Jakob Boßharts Mäuslein

Man könnte Werner Weber zitieren: „Es ist eine Unterweisung, ruhig, gewissenhaft, aus einem Bild entwickelt, dessen Motive dem Menschentag gehören und hier in jeder Erinnerung bereitliegen. Nichts Fremdes, nichts Befremdendes; nur Vertrautes, ja Vertrauliches – und ohne Ränke eröffnet sich dem erkennenden Anschaun der moralische Satz. Kunst und Erziehung stiften gemeinsam einen sittlichen Raum, in dem sich der Mensch als ernstgenommen empfinden darf.“ Der 1919 geborene Weber, dem seinerzeit die Universität Zürich eigens einen Lehrstuhl für Literaturkritik einrichtete, es soll der erste in Europa gewesen sein, schreibt von Jakob Boßhart und einer Szene aus seinem späten Roman „Der Rufer in der Wüste“. Wer heute wo über Jakob Boßhart schreibt, wird sich zeigen, immerhin ist das sein 150. Geburtstag. Es steht zu befürchten, dass gegenwärtig, da dem Menschentag angehörende Motive, da Vertrautes und Vertrauliches eher verdächtig sind, da das VERSTÖRENDE als das Gemäße herbei getrommelt wird, einer wie Boßhart fast komisch erscheinen muss.

Dieter Fringeli hat ihn einen Zivilisationspessimisten genannt und ihm zugleich bescheinigt, mit Moeschlin die überzeugendsten schweizerischen Bauernromane des 20. Jahrhunderts geschrieben zu haben. Das wäre bereits das nächste Problem: Wer ist Moeschlin? Auch einer, dem Werk und Tun ein wenig auseinander gerieten, wie ein schneller Überblick in Nachschlagemedien zu vermitteln scheint? Moeschlin, Felix mit Vornamen (1882 bis 1969), war immerhin Präsident und Ehrenpräsident des Schweizerischen Schriftstellervereins SSV. Der zwanzig Jahre ältere Boßhart ist in Vereinen weniger hervorgetreten. Auch war sein Metier der Roman eher nicht oder wäre es vielleicht noch geworden, wenn ihn nicht 1924 in der Nähe von Davos der Tuberkulosetod ereilt hätte. Von ihm sind es Erzählungen, sind