Vor 100 Jahren starb Jakob Boßhart

Wer von dummen Zufällen redet, impliziert, es gäbe auch schlaue, pfiffige, kluge. Was natürlich Unsinn ist. Wenn einer an einem 18. Februar in eine Lungenheilanstalt eingeliefert wird, eher schon abgeschrieben als noch in der Hoffnung, geheilt werden zu können, und dann neun Jahre später, auf den Tag genau an einem 18. Februar, ebendort stirbt, dann ist das auch kein merkwürdiger Zufall. Es ist eben einer. Vom Schweizer Jakob Boßhart ist die Rede, der in Clavadel nahe Davos zwar keine Wunderheilung erlebte, aber eine Verlängerung seines Lebens bis immerhin jenseits des 60. Geburtstages. Das galt damals noch nicht als eine Best-Ager-Marke mit Potential für Werbefotos in Krankenkassen-Magazinen und Apotheken-Umschauen. Boßhart könnte ein seltsames Beispiel sein, die Frage wäre nur, wofür. Zum Beispiel, weil ich gerade über ihn schrieb, als Antityp zu Georg Freumbichler, dem schreibwütigen Großvater von Thomas Bernhard, dem provozierwütigen Österreicher, der das Nestbeschmutzen zum Kulturgut erhob. Freumbichler, der schrieb und schrieb ohne Rücksicht auf Verluste. Ohne Rücksicht auf Not und Elend von Frau und Tochter, ohne Rücksicht freilich auch auf sich selbst und ohne am Ende wirklich gerechtfertigt zu sein, leider.

Dagegen war Jakob Boßhart, am 7. August 1862 in Stürzikon bei Winterthur geboren, dort auch begraben nach seinem verzögerten Tuberkulosetod in Graubünden, ein Mann, der nicht nur einen ganz bürgerlichen Beruf ausübte, den des Lehrers, sondern diesen auch ganz ordentlich erlernt hatte. Mit einem Doktortitel verließ er die Universität Zürich, die er erst 1885 als später Student betreten hatte, am Gymnasium wählte man ihn 1899 zum Rektor. Und er schrieb. Er schrieb Erzählungen, Novellen, Geschichten, Dorfgeschichten und keine Romane. Romanprojekten wandte er sich erst zu, als er Zeit dafür hatte, als er so krank wurde, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. In der Schweiz, was mehr mit der Kleinheit des Landes zu tun hat, sind bis heute Schriftsteller in aller Regel Menschen mit soliden Berufen, auffallend oft Lehrer wie eben Boßhart. Die Kleinheit des Landes ist hier die schlichte Ursache für die Kleinheit von Buchauflagen und die Kleinheit von Buchauflagen bewirkt bei sonst gleichen Bedingungen wie in größeren Ländern weniger Franken in der Jahresabrechung der Verlagsbuchhaltung. Boßharts Bücher, meist Sammelbände, erschienen mit schöner Regelmäßigkeit in Leipzig, Buchstadt, Verlagsstadt, Messestadt: mit Umsatzaussichten.

Einmal schrieb er auch ein Drama, das nicht veröffentlicht wurde. Es erfreut zu sehen, dass es auch Autoren gab, die nicht im Theater ihr eigentliches Metier sahen. Und deshalb nicht immer wieder für die Bühne schrieben, ohne dass die Bühne es ihnen dankte. Dorfgeschichten sorgten für seinen niemals überbordenden Ruhm und ich gestehe freudig, dass ein Titel wie „Dödelis hohe Zeit und Heimschaffung“ mir zu keiner Zeit meines Lebens atemlose Neugier verursacht hätte. Dabei stehen in meinen Regalen auch Bücher wie „Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht“ von Albert Bitzius, den niemand unter diesem Namen kennt, wohl aber als Jeremias Gotthelf. Der hat laut Charles Linsmayer das Gebiet des alten Bern literarisch erschlossen und es drangen olivfarbene Bände aus dem Diogenes-Verlag Zürich einst auf wundersame Weise in DDR-Buchhandlungen, was meinen Zugriff ohne Devisenaufwand ermöglichte. In das Kompendium „Große Schweizer und Schweizerinnen. Erbe als Auftrag. Hundert Porträts“ (1990) hat es Jakob Boßhart nicht geschafft. Für „Helvetische Steckbriefe. 47 Schriftsteller aus der deutschen Schweiz seit 1800“ (1981) aber hat es gereicht: Muriel Zbinden und Elisabeth Rohner stellen ihn dort vor.

