Johann Kaspar Steube 275
Wie kommt man auf Johann Kaspar Steube? Eine sicher kleine Gruppe von Menschen höchster Bildungsnähe, das sind die Antipoden der vermutlich deutlich größeren Gruppe mit höchster Bildungsferne, wäre sich, fragte man sie, da sehr sicher: Über Goethe. Der überzeugte Goetheaner kommt, wie einst der veranlagte Marxist über Marx, über Goethe zu allem und überall hin. Also auch zu diesem Steube. Denn, so weiß der Insider, Goethe hat ihn in seinem Tagebuch erwähnt. Das geschah am 4. Dezember 1820. Die Passage sei hier vollständig zitiert für alle, die ihre große Ausgabe der Goethe-Tagebücher gerade an ihre Haushaltshilfe verliehen habe: „Einige Gesänge der Ilias in's Reine gebracht. Wolfs Prolegomena gelesen. Über die Lust zu trennen und zu verbinden dictirt. Wanderschaften und Schicksale von Steube. Herr von Quandt, die Rauchsche Büste zu sehen. Herr von Arnim und Mahler Ruhl aus Cassel. Mittag zu dreyen. Mein Sohn den Hofdienst. Nach Tisch Fräulein Adele.“ Das war also ein prasselvoller Tag, möchte man meinen, Goethe hatte immerhin schon seinen 71. Geburtstag hinter sich. Sehr viel von Steube kann er nicht gelesen haben angesichts dieses Tagesprogramms, zumal Fräulein Adele, das war Adele Schopenhauer, sicher angenehmeren Umgang versprach. Sie taucht, anders als Steube, im Tagebuch nicht nur einmal auf.
Das gilt es festzuhalten: Johann Kaspar Steube erscheint in allen Tagebüchern, Briefen und Gesprächen Goethes ein einziges Mal. Wer dennoch eine Goethe-basierte Steube-Behandlung in Angriff nehmen will, hat insofern ein wenig Glück, dass der Name noch einmal auftaucht. 1822 nämlich erschien ein Buch mit dem recht seltsamen Titel „Der deutsche Gil Blas oder das Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers“. Sachse (13. August 1762 – 20. Juni 1822) war seit 1800 Bibliotheksdiener in Weimar in der Anna Amalia Bibliothek, weshalb ihn Goethe kannte. Deshalb und sicher nicht nur deshalb verfasste Goethe ein Vorwort. Mit diesem Vorwort erlebte das Buch 150 Jahre später eine deutsche Wiedererweckung. Zuerst in der DDR, dort sorgte Jochen Golz 1977 für einen Neudruck, und mit nur sechs Jahren Verspätung folgte in der Bundesrepublik Deutschland eine eigene Ausgabe, verantwortet von Wulf Segebrecht. In diesem Goethe-Vorwort nun, in beiden Ausgaben leicht nachlesbar, fällt zum zweiten und letzten Male im Leben Goethes der Name Steube. Sachse, aber das ist eine andere Geschichte, starb im böhmischen Teplitz. Dort war, wie bekannt, auch Goethe über einige Jahre hin immer wieder Gast. Nicht zuletzt deshalb widmete er ihm dann auch einen „Nekrolog“, zuvor als „Schema“ entworfen.
