Wilhelm Herzog: Lenin
Wie kommt man an Wilhelm Herzog? Ich kann nur von mir reden. Auf Umwegen. Es sind befestigte, aber keineswegs befriedigend ausgeschilderte Umwege. Man hat, zum Beispiel, zwei sehr intensive Schiller-Jahre hinter sich, Vorträge gehalten, gelesen, gelesen und reihenweise Schiller-Inszenierungen gesehen und dann ist, plötzlich, so nicht erwartet, ein Loch da. Der Blick nach vorn: etwas Luft scheint sichtbar, dann das nächste große Jubiläum: Heinrich von Kleist. Noch ist die planbare Zeit scheinbar unerschöpflich, noch lässt sich Auswahl treffen. Ich also tat etwas Einfaches, geradezu peinlich Herkömmliches: ich suchte alte Kleist-Literatur. Auf dem Umweg über Günter Kunert und seine öffentliche Fehde mit Peter Goldammer um dessen Dokumentation „Schriftsteller über Kleist“ (Aufbau 1976) war ich vorbereitet. Und stieß auf Otto Brahm, den ich kannte, auf Arthur Eloesser, auf den ich sehr neugierig war und auf Wilhelm Herzog, von dem ich nichts wusste, gar nichts. Ich hätte etwas dagegen tun können, aber ob mich die rasch zugänglichen Erstinformationen zu ihm geführt hätten, bezweifle ich heute stark. So hatte ich schon im Januar 2011 die knapp 400 Seiten Otto Brahm komplett gelesen, als 18. Kleist-Titel seit November 2010. Wilhelm Herzog geriet komplett aus dem Blickfeld und kam ganz einfach nicht wieder hinein.
Beziehungsweise fast unbemerkt in der Schar der vielen Namen, die die genannte Textsammlung von Goldammer vorstellte. Dort finden sich von ihm zwei Häppchen: aus dem Kleist-Buch des Jahres 1911 (C. H. Beck München, 694 Seiten) einmal zwei Seiten, einmal dreieinhalb Seiten eines Artikels aus der „Roten Fahne“ vom 16. Oktober 1927, der zusammen mit wiederum einigen Abschnitten aus der Biographie gedruckt wurde. In einer redaktionellen Notiz der Zeitung, zitiert Goldammer in seinen Anmerkungen, war die Vermutung zu lesen, der Verlag C H. Beck schäme sich, das erfolgreiche Buch neu aufzulegen, weil sein Verfasser Herzog inzwischen Kommunist geworden sei. Der Artikel sei zwei Tage später, am 18. Oktober 1927, im „Klassenkampf“ (Halle) nachgedruckt worden. Ich las im März 2011 sogar die Erläuterungen zur Person und Buch von Wilhelm Herzog, die Goldammer gegeben hatte. Dort steht: „Unter dem Einfluss trotzkistischer Anschauungen wurde er, (der seit 1929 in Frankreich, später in der Schweiz lebte und von 1941 bis 1945 auf der Insel Trinidad interniert war, zum Antikommunisten. Seine Kritik an der Volksfrontpolitik der deutschen Antifaschisten hatte zur Folge, dass sich sein ehemaliger Freund Heinrich Mann von ihm zurückzog.“ Damit ist der Name gefallen, über den ich zu Herzog kam.
