Joseph Roth: Barbara
as besagt es eigentlich, wenn zwei frühe Werke eines Meisters auffällige Ähnlichkeiten aufweisen, Übereinstimmungen in mehrfacher Hinsicht? Nichts zuungunsten der Autors jedenfalls, der keineswegs in irgendeiner Pflicht steht, einer Werklinie in aufsteigender Folge zuzuliefern oder Innovation auf Innovation zu stapeln, dem nie Dagewesenen zu huldigen. Und so sehe ich mich ohne jede Unruhe der Tatsache gegenüber, dass ich mich zu Joseph Roths „Barbara“ manchen Satzes bedienen könnte, den ich eben erst auf „Der Vorzugsschüler“ bezog. Auch „Barbara“ ist kein verhinderter Roman und doch etwas wie ein Roman. Denn auch sie enthält ein ganzes Leben aus der frühen Kindheit bis zum Grab. Roth erzählt vom Ende einer Frau, die ihren einzigen Sohn noch einmal sehen möchte, ehe sie stirbt. Sie sieht ihn auch, aber er ist auf seine Weise wie Anton Wanzl, der Vorzugsschüler: es ist keine Liebe in ihm. Er hat nicht die Spur eines Empfindens für seine Mutter, ahnt nicht, was sie ihm opferte und selbst als sie es ihm erzählt, begreift er nicht, was sie ihm erzählt, erfühlt er nicht, was sie als eine scheue Abschiedsbotschaft ihm auf den Weg geben will. Der junge Mann heißt Philipp und hat es schon bis zum Doktor der Theologie gebracht.
Ich zitiere den Schluss der Erzählung: „Philipp kam zurück, sah den Zustand seiner Mutter und begann, krampfhaft zu beten. Er schickte um den Arzt und um den Priester. Beide kamen; die Nachbarinnen füllten das Zimmer mit ihrem Weinen. Inzwischen aber taumelte Barbara, unverstanden und verständnislos, hinüber in die Ewigkeit.“ Auch von „Barbara“ findet sich der Erstdruck in „Österreichs Illustrierte Zeitung“, Wien, und zwar am 14. April 1918. Da war der Krieg noch in vollem Gange, der noch im selben Jahr zum Ende der Donaumonarchie führte und für eine ganze Generation das Erlebnis der Heimkehr mit sich brachte, soweit sie nicht im „Feld der Ehre“ untergepflügt worden war, jene Heimkehr, die das Werk Joseph Roths wieder und wieder in neuen und einander verwandten Figuren prägen sollte, er selbst ein Heimkehrer, wenngleich auf seine ganz eigene Art. Zwei Tode also in den frühen Erzählungen: einmal lacht einer zum ersten Mal in seinem Leben: im Sarg. Wo ihn niemand hört. Und hier taumelt eine in die Ewigkeit. Dieser Barbara hat, wie man so unschön sagt, das Leben mitgespielt. Was dumm genug bleibt, denn das Leben spielt nicht, schon gar nicht mit. Barbara aber war zehn, als ihre Mutter starb, 16, als ihr Vater starb, 20, als ihr Onkel ihr den Verlobten anweist, einen Tischlermeister. Mit 22 ist sie Witwe.
Barbaras Onkel ist Schweinehändler. „Er tätschelte Barbara die Wange, und ihr schien es, als kröchen fünf kleine Ferkelchen über ihr Gesicht. Die Tante war eine große Person, dürr und mager wie eine Klavierlehrerin.“ Wäre dieser Onkel nicht Schweinehändler gewesen, sondern Operntenor, dann hätte er dreißig Jahre nach dem Tätscheln mit einer öffentlichen Kampagne gegen sich rechnen müssen und in Amerika wären seine Auftritte gestrichen worden. Schweinehändlern aber streicht niemand Auftritte, auch war es in einem anderen Land. Und Barbara, lebender Schlag ins Gesicht aller Kämpferinnen gegen sexuelle Belästigung, nahm nicht einmal die Dimension des Geschehens wahr, das ihr geschah, die Tiefendimension, die eher flache. In dieser Hinsicht ist schon diese frühe Frau eine überaus typische Roth-Figur. Die nämlich tun sehr oft, was eben diese Barbara tut: unverstanden und verständnislos in die Ewigkeit taumeln. Man könnte sprachlos hinzufügen: es geht ihnen weitgehend die Fähigkeit ab, sich und was sie bewegt, auch adäquat auszudrücken. Allein die Zuwendung zu solchen Figuren spricht für Joseph Roth, denn ihre, wie man so hässlich sagt, Literaturwürdigkeit steht bis heute ständig auf einem sehr unwürdigen Prüfstand. Der feinere Autor schreibt von gescheiterten Akademiker/-innen, traumatisiert, weil sie ihre Selbstversuche mit veganer Leberwurst nachweislich nicht deutlich potenter machten als je vorher bei Echtwurst.