Sigrid Damm schreibt in „Goethes Freunde in Gotha und Weimar“ über Steube: „1747 geboren, erlernt dieser das Schuhmacherhandwerk in seiner Heimatstadt, geht dann auf Wanderschaft. Neunzehn Jahre führt sie ihn durch halb Europa; auf einem hübschen Teile unserer alten Halbkugel habe er sich umgesehen. In Italien wird er Soldat und zieht als solcher bis ins rumänische Banat. Von Temeswar geht er über Wien nach Gotha zurück. Arbeitet zunächst wieder als Schuhmacher, vertauscht dann den Knieriemen mit der Grammatik, bietet sich als Italienischlehrer an. Da die Modesprache Französisch ist, begehren nur vier Gothaer bei ihm Unterricht. So versucht er es als Übersetzer, überträgt Zacharias Beckers „Noth- und Hülfsbüchlein“ ins Italienische. Wagt schließlich den Schritt auf das Schriftstellertheater, um sein aus dem Geleise gestolpertes Finanzsystem wieder in Gang zu bringen. 1791 erscheinen unter dem Titel „Wanderschaften und Schicksale“ seine Erlebnisse im Verlag von Carl Wilhelm Ettlinger in Gotha. Doch auch das verschafft ihm keine ausreichende finanzielle Basis. 1792 gelingt es Steube, in Salzmanns Erziehungsanstalt in Schnepfenthal als italienischer Sprachmeister und Schuster angestellt zu werden, später unterrichtet er in einer Schule in Stedtfeld bei Eisenach, wo er 1795 stirbt.“
Detlef Ignasiak schrieb in „Das literarische Gotha“: „Johann Caspar Steube … war für Adolf Heinrich Friedrich Schlichtegroll einer der merkwürdigsten Gothaer überhaupt. Ausführlich beschreibt er in seinem Nekrolog auf das Jahr 1797 das abenteuerliche Leben des Metzgersohnes, dessen 19 Jahre währende Wanderschaft ihn quer durch die halbe Welt führte und dem es in seiner Heimatstadt äußerst schwer gemacht wurde, ein erträgliches Auskommen zu finden. Seine Erlebnisse hatte Steube später niedergeschrieben und in dem Buch „Wanderschaften und Schicksale“ (1791) im Verlag von Carl Wilhelm Ettinger veröffentlicht. … Was Steube in diesem Band mit einem gehörigen Schuss Ironie zu erzählen hat, was er oft bis ins Detail zu schildern weiß, ist nicht nur seine eigene Geschichte, sondern von unten betrachtet, die seiner Zeit.“ Ignasiak zitiert aus der erwähnten Einleitung zu „Der deutsche Gil Blas“ und wir sehen, zwischen 2003 (Ignasiak) und 2014 (Sigrid Damm) ist nicht viel hinzugekommen an Wissen über Steube. Die DDR-Ausgabe von Jochen Golz zeigt ganz vorn den Original-Titel von 1791 und dort steht unten: „Gotha, beym Verfasser und in Kommission der Ettingerischen Buchhandlung“. Das ist nicht unwichtig: Steube gab sein Buch im Selbstverlag heraus, Ettinger nahm einen Teil der Auflage nur in Kommission.
Für mich notierte ich im Juli 2008: „Manchmal ist es nur ein dummer Zufall, der zur Lektüre eines Buches führt, das ich schon ewig im Besitz habe. Hier war es das Signalwort Gotha im Klappentext, denn ich hatte das Buch nur aus dem Regal genommen, weil ich nach Titel-Ankündigungen der Reise-Reihe (Verlag Rütten & Loening Berlin) schauen wollte. Jetzt ist für mich natürlich Gotha ein Ansatz für mögliche Zeitungsbeiträge. Und ganz nebenbei bemerke ich nach wenigen Seiten schon, wie gut sich dieses offenbar hochgradig humorvolle Buch als Alternative zu Goethes „Dichtung und Wahrheit“ lesen lässt. Wäre Steube nicht längst tot gewesen, als Goethe überhaupt begann, seine Erinnerungen aufzuschreiben, könnte man denken, Steube parodiere Goethe genüsslich. So ist es möglicherweise eher umgekehrt: Goethe liefert etwas wie eine positive Parodie. Drei Kapitel las ich mit einiger Wonne zu später Stunde gestern, nachdem ich mich in die natürlich fremde Sprache eingefunden hatte. Welch eine souveräne Distanz zu sich selbst, die eben auf ein ruhiges Selbstbewusstsein deutet, keinerlei Komplexe bezüglich der eigenen Profession, selbst das offenbar zunächst erschreckende Aussehen eines schwarz behaarten Etwas bei der Geburt ist nur Anlass zu fröhlichem Spaße.“ Soweit ein Blick zurück, den heutiges Blättern im Buche locker bestätigt.