Nun erwachte die Neugier, die schon längst hätte erwacht sein müssen. Suchergebnis Nummer 1: Mechthild Widdig und ihr winziges Artikelchen für den Großen Killy. Sie kennt seine Kleist-Biographie, weiß aber nicht, in welchem Zusammenhang sie entstand, nämlich mit der Herausgabe einer Kleist-Edition. Sie weiß auch nicht, dass der sehr junge Herzog schon eine Lichtenberg-Ausgabe verantwortete, die Franz Mehring lobte (wie übrigens auch die Kleist-Biographie). Sie weiß, dass Herzog engagierter Pazifist war, unter den Deutschen 1914 eine seltene Spezies, dass er verschiedene Zeitschriften herausgab, von denen eine sogar verboten wurde. Sie weiß, dass Herzog früh die Sowjetunion besuchte und dort mit Trotzki und Lenin zusammentraf (in dieser Reihenfolge bei ihr), Dass er 1925 Stalin interviewte, weiß sie nicht oder verschweigt es, dafür behauptet sie, er habe nie einer Partei angehört, was mit Aussagen kollidiert in anderen Quelle, dass Herzog mit Teilen der linken USPD zur KPD übertrat und dort 1928 aus der Partei ausgeschlossen wurde. Es wäre ungewöhnlich, wenn jemand aus einer Partei ausgeschlossen wurde, der er gar nicht angehörte. „Da Herzog Jude war, hielt er sich angesichts der zunehmenden antisemitischen Kampagnen bereits seit 1929 vorwiegend in Südfrankreich und der Schweiz auf.“, schreibt Widdig.
Wenn Herzog ein Jude war, kann ich meine reichhaltigen Bestände an Büchern und Archivmaterial nutzen, war meine auf der Hand liegende Folgerung. Das tat ich und fand: nichts. Fast nichts, muss ich der Gerechtigkeit halber sagen, denn im „Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur“, von Andreas B. Kilcher herausgegeben, gibt es einen Artikel zu Herzog, nicht mehr dafür in der knappen Fassung desselben Herausgebers, die bei metzler kompakt herauskam: „Deutsch-jüdische Literatur“. Alle anderen Autoren, die mehr oder minder viele hundert Seiten zum Thema füllten, kennen Wilhelm Herzog nicht. Also ein Blick in die positive Ausnahme: Verfasserin Carla Müller-Feyen. Meine Fußnote neben dem Namen ist eine Frage: „Kann es sein, dass jemand einen Lexikon-Artikel verfassen darf, der so gnadenlos schlecht informiert ist?“ Die Antwort liegt gedruckt vor: es kann sein und es geht sogar im renommierten Suhrkamp-Verlag. Immerhin gibt es bei Müller-Feyen einen netten Einstieg. Sie zitiert Herzog: „Ich wurde unter dem Kaisereich geboren. Daher haben mich meine braven jüdischen Eltern wahrscheinlich Wilhelm getauft.“ Das sei ein rares Dokument, nie publiziert und in der letzten Fassung drei Jahre vor dem Tod Herzogs (am 18. April 1960), sogar korrigiert worden in: „Mein Vater war ein kleiner Berliner Bürger.“
Sie immerhin weiß von einer kurzzeitigen Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei. Sie „musste schon allein deshalb scheitern, weil er sich als Einzelkämpfer sah“. Unter den Werken von Wilhelm Herzog nennt Carla Müller-Feyen die Dokumentation „Der Kampf einer Republik. Die Affäre Dreyfuß“ im Text und am Ende im Kleingedruckten noch einmal, dazu das Schauspiel „Panama“ und die Zeitschrift „Das Forum“, über die sie selbst publizierte, alles andere fehlt, die Reisen, die Herausgaben, das Hauptwerk über „Große Gestalten der Geschichte“, der späte Porträt-Band „Menschen, denen ich begegnete“ von 1959, die Zeit im Exil. Zum Heulen, wenn es nicht lächerlich wäre. Wenn sie schon von der Affäre Dreyfuß wusste, hätte sie doch mindestens das Bühnenwerk kennen müssen, das Herzog gemeinsam mit Hans José Rehfisch verfasst hat. Hätte. Ich suchte in den DDR-Editionen mit Texten über Sowjetunion-Reisende bis 1934: Fehlanzeige. Ich zog diverse Anthologie zu Rate: Fehlanzeige. Es scheint so zu sein, dass die Splitterchen zu Kleist bei Peter Goldammer das einzige blieben, was je in der DDR von Herzog erschien. Und da ahnt man Gutes: es hatte wie stets in solchen Fälle ideologische Gründe: Wer aus der Kommunistischen Partei flog und Trotzkist genannt wurde, fiel automatisch der untersten Gruppe der Unpersonen zu.