Werner Günther (13. September 1898 – 7. April 1988) begann seinerzeit den Beitrag zu Boßhart in seinem Dreibänder „Dichter der neueren Schweiz“ mit dem Satz: „Es ist nicht leicht, Jakob Boßhart gegenüber kritisch gerecht zu bleiben; er ist als Dichter eher ein „undankbarer Fall“.“ Dann fragt er sich: „Ob die kantige Herbe dieser Dichtung in uns das leise Widerstreben und eine gewisse Ratlosigkeit weckt?“ Und antwortet sich selbst: „Die holzschnittartige Vereinfachung und die Knappheit der Linienführung könnte an sich ein Vorzug sein, auch wenn sie als Ausdruck der Formstrenge nicht jedem Leser gefallen mag. Es muss an der besonderen Art von Boßharts Herbe liegen, wenn sie den gutgewillten, fühlenden Dichtungsfreund etwelche Überwindung kostet. Ihr eignet in der Tat etwas Düsteres, Unfrohes, Beengendes; es wird wenig gelacht und selten gelächelt in der Welt seiner Gestalten.“ Günther gibt sich guten Willens: „Alles, auch die trost- und lichtloseste menschliche Atmosphäre ist dem Gestalter erlaubt, wenn er sie zu beseelen weiß.“ Und genau das erkennt er als den Schwachpunkt, den tiefsten Grund für Widerstände vieler seiner Schriften gegenüber: „An der dichterischen Beseelung mangelt es bei Boßhart.“ Es wäre zu prüfen.

An „Dödelis hohe Zeit und Heimschaffung“ zum Beispiel. Das ist eine Geschichte, die das sehr Marktferne ihres Titels schon auf der ersten Seite vergessen lässt. Da ist von einer Wirtin die Rede, bei der die Armenpfleger von Illingen einkehren, mit ihr der Präsident, von der sie freundlich empfangen werden, von „einer rundlichen Frau im stillstehenden Alter“. Der Präsident kneift ihr im Vorbeigehen „leicht in die Backe“. Heutigen Leserinnen ohne Binnen-I und Sternchen innen oder außen knallt an so einer Stelle pflichtgemäß der Korken aus der Flasche: sexuelle Belästigung in reinster Reinkultur: Nieder mit dem Präsidenten, in den Staub mit allen Feinden, nein, das dann doch nicht. Die Wirtin aber bleibt „freundlich und gelassen“: „Sie verlor bei der Antastung ihrer rundlichen Person kein Quentchen ihrer Gemütsruhe.“ Sie nimmt sie hin, weil sie keinerlei Interesse daran hat, dass der Präsident die Sitzungen des Gemeinderates wie die Sitzungen der Armenpflege etwa in den Freihof verlegt, der als Tagungsort ebenfalls in Frage käme. Früher nannte man das ein materielles Interesse, welches als Faktum der Weltgeschichte, wie wir wissen, durch den Überfall Putins auf die Ukraine aus der geschichtlichen Welt geschossen wurde. Möglichst für immer.

Unser weilandiger Kaiser hätte gesagt: „Ich kenne keine Interessen mehr, ich kenne nur noch Werte.“ Mangels Kaiser übernimmt das bei uns eine bürgerliche Regierung, vom Effekt her ähnlich: es ist Blödsinn. Jakob Boßhart hat in der Geschichte vom Dödeli, was ein arg einfältiges Mädchen ist und zum Fall für die Armenpfleger wird, weder auf Lachen noch auf Lächeln verzichtet. Ein Sigrist, bei dem Dorothea Schudel in Kost und Logis ist, verfiel auf die Idee, der Gemeinde etwas Geld aus dem Säckel zu locken für seine Leistung, der keine aufrechenbare Gegenleistung des Mädchens entspräche. Bei Geld hört auch in der Schweiz, oder dort vielleicht sogar noch eher, der Spaß auf. Der Präsident lässt den Sigrist nebst Dödeli in den Vereinsraum der Wirtin kommen, der Mann erweist sich als hartnäckig, die geforderte Summe von zweihundert Franken will ihm nicht zur Verhandlungsmasse werden. Der (bauernschlaue) Präsident aber verfällt auf eine Idee, er zieht die Zuständigkeitskarte, die in jedem geordneten Gemeinwesen als Trumpfkarte gelten darf: Fände sich eine Variante, in der statt Illingen eine andere Kommune, idealerweise gleich in einem anderen Kanton, zuständig würde, dann wäre man eine drohende Dauerleistung an Zahlungen elegant los.