Dagegen ist eine Frau, deren Name allein schon den Autor Roth auf eine bestimmte Fährte führt, schlicht herkömmlich, weil oft vorkommend. Ich zitiere den Anfang der Geschichte: „Sie hieß Barbara. Klang ihr Name nicht wie Arbeit? Sie hatte eines jener Frauengesichter, die so aussehen, als wären sie nie jung gewesen. Man kann ihr Alter auch nicht mutmaßen.“ Diese Gesichter haben die reichen Länder verlassen, sie fristen ihr Dasein andernorts. Wir haben eher Mädchengesichter der jungen Großmütter oder der Spätgebärenden, denen allein die Überalterung der Gesellschaft die Chance gibt, selbst Großmütter zu werden. Barbara wird Mutter: „Als sie Mutter war, kümmerte sie sich mehr um ihren Jungen als um den Tischler, dem sie täglich in die Werkstätte sein Essen brachte.“ Den Tischler erschlägt ein Balken. „Der Kleine war hässlich, von einer geradezu robusten Hässlichkeit. Aber Barbara sah nichts Unschönes an ihm.“ Die robuste Hässlichkeit, möchte man sagen, zeigt bereits sein Inneres, als es noch gar nicht sein Inneres ist. „Philipp hatte keine besondere Vorliebe für einen Beruf, er hatte überhaupt keine Liebe. Am bequemsten war ihm noch die Theologie. Man konnte Aufnahme finden im Seminar und hatte vor sich ein behäbiges und unabhängiges Leben.“ Vom Gymnasium wechselt er „in die engbrüstige Stube seiner Zukunft“.
„Er sah sie arbeiten“, schreibt Roth, „aber das schien ihm selbstverständlich, er besaß nicht die Feinheit, um das Leid zu lesen, das in der Seele seiner Mutter lag und in jedem Opfer, das sie ihm brachte.“ Das größte Opfer ist ihr eigenes Lebensglück. Es trat für wenige Wochen in ihr Leben, es trug den Namen Peter Wendelin. Das war ein Untermieter in dem Zimmer, mit dessen Vermietung Barbara für sich und ihren Sohn den Lebensunterhalt aufbessern wollte. Es ist hohe Kunst, wie Joseph Roth beschreibt, was sich wie zwischen Barbara und Wendelin anbahnt. Eine eher schäbige Gartenanlage in der Nähe verwandelt sich scheinbar in einen „schönen, echten Park“. „... und sie sprachen. Aber alle Worte waren wieder nur Hüllen, wenn sie abfielen, war nacktes Schweigen um die beiden, und im Schweigen zitterte der Frühling.“ Jetzt geschehen solche seltsamen Dinge: „Auf der Straße ging der Abend herum und leuchtete mit einem Stern zum Fenster herein.“ Barbara aber weint: „Die Tränen erleichterten sie, und es war ihr, als läge sie an einer warmen Brust. Sie ließ sich von dem Mitleid, das sie mit sich selbst hatte, streicheln.“ Das ist, will ich meinen, eine wirkliche Entdeckung: Selbstmitleid ohne allen schlechten Beigeschmack, Neuland im Altland – Dichterauge.
In David Bronsens Roth-Biographie habe ich vergeblich ein Wort zu „Barbara“ gesucht, er hat nur lapidar festgehalten: „In den beiden ersten Kriegsjahren waren wohl die eigenen schriftstellerischen Anfänge am beglückendsten für Roth. In „Österreichs Illustrierter Zeitung“ erschienen seine ersten Gedichte, Kurzgeschichten und Essays.“ Laut Bronsen hat Roth dieser Zeitung seine Mitarbeit 1915 angeboten, laut Bronsen erschienen Roths Arbeiten „teilweise in dichter Folge“, was immer das besagen will. Nur nennt der Biograph lediglich zwei Gedichttitel, einen Essay-Titel, „Herbstwindes Kriegsgeschichten“ stehen wohl für die erzählende Prosa, und zitiert aus zwei Gedichten. Deutlich mehr Mühe hat sich Wilhelm von Sternburg gegeben, der freilich auf der bahnbrechenden Vorarbeit von Bronsen aufbauen und zielstrebig Fehlstellen ausfüllen konnte. Zu einem freundlichen Fazit ist er freilich dabei nicht gekommen. Für ihn ist „Barbara“ „literarisch sicher keine starke Erzählung. Möglicherweise verarbeitet Roth darin auch das eigene Mutter-Sohn-Verhältnis.“ Wenn schon, dann doch wohl das eigene Sohn-Mutter-Verhältnis, oder? „Mit Philipp zeichnet er erneut einen gefühlskalten und liebesunfähigen Charakter.“ Führt das „Verarbeiten“ eigener Verhältnisse gar zu minder starken Erzählungen? Was will der Biograph uns eigentlich sagen, wieso ist er sich sicher?
„Immerhin klingt in der Geschichte der Wäscherin Barbara schon ein Thema an, das Roth in den ersten Nachkriegsjahren in vielen seiner Feuilletons und Berichte aufgreifen wird: Arbeit und Mühsal der unteren Klassen.“ Wer je etwas von Klassentheorie hörte und verstand, wird sich hier fragen müssen, was denn der Plural zu bedeuten habe, gar noch in Bezug auf Joseph Roth. Schon die schlanke Bezeichnung Wäscherin trifft die Geschichte ja bestenfalls am Rande. Wilhelm von Sternburg beendet seinen Urteilsspruch so: „Noch ist das nicht besonders zeitkritisch angelegt. Bald aber wird das Elend der Nachkriegszeit seinen Blick schärfen.“ Was bedeuten würde, dass „Der Vorzugsschüler“ und „Barbara“ gewissermaßen mit verschwommenem Blick geschrieben sind. Was natürlich Unfug ist, reiner Unfug. Dichterblicke sind keine Gleitsicht-Phänomene, die mal scharf, mal unscharf sehen, ja nach Neigung des Kopfes. Allein der Blick auf Theologie und ihre Vertreter in beiden frühen Geschichten zeigt Wiederkehr und Konstanz im frühen Weltbild, das auf Fortleben im späteren Werk hin beobachtet werden müsste. Da ist nichts mit Abwesenheit von Zeitkritik, zumal der Begriff Zeitkritik sich selbst so erschreckend wenig genügt, dass man sein Fortleben nur als Zombie-Existenz interpretieren kann. Ich las „Barbara“ mit Genuss, Gewinn und Freude.