Arthur Holitscher 150
Am 15. Januar 1923 schreibt Johannes R. Becher seiner damaligen Lebensgefährtin Eva Hermann einen längeren Brief. Darin begründet er unter anderem, warum er nicht reisen mag: „Dass ich allerdings unter der Gestaltung meines Lebens nicht ein Weltreise-Unternehmen verstehe, das ist selbstverständlich. … Und dass es für mich nicht einen großen Verzicht bedeutet, Italien, Frankreich usw. nicht gesehen zu haben in einer Zeit, da Hunderttausende von armseligen Würmern kaum alle Sonntage einmal das Licht, das pure Licht erblicken und nie aus ihrem Erdloch im Ruhrgebiet, z.B. ihr Leben lang herauskommen ...“. Das klingt noch nach intellektuellem Pathos des mitleidenden Verzichts: ich trinke keinen Champagner, ehe nicht der Hunger in der Welt ausgerottet ist. Dann aber dies: „... diesem allgemeinen Verzicht ordne ich mich gern unter, und ich weiß, Du würdest es auch mit Freuden tun, wenn Dir, wie einem Freund von mir (Holitscher) in Russland auf dem Markt zum Marktpreis gepökeltes Menschenfleisch zum Kauf angeboten worden wäre.“ Es stockt einem, mir, kurz der Atem, eben noch habe ich meinen Beitrag zum 75. Todestag von Arthur Holitscher vom 14. Oktober 2016 nachgelesen, weil ich mich heute nur ungern wiederhole. Wer mag, kann es nachlesen, Rubrik JAHRESTAGE. „Das Fest Russland“ zeichnet ein anderes Bild.
In der vierbändigen DDR-Ausgabe der Essays von Johannes R. Becher taucht der Name Holitscher ein einziges Mal auf, im Rahmen einer Aufzählung, in der es Becher vor allem um sich selbst geht. Im Band „Briefe 1909 – 1958“, der keine Rücksicht mehr auf irgendwelche DDR-Befindlichkeiten, SED-Befindlichkeiten zu nehmen hatte, auch Lilly Becher, die gestrenge, war bereits seit 15 Jahren tot, taucht der Name Holitscher ebenfalls nur dieses eine Mal auf, was angesichts der Formulierung „einem Freund von mir“ mehr als seltsam anmutet. Vielleicht war es ja genau dieser Hinweis Holitschers auf etwas, das er bei seiner ersten oder zweiten Russland-Reise erlebte, das den Zensor in Becher selbst auf den Plan rief: viel später noch galt es in der unter den Argus-Augen der sowjetischen Botschaft Unter den Linden stehenden DDR-Verlagslandschaft als undenkbar, auch nur ein Wort über Kannibalismus im belagerten und dem Hungertod preisgegebenen Leningrad unter der „Blockade“ öffentlich zu machen. Um so verblüffender, deshalb konzentriere ich mich heute auf einen sechs Jahre älteren Holitscher-Text als 2016, was dieser 1921 unter der Überschrift „Leben in Moskau“ zu Papier brachte. Holitscher wusste 1921 demnach nicht nur von Lagern in der jungen Sowjetunion, sondern er nannte sie, unglaublich, sogar ausdrücklich: Konzentrationslager.
Dies muss man auch 2019 noch erst einmal sich setzen lassen. Denn die DDR sah in Arthur Holitscher so etwas wie einen der Kirchenväter der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, die in der gleichnamigen Gesellschaft bekanntlich sogar institutionalisiert war. Die DSF okkupierte in den Jahren ihrer Existenz auf Teufel komm raus, was irgendwie nach SU-Freundlichkeit aussah, da war sogar ein bekennender Dostojewski-Freund gelittener als einer, der exkommunistische Renegaten aus den USA unverdrossen zu seinen Lieblingsautoren zählte. Dabei hatte man noch wenige Jahre vorher den kleinen DDR-Markt etwa mit allem geflutet, was Howard Fast je schrieb. Die Gretchen-Frage: Wie stehst Du zur Sowjetunion? ließ alle, die nach 1956 den letzten Glauben an die wunderbare Welt Lenins und Stalins verloren hatten, in die Kiste der Verschwiegenen wandern, günstigenfalls in die Kiste der dauerhaft Angefeindeten. Arthur Holitscher aber, der sich einst Karl Liebknecht als Mitarbeiter angeboten hatte, der früh schon mit vielen noch heute mehr oder minder bekannten Intellektuellen Deutschlands, Gremien und Kreise konstituiert hatte, die sich dem Kampf gegen den Hunger in der von Bürgerkrieg und Okkupation schwer gezeichneten Sowjetunion widmeten, bekam in der DDR sogar eine zweibändige Mini-Werkausgabe, mehr freilich nicht.