Das Kalkül geht auf und auch nicht, das Dödeli heiratet einen zugereisten Schuhmacher, alles scheint gut, bis ein Kind geboren wird, was dem Schuhmacher gebietet, auf Nimmerwiedersehen Illingen den Rücken zu kehren. Woraufhin die Heimatgemeinde des Flüchtigen in Regress käme, was wiederum mit der Zwangsausweisung des Dödeli dorthin verbunden ist. Wir haben Wulf Kirsten zu danken, dass er seinerzeit für den Aufbau-Verlag Berlin und Weimar just diese Geschichte wichtig fand für die Erstentdeckung des Schweizer Unterrichtsreformers und Dichters Boßhart. Auch „Genesung“ ist so stark, dass es sich lohnt, bei ihr einen Moment zu verweilen. Man könnte flach aktualisierend sagen, Boßhart gestalte die Tatsache, dass Not in der Zeitung doch eine ganze andere ist als die wirkliche Not. Wer die Geschichte liest, merkt es. Er braucht keinen Führer durch das Labyrinth der Sätze, denn dieses Labyrinth gibt es gar nicht. Es ist einfach erzählt, wie das Ehepaar Gallmann (30 Ehejahre), in kleinem Wohlstand und besten Zukunftsperspektiven genießerisch schwelgend, durch ein dem Sterben nahes Mädchen von acht Jahren, es kommt mit vielen aus Wien in die Schweiz, zu einem neuen Leben, zu neuem Selbstverständnis gebracht wird.

Es gibt nichts, was auch nur irgendwie spektakulär wäre, es ist eine schöne, sehr schöne, rührende, bisweilen herzzerreißende Geschichte, die nie auch nur in die Nähe sentimentalen Kitsches gerät, obwohl das schweizerische Diminutiv auf fast keiner Druckseite fehlt: es gibt ein Räuchlein und sogar ein Leichlein. Am Ende adoptieren Babette Gallmann und ihr Gatte das Mädchen Elisabeth, nachdem sie zuvor den Aufenthalt im Land der noch roten Kinderwangen verdoppelt hatten. Das Mädchen wirkt jene kleinen Wunder, die nur ein geborener Erzähler sieht und dann weitergibt: „Kein Zweifel: Die Fensterscheiben glänzten heller als sonst, die Geranien, die Petunien und Zinerarien leuchteten sonniger, die Schwalben unter dem Dach zwitscherten freudiger, und selbst das Räuchlein, das früher griesgrämig aus dem Kamin geschlichen war, hatte sich zu einem schwungvollen Qualm entwickelt, der lustig in Sonne und Wind spielte und sich in allerlei Farben zu kleiden wusste.“ Die neuen Eltern, die vor Jahren ein eigenes Kind verloren, merken es selbst: „Sie glaubten, allem gewachsen zu sein und kamen sich stark und gesund vor, wie von einer langen Krankheit genesen.“ Der Titel „Genesung“ meint eine tatsächliche und einen im übertragenen Sinn.

