geworden ist das arme deutsche Volk gewiss, schuldig durch die Riesenschuld seiner Führer und der Tag kommt näher, da es seiner Pein überlassen wird.“ Keine sechs Jahre brauchte es bis zu genau diesem Punkt, wir wissen es. Der Umgang mit der Pein, um nur das Feld der Literatur heranzuziehen, führte zu Phänomenen wie der Kopfgeburt „Stunde Null“, die nie eine war, führte zu den sagenhaften Erfolgen von Autoren wie Heinrich Böll und Wolfgang Borchert, deren in diesem Jahr wieder einmal jubiläumsbedingt besonders gedacht wird. „Ein Volk ist mitschuldig, aber seine Schuld ist von anderer Art als die seiner Verführer. Die Führer sind schuldig wie Verbrecher, ein Volk wird schuldig wie das Opfer einer Tragödie.“ Natonek macht den Zynismus jener Denkart deutlich, mit der die Führer behaupten: „Das Volk will uns ja!“ „Ob dies wahr ist oder nicht – ganz gleich; um so schuldiger die Führer, wenn sie ein Volk dahin gebracht haben!“ Und dann kommt eine in ihrer Einfachheit fast schockierende Folgerung: „ Trotz seiner Mitschuld muss ein Volk möglichst straffrei ausgehen; denn gerade die Angst vor der Strafe bindet es an seine Führer...“. Man kann bis zu immer noch aktuellen Phänomen von DDR-Verklärung hier anknüpfen.
Denn für breite Massen der DDR-Bürger gab es anders als nach dem Zweiten Weltkrieg nie die im Westen sprichwörtlich gewordenen „Persilscheine“ oberflächlichster „Entnazifizierung“, hier gab es (und gibt es) den Generalverdacht. Und schon sind wir bei genau dieser Bindung des „Volkes“ (im Osten) an seine Führer, die unter verschiedenen Flaggen segelt und immer nur ein Ziel kennt. „Es gilt in diesem Prozess, die Unterschiede der Schuld herauszuarbeiten und dem Gericht der Geschichte einen Sinn zu geben.“ Damit auch wirklich jeder versteht: „Gericht über das – immer mitschuldige – Volk bedeutet nicht, es sowohl seiner Pein wie jeder Wiederholung, jedem Rückfall, jedem nächsten Abenteuer zu überlassen.“ Natonek dachte dabei an den Versailler Vertrag und seine Folgen, doch auch diese Überlegung ist nicht an ihren Ausgangspunkt gebunden. „Es ist der Weg zu finden zwischen der Ignorierung seiner Schuld und der Bestrafung, die ein Volk nur verstockt macht wie ein Kind (und jedes Kollektivwesen hat etwas Infantiles).“ Haben nicht bestimmte, gern vor allem den Sachsen in ihre ausgetretenen Schuhe geschobene Verstockungen so gar nicht ganz andere Ursachen? „Moralisch gesehen gibt es da keinen anderen Weg als den der Erziehung.“
Wie es so aussah, wenn Deutsche in jenen Jahren Schuld auf sich luden, ohne das gleich mit den schwersten Verbrechen zu tun, kann man bei Erich Kästner nachlesen. „Das erinnerte mich an meine zufällige Begegnung mit Hans Natonek am Kurfüstendamm. Es ist etwa zehn Jahre her. Er hatte die Papiere für Amerika in der Tasche, und als ich ihn nach seiner Familie fragte, begann er lautlos zu weinen. Wenn ihm seine Kinder, abends vorm Haus, entgegengelaufen seien und ihn umhalst hätten, habe seine Frau, vom Fenster aus, sie keifend zurückgerufen und ihnen, weithin hörbar, verboten, ihren Vater zu küssen, da der Mann ein Jude sei.“ Das steht in Kästners „Notabene 45. Ein Tagebuch“ unter dem Datum 17. Mai 1945, Ortsmarke Mayrhofen. Am 125. Geburtstag von Natonek darf um so mehr daran erinnert werden. Fünf Tage vor seinem Tod am 23. Oktober 1963 notierte Natonek einen „Traum von den leeren Händen“: „Zuletzt ist jede Hand so leer, / Denn was sie hält, behält sie nicht ...“ Man wird ihn deshalb nicht einen großen Lyriker nennen müssen. Die „überfällige Entdeckung eines bedeutenden deutschen Schriftstellers“, auf die Steffi Böttger 2007 hoffte, kann zehn Jahre später noch immer nicht als vollzogen gesehen werden. Leider.