Diese beiden Bände, „Ansichten“ und „Reisen“ betitelt, erschienen 1973 und 1979, Herausgeber und Nachwort-Autor jeweils Frank Beer, im Verlag Volk und Welt Berlin. Eine Vorbemerkung vom Mai 1978 zum zweiten Band verrät: „Holitschers Arbeiten unter den Titel „Reisen“ und „Ansichten“ aufteilen zu müssen ist peinlich und peinigend bei gerade diesem Autor, der seine Beobachtung der Wirklichkeit immer verbunden hat mit der Entwicklung, Korrektur und Darstellung seines Weltbildes.“ Heute neigt man zur Frage, warum jemand etwas freiwillig tut, was peinlich und peinigend ist, wir reden aber von der DDR und wer nur allein erfahren möchte, wie es in den DDR-Jahren im Verlag Volk und Welt zuging, welchen unfassbaren Zwängen man ausgesetzt war, wie unfassbar trickreich und hinterlistig Lektoren vorgingen, um nach bisweilen endlosen Wartezeiten ihr Lieblingsprojekt doch in den Plan und zum Druck zu bringen, der greife zum hoch informativen Buch „Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt“, herausgegeben von Simone Barck und Siegfried Lokatis, erschienen im Oktober 2003 im Ch.Links Verlag Berlin. Dort gewinnt der alltägliche Wahnsinn fast Seite für Seite Gestalt.
Doch nun zu „Leben in Moskau“, nicht vertreten im Band „Reisen“, zu finden im bb-Bändchen des Aufbau-Verlages mit dem Titel „Smoking braucht man nicht. Moskauer Skizzen 1918 – 1932“. Weiteren nicht in den „Reisen“ auftauchenden Sowjetunion-Text Holitschers bot der Mitteldeutsche Verlag Halle/Leipzig 1988 unter dem Titel „Unterwegs nach Eriwan. Reisen in die Sowjetunion 1918 bis 1934“ in der Reihe „Edition Aurora“. Der Vergleich dessen, was in den Original-Bänden stand, mit dem, was die DDR-Auguren passieren ließen, wäre sicher ein kleiner Forschungsauftrag für Nachwuchs-Germanisten. „Drei Monate in Sowjet-Russland“ etwa hatte in der Erstausgabe des S. Fischer Verlages 1921 256 Seiten Umfang, in „Unterwegs nach Eriwan“ finden sich davon knapp 22 Seiten. „Leben in Moskau“, das jedenfalls ist leicht nachlesbar, enthält verblüffend viel Informationen, die man damals schon hätte kommentieren müssen und heute wieder oder immer noch kommentieren sollte. Ich zitiere dies: „Aus dem Augenwinkel vorsichtig in die Höhe lugend, bemerkte ich ungefähr dreißig paar Stiefel, die an mir vorbeistapften, schlurften, stiegen und stelzten. Keinem dieser etwas dreißig Menschen fiel es ein, sich zu mir niederzubücken, mich aufzuheben.“ Wie oft haben DDR-Medien just solches dem kaltherzigen Westen angekreidet!
Findige Journalisten inszenieren immer wieder einmal auch nach dem Ende des real existierenden Sozialismus solche Test-Situationen, um zu schauen, wie es mit unserer Hilfsbereitschaft aussieht, wovon sie abhängt: heute sind wir bei Hautfarbe und Kleidung angelangt. Nicht heimliche Kamera, hämische Kamera, kann man die medialen Menschenversuche nennen. Und Holitscher? Er übt Nachsicht mit denen, die ihn liegen lassen: „Ich konnte es mir ja ausmalen, was das bedeutete: sich mit einem Toten auf der Straße abzugeben.“ Was er sich ausmalt, hält auch heute noch Helfer vom Helfen ab. Und weit und breit keine Sowjetunion mehr. Begonnen hat er sein Reisebild mit einer Begeisterung für etwas, was nun nicht gerade Revolution und neue Verhältnisse verkörperte: „Aber diese Märchenstadt Moskau, dieses unerhörte orientalische Märchendorf mit seinen vierzigmal vierzig Kirchen ist ein chimärischer Zauber, in dessen Bann man tief und schmerzhaft noch monatelang fiebern möchte.“ Schwelgerisch schildert er die Basiliuskathedrale vorm Kreml, ehe er zum Kreml selbst kommt: „... nun Wiege des neuen Glaubens, einer jungen Freiheit, Hirn der Weltgeschichte“. Sich „rasenden Automobile“ in Moskaus Kreml-Innerem anno 1920 vorzustellen, ist dann einfach nur noch erheiternd. „Moskau hat ein zähes Leben, während Petersburg tot ist.“