Wem der Sinn danach ist, dem leitmedialen Geschwafel vom „Neuen Liebesleben“ einfach den verlängerten Rücken zu zeigen, der nehme dies vom alten Lehrer Boßhart, der kurzzeitig auch in Deutschland gelehrt und studiert hat: „Was sie einander Freundliches antun konnten, taten sie, natürlich im Ausmaß ihres Vermögens und Herzens, die Eigenheiten, die, wie es menschlich ist, jedes an sich hatte, ertrugen sie wechselseitig mit großer Nachsicht und Geduld, und nie wechselten sie ein unwirsches Wort oder einen harten Blick.“ Wie viele Sätze würde es brauchen in einer Talkshow mit drei Prominenten, von denen zwei schon 30 Jahre verheiratet sind und die nun zu sagen hätten, wie sie das denn geschafft hätten? Das Ehepaar Gallmann, vielleicht gar nicht nur erfunden, vermittelt „Lehren“, wie sie wahrscheinlich kein Beziehungstrainer auf großkarierte Flipcharts schmieren könnte. Freundliches im Ausmaß ihres Vermögens und Herzens, Eigenheiten sind menschlich und mit Nachsicht und Geduld zu ertragen. Dabei verklärt der Erzähler der Geschichte nichts, er lässt beiden Eheleuten ihre zwei Gewissen. Und verschweigt das andere nicht: „Es ist wieder einmal etwas anderes als die Verwundetenzüge!“ sagt Gemüsehändlerin Heslibacher.

Boßharts erster Aufenthalt in Clavadel fällt schon in das Jahr 1904 nach einem ersten Zusammenbruch 1903, dem 1914 ein zweiter folgte. 1922 zeichnet die Schweizerische Schiller-Stiftung ihn mit dem Schillerpreis aus. In einer maschinenschriftlich überlieferten Autobiographie schrieb er 1923: „Gewiss stelle ich meistens Gestalten aus meiner Heimat in den Mittelpunkt meiner Erzählungen; aber es kommt mir viel weniger auf das Heimatliche als auf das Menschliche an, und da ich dieses in den Bauern unverfälschter und vor allem naiver als in den Städtern finde, so mache ich sie gerne zu Trägern meiner Probleme und Handlungen.“ Das dürfen dann auch einmal Weinbauern sein vom Zürichsee wie in „Die Schützenbecher“, nicht berücksichtigt von Wulf Kirsten. Hier versucht eine Mutter zu verhindern, dass der Sohn auf Abwege gerät, nachdem er bis zu seinem 20. Geburtstag nie Anlass zur Klage gab. Dann aber entdeckt er das Schießen für sich, das Leben im Schützenverein. Der Mutter erklärt er: „Hätte der Tell nicht schießen können, so hätte er sein Kind erschossen … und wir wären jetzt Schwaben oder Österreicher …“. Wir sehen: der Wilhelm Tell ist überall in der Schweiz, das Urbild und der von Friedrich Schiller erschaffene.

Der Sohn wird ehrgeizig, der beste Schütze des Dorfes am Zürcher See. Er ist Erbe eines Gutes mit sehr gutem Wein, dem weithin berühmten Himmeli-Wein, Sohn eines Vaters, der sich zu Tode soff, Enkel eines Großvaters, der sich zu Tode soff, und Sohn einer Mutter, die verhindern will, dass er seinen männlichen Vorfahren in Leben und Tod folgt. Sie gibt seinen Wünschen nach, zerschlägt aber mit der Axt den von ihm gewonnenen Schützenbecher, als er sichtlich betrunken nach Hause kommt. Es gibt einen Moment des Jähzorns: der Sohn wirft seiner Mutter den mit der Axt platt geschlagenen Rest des Bechers an den Kopf, sie fällt blutend vom Stuhl, ist aber zum Glück nicht schwerer verletzt. Das Leben danach ist nicht mehr wie das davor. „Sie war emsig wie eine Ameise und hielt die Dinge wacker zusammen, drum war sie auch dünn wie eine Ameise, was ihrer guten Laune jedoch keinen Abbruch tat.“ Es gibt ein gutes Ende. Das Ende hier überlasse ich gern Wulf Kirsten, der auch nach 1990 noch ein Anthologist hohen Grades geblieben ist. Er würde am 21. Juni 90 Jahre alt: „Mit Vorliebe gestaltete er eindrucksvolle Frauen- und Kinderschicksale, in denen sich das emanzipatorische Defizit und gesellschaftliches Unrecht am schärfsten zeigen ließen.“


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