Für mich würde ich heute unbedingt ergänzen wollen: Hätte ich das Buch, zweite Auflage 1984, sofort gelesen, hätte es mich nicht nur von der Arbeit an meiner Promotion abgehalten, ich hätte auch vieles eher überlesen. 2008 aber hatte ich nicht nur gelegentliche Besuche in Gotha hinter mir, unter anderem bei einem Urfreund meines Vaters, Konrad von Unruh, sondern eigene Erfahrungen mit jenen Ländern und Gegenden, in denen Johann Kaspar Steube seine Wanderschaften absolvierte und seine Schicksale erlebte. Amsterdam zum Beispiel sah ich im Verlauf der Jahre zwischen 1993 und 2009 mehrfach, kam mit dem Zug aus Zandvoort oder mit dem Bus aus Volendam. Ich war in Haarlem, wohin Steube auf einer „Dreckschuyd“ gelangte von Amsterdam her: „Dieses ist eine schöne, am Haarlemer Mehr liegende Stadt und genießt ein Vergnügen, welches wenige Städte in Holland kennen, nämlich die Lustwandlungen in das nahe an der Stadt liegende hochstämmige Wäldchen, welches mit lauter regelmäßigen Gängen durchschnitten ist. Noch besitzt sie einen anderen Vorzug in Ansehung des Wassers; denn der Fluss Sparen versieht die Stadt mit guten Wasser und erhält das der Kanäle in Bewegung.“ Wenn man das liest und kennt, ist es anders als wenn man es wie fremden Stoff aufzunehmen hätte. Für Steube ging es weiter nach Leyden.
Seine erste Reise aber brachte ihn nach Rudolstadt, wo ihm seine Tante Gallenius, die Frau Obergärtnerin, auf den Weg helfen wollte. „In dieser gewiss recht artigen Stadt, welche bekanntlich die Residenz des Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt ist und in einem reizenden Tale, durch welches sich die Saale schlängelt, so wie die Residenz des Fürsten auf einem Berge liegt, von welchem man eine bezaubernde Aussicht über eine recht romantisch schöne Gegend genießt, brachte ich ein ganzes Jahr sehr vergnügt zu.“ Danach ging es über Erfurt, Nordhausen, Werningeroda (so Steube) und Wolfenbüttel nach Braunschweig. 48 Kapitel insgesamt enthält das Buch, weniger als fünf Druckseiten also für ein Kapitel, dagegen nehmen sich dreißig Seiten Nachwort von Jochen Golz beinahe überdimensioniert aus, zumal noch knapp weitere dreißig Seiten „Anmerkungen“ bieten, die durchaus informativ, wenngleich nicht in jedem einzelnen Fall unbedingt nötig gewesen wären. Doch 1984 hätte man noch gedruckte Lexika zu Rate nehmen müssen, die Suchmaschinen der Vorzeit. Im Falle von Tante Gallenius schweigen sich freilich auch heute Quellen aus. Der Vorteil des Nachworts: Jochen Golz hat alles ausgegraben, was auszugraben war, vermutlich muss nach ihm nie wieder jemand suchen, bestenfalls Ausgesondertes einsortieren.
Jochen Golz, am 25. März 1942 in Stettin geboren, war ein Jahrzehnt auch Präsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar. Da liest sich das Nachwort dies Vierzigjährigen beinahe wie eine frühe Bewerbung um höhere Goethe-Weihen. Denn der vielfach ausgewiesene Experte verteidigt wenigstens indirekt „seinen“ Goethe gegen jede Anmutung, man könne Johann Kaspar Steube in irgendeine Nähe setzen, schon gar nicht in die Nähe eben des Olympiers vom Frauenplan. „Von klassischer Vollendung ist Steube notwendig sehr weit entfernt, Wahrheit und humanistische Substanz stehen ein für fehlenden poetischen Glanz“. Nun, neben Goethe glänzt bekanntlich fast nichts poetisch, die Elle ist untauglich. Interessanter ist, was Golz an Überlegungen anstellt, das rasch erloschene Interesse Goethes an Steube, so muss man es nennen, zu begründen. Er zitiert aus dem Vorwort Goethes zu Johann Christoph Sachses schon genanntem Buch: „Wie denn auch Johann Kaspar Steube, Schuhmachermeister aus Gotha, seine unruhigen Irrfahrten erzählend, so wie Plutarch, ein weiser, gelehrter Mann aus Chäronea, die größten Helden vorführend, beide sich nicht anders zu helfen wissen, jener in eigenen, dieser in weltgeschichtlichen Begebenheiten, als dass sie ein über alle waltendes, höchstes, unerforschliches Wesen annehmen.“ Verwegen nennt das Golz.