„Man leidet in Petersburg wie in Moskau – aber ich glaube, in Moskau vollzieht sich das Leiden insgeheim doch in wütenderen Formen“. Holitscher findet in Moskau keine sichtbare Prostitution mehr am hellen Tage, dafür aber, „es ist schaurig zu sagen, Kinderprostitution.“ „Fragt ihr mich nach dem Alkohol, so sage ich euch: Ich habe in den drei Monaten in Russland keinen betrunkenen Menschen gesehen.“ Was wenig besagt, wie sich bald klärt. Vorher aber noch: „Die Jahre des Krieges haben dem Alkoholismus Russlands einen Stoß versetzt, die Jahre seit der Revolution aber haben den Gott Wodka entthront und verjagt“. Mehr als sechzig Jahre später musste Michail Gorbatschow, im Westen verehrt, in seinem eigenen Land bestenfalls Intellektuellen eine Freude, immer noch dem Alkohol den Kampf ansagen, denn der entthronte Gott Wodka hatte sich gleich neben seinem Thron eingerichtet. Als ich 1987 in Moskau und andere Städten umging, war ich vorab in die Fingerzeichen eingeweiht worden, mit denen sich Wodka-Willige fanden, um zu den sehr eingeschränkten Verkaufszeiten an den sehr rationierten Fusel in Kaufgemeinschaft heran zu kommen. Dann aber erlebt Holitscher „Volksgerichte“ und erfährt: „Die geringste Strafe für das Delikt, nach Schnaps zu riechen, beträgt ein Jahr Gefängnis.“ Und er belügt sich wie seine Leser.
„Mit solchen drakonischen Maßnahmen hat die Sowjetregierung die Trunksucht, das Urlaster der Russen, innerhalb dreier Jahre fast vollkommen ausgerottet.“ Richtig ist nur, das Maßnahmen drakonisch waren. Nicht ganz überraschend dafür die Aussage zu den Frauen in den Volksgerichten: „Die Genossin Postbeamtin war für Verurteilung des Arztes, wie überhaupt die Frauen in solchen Gerichtshöfen, zumal wenn es sich um Trunkenheit handelt, immer die unerbittlichsten Richterinnen zu sein pflegen.“ Eine junge Frau, wegen einer Unterschlagung angeklagt, erhielt dieses Richterspruch: „Sie wurde verurteilt, innerhalb von vier Wochen Waren oder Kärtchen zurückzuerstatten oder auf sechs Monate in das Konzentrationslager zu wandern.“ Da steht es nun, das Konzentrationslager, das dem Vernehmen nach von den Engländern für die Buren im Burenkrieg erfunden wurde: fünfzehn Jahre vor Hitler hatten es auch die revolutionären Arbeiter und Bauern für Diebinnen von etwas Kleiderstoff. Zuwanderung vom Land in die Städte duldete die junge Sowjetmacht nicht: „Der Frau stürzten die Tränen aus den Augen. Sie heulte vor Schmerz und Angst; man musste sie heim nach Tula schicken, ein Exempel war zu statuieren; mein Leben lang werde ich mich an den Ton erinnern, den Laut eines armen, verendenden Tieres.“ Einer Frau.
Die Not in Moskau führt dazu, dass Holzhäuser abgebrochen werden, „man passierte mitten in der Stadt verwüstete Gassen. Das Bauholz wurde verheizt.“ „Die unbegreifliche Fähigkeit des Russen, zu dulden, zu ertragen, manifestiert sich ja auf Schritt und Tritt. Sie zeigt sich bei diesem gottgläubigen und nach Göttlichem hungernden und dürstenden Volke auch in der namenlosen Gleichgültigkeit gegen fremdes wie gegen eigenes Leiden.“ Einen Befund Holitschers von 1920 kann ich mit meiner Erfahrung von 1987 bestätigen: „Es geschehen wenig Verbrechen. Man kann ohne Gefahr stundenlang durch das nächtige Moskau gehen.“ Das habe ich erlebt und hörte nur wenige Jahre später, dass man im selben Moskau Gefahr lief, wegen einer Original-Jeans aus USA niedergeschlagen zu werden, von anderem nicht zu reden. Nicht jeder Fortschritt in Freiheit ist einer. 1919 nahm Ludwig Rubiner in seine Anthologie „Kameraden der Menschheit“ zwei Gedichte von Arthur Holitscher auf: „Scham und Läuterung“ und „Aufruhr“. „Aufruhr“ malt, neben anderem, aus, wie Scheiterhaufen Schriften, Bücher, verbrennen. Das Gedicht sieht das als berechtigte Strafe für Revolutions-Versager. 1933 landeten Holitschers Bücher tatsächlich auf den Scheiterhaufen der nationalsozialistischen Bücherverbrennung. Ruth Greuner: „Fünfunddreißig größere und kleinere Schriften Holitschers wurden in den nächsten Jahren von den Nazis verboten und verbrannt.“