Immerhin kennt das zweibändige „Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zu Gegenwart“ (man sollte seine Altbestände nie leichtsinnig aussortieren, die 1. Auflage erschien in 55.000 Exemplaren!!), Leipzig 1967, mehr Werke von Herzog als alle Nachschlagewerke inklusive der heute gern befragten Internet-Enzyklopädie, es kennt die Übersetzertätigkeit für Romain Rolland, es kennt die Reisen in die Sowjetunion und hat keine einzige auch nur andeutend abwertende Wendung gegen Herzog: es muss also zwischen 1967 und 1977 irgendjemand irgendwo das Böse an ihm entdeckt haben. Blättert man beispielsweise den umfänglichen zweibändigen Briefwechsel von Romain Rolland und Stefan Zweig durch, den die nie ganz rätselfreie kleine DDR 1987 noch eben rasch erscheinen ließ, dann stößt man auf eine ganze Menge Stellen mit dem Namen Wilhelm Herzog. Es beginnt zu Weihnachten 1912, als der Franzose sich beim Österreicher erkundigt, wer denn dieser Herzog sei, der kürzlich eine Kleist-Biographie publizierte. Stefan Zweig hat in seinen Briefen wiederholt am Geschäftsgebaren Herzogs gemäkelt, sogar unterstellt, er habe Honorare für Übersetzungen kassiert, die gar nicht von ihm seien. Es wäre ein Thema für dynamische Nachwuchsforscher. Es scheint (Brief vom 22. 2. 1919) finanzieller Neid im Spiele.
Rolland antwortete postwendend: „Ich finde, Sie sind gegenüber Herzog zu streng.“ Und lässt eine für jede Herzog-Darstellung gut zitierfähige Passage zu ihm folgen, die ich mir hier listig spare in der Hoffnung auf erzeugt Neugier unter meinen Lesern. Meine Überschrift heißt „Wilhelm Herzog: Lenin“, ich habe also zügig zum Thema zu kommen, obwohl die beiläufige Nennung des Todestages schon andeutet, dass hier in hoffentlich nicht allzu anrüchiger Weise zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Herzog kennt niemand mehr, da ist ein 60. Todestag keine ideale, aber immerhin eine Gelegenheit, ihn in Erinnerung zu rufen, und Lenin, den will niemand mehr kennen, auch wenn er eben noch an einem Leninring wohnte, von den weißen Nächten in Leningrad schwärmte oder in der endlosen Schlange am Mausoleum stand in Moskau, wo jeder stand, um irgendwann an der wachsartigen liegenden Gestalt vorbei zu defilieren, ohne verharren zu dürfen: weder aus Neugier noch aus verbeugender Ehrfurcht. Der vorgebliche Antikommunist Wilhelm Herzog beginnt seine Erinnerung an Lenin so: „Alle Bilder von ihm lügen, entstellen und verfälschen ihn. Das war mein erster Eindruck, als ich ihn sah.“ Und was sah er 1920: „… einen kleinen Mann mit einem unwahrscheinlich großen, kahlen Schädel“, der schwieg und zuhörte.
Lenin kanzelt französische Delegierte ab wegen ihrer opportunistischen Politik: „Lenin sprach französisch, manchmal fehlte ihm ein Wort, das am treffendsten seinen Gedanken hätte ausdrücken können. Dann fragte er Angelika Balabanowa, die sprachgewaltigste unter den Bolschewisten, die dicht neben ihm saß, und sie gab ihm das passende Wort.“ Zu Balabanowa kursiert ein einheitliches Todesdatum: 25. November 1965, das Geburtsdatum fehlt (bei Munzinger, da gibt es nur das Jahr 1875) oder wechselt vom 8. Mai 1869 über den 7. Mai 1878 bis zum 4. August 1878. Immerhin hat sie Mussolini gefördert, als der noch Sozialist war. Als Herzog auf sie traf, war sie Sekretärin der Kommunistischen Internationale, wurde aber, wenn ich meinen Informationen trauen darf, zu einer Kritikerin der Bolschewiki und ging deshalb zurück nach Italien. Lenin kümmert sich darum, dass Herzog einen Dolmetscher bekommt und lädt ihn für den nächsten Tag zu sich in den Kreml in sein Arbeitszimmer: „Der hervorstechendste Zug war sein Lächeln. … Er stellte immerfort Fragen. Fragen, von denen ich das Gefühl hatte, dass er ihre Antwort viel besser als ich wusste.“ Das Gespräch dauert mehr als zwei Stunden und erzeugte Bewunderung für Lenins „Sinn für Humor und das völlig Unpathetische seines Wesens. Es vergingen kaum zwei Minuten, wo er nicht lachte.“
„Dieses unermesslich reiche Hirn, das philosophische, ökonomische, soziale Erkenntnisse mit einer messerscharfen Gesellschaftskritik bis zur letzten Konsequenz zu Ende gedacht hatte, reagierte auf alle Eindrücke des alltäglichen Lebens mit der gleichen Klarheit, Präzision und Sachlichkeit.“ Herzog hört, dass sich Lenin große Sorgen um die deutschen Sozialdemokraten macht, dass er Berlin für den Schlüssel zur europäischen Revolution hält. „Er war ein wissenschaftlicher Stratege. Er arbeitete wie ein Chemiker in einem Laboratorium. Revolutionschemiker und Revolutionsstratege.“ Lenin verrät auf Nachfrage Herzogs, dass er im Exil in Zürich eigens spanisch lernte, um Ignatius von Loyola im Original lesen zu können und vermittelt einen Besuch bei Maxim Gorki. Ein zweites Gespräch gibt es am 23. Juni 1920. Lenins Rede vor dem Zweiten Weltkongress der Komintern soll auf Deutsch in einer Riesenauflage erscheinen, Herzog soll das Manuskript in lesbares, allen Arbeitern verständliches Deutsch bringen. Herzog arbeitet die Nacht durch, am folgenden Tag gibt es ein abermaliges ausführliches Gespräch und das endgültige Manuskript wird gemeinsam hergestellt. Lenin soll, hübsche Episode, Lessings Figur Riccaut de la Marliniere zitiert haben, aus „Minna von Barnhelm“: „Die deutsche Sprak ist eine schwere Sprak!“
Herzog und Lenin kehren gemeinsam in den Kreml zurück, wo gerade Trotzki redet, der wie alle anderen zwanzig Minuten Redezeit hat: „Aber er übersetzte sich selbst. So sprach er nochmals 20 Minuten deutsch und 20 Minuten französisch.“ Lenin, so Herzog, habe ihm zugeflüstert: „Sehen Sie, was der kann. Das ist unser bester Scharfschütze. Wenn der anlegt, fällt schon der Kopf, auf den er zielt.“ Tief in der Nacht seien die Delegierten singend durch den Kreml gezogen und hätten die „Carmagnole“ gesungen. Im Buch „Menschen denen ich begegnete“ folgt der Lenin-Beitrag auf den eröffnenden über Walther Rathenau und steht vor dem über Trotzki. „Nicht nur in der UdSSR, sondern auch in der ganzen Welt haben sich stalinfromme Kommunisten aus Überzeugung oder Parteidisziplin an diesem Vernichtungsfeldzug gegen Trotzki beteiligt. Und flink jeden, der sich davon fernhielt oder gar den Revolutionär Trotzki zwar für einen Gegner Stalins, aber nicht für einen Verräter oder Konterrevolutionär ansahen, als einen Trotzkisten erklärt. Das war so ungefähr das Schlimmste, was man von 1930 bis 1950 von einem nicht stalinhörigen Kommunisten sagen konnte.“ Mehr muss man dazu kaum sagen nach allem, was oben schon ausgeführt wurde. Von Leo Trotzki gibt es übrigens als Fischer-Taschenbuch 6632 „Der junge Lenin“, 235 Seiten, mit Register.