Wir sind aber nur an einer von unzähligen Stellen im Weltlauf, an denen Äpfel mit Birnen verglichen werden, was zutiefst legitim ist. Denn in dieser einen, nur in dieser einen Hinsicht kann man, kann vor allem natürlich Goethe, sehr wohl Schuster Steube mit Weltliterat Plutarch in Bezug bringen. „Die schlichte, zuweilen recht unbeholfene Prosa Johann Kaspar Steubes hält keinen Vergleich mit Plutarchs Stilkünsten aus.“ So Golz, damit freilich keiner Behauptung Goethes widersprechend. Wenn wir wüssten, dass Kotzebue und Goethe den gleichen handgeschnitzten Stiefelknecht benutzten, wäre das keine Aussage über Rang und Vorrang. Das unerforschliche Wesen saß dem alten Goethe schräg im Hals wie dereinst die Idee bei seinem späteren Freund Schiller. Dann aber bestätigt Jochen Golz meine Eingangsthese ohne jeden Abstrich: „Seinem Hinweis verdanken wir die Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Johann Kaspar Steube, den er für spätere Generationen gleichsam konserviert hat.“ Bliebe die Frage, warum Konservator Goethe das in wenigen Sätzen lange nach Steubes Tod bewirkte, was ihm mit deutlich mehr Sätzen für andere Autoren und Namen nicht gelang. Bleiben wir bescheiden: spätere Generationen haben Steube nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt als frühere. Die auf ihn Neugierigen bilden ein kleines Biotop.
Von Steube sind noch „Briefe aus dem Banat“ erschienen, eine Fortsetzung der „Wanderschaften und Schicksale“ war geplant und wahrscheinlich sogar schon weit gediehen, das Manuskript ging jedoch verloren. Nichts davon wurde neu gedruckt, auch die zeitgenössischen, durchweg anonymen Kritiken und Annotationen, die Jochen Golz zitiert, müssen in den Originalen gelesen werden. Immerhin wissen wir, welche Hauptquelle zur Verfügung steht: Adolf Heinrich Friedrich Schlichtegroll (8. Dezember 1765 – 4. Dezember 1822), ab 1808 von Schlichtegroll, und am bekanntesten als erster Mozart-Biograph, publizierte einen „Nekrolog auf das Jahr 1795. Enthaltend Nachrichten von dem Leben merkwürdiger in diesem Jahre verstorbener Deutschen“. „Sein Nachruf“, so Golz, „aus genauer Kenntnis der biographischen Fakten geschrieben, ist das einzige authentische Dokument zu Steubes Person, das wir besitzen.“ Die beiden Teile des Nekrologs erschienen bei Perthes in Gotha 1797 und 1798 und das dynamische Duo Goethe und Schiller machten sich in ihrem „Musenalmanach“ von 1797 darüber lustig: „das nekrologische Tier setzt auf Kadaver sich nur“. Man hätte dennoch das einzige authentische Dokument einer gedruckten Steube-Neuausgabe anfügen können. Heute bietet die Bayerische Staatsbibliothek die Nekrologe online an.
Abschließend gebührt nunmehr Steube selbst das Wort: „Weil das Schuhmachen eine Arbeit ist, die eben nicht die ganze Besinnungskraft eines Menschen erfordert, so überdachte ich dabei meine zurückgelegte sehr bunte Laufbahn“. „Es ist ein wahres Glück für die Bewohner des Banat Temisvar, dass mehrgedachte Fliegen ein so zartes Leben haben, dass sie ein Regen oder die geringste kühle Luft sogleich vertilget. Dieses Insekt hat sechs Füße von ungleicher Länge und zwischen zwei Fühlhörnern einen Stachel.“ „Wenn man einen lebendigen Skorpion auf einen Tisch und einen Kreis mit glühenden Kohlen um ihn herum legt, so wird er einigemal suchen, aus dem Kreise zu kommen, findet er es aber nicht möglich, so wendet er seinen Stachel um, sticht sich in den Hals und stirbt.“ „Liegt es überhaupt jedem denkenden Wesen ob, für eine glückliche Zukunft zu sorgen, so ist es gewiss insbesondere für einen Mann, der Gatte und Vater ist, Pflicht, alles mögliche zu tun, um diese Absicht zu erreichen.“ Johann Kaspar Steube hat alles Mögliche getan. Mit der glücklichen Zukunft hat es dennoch weder für ihn, noch für seine Frau, noch für seine vier Kinder geklappt. Auf die Idee, es aus diesem Grunde dem suizidal veranlagten Skorpion gleich zu tun, ist er dennoch nicht gekommen. Er starb einfach mit 48 Jahren: am 12. April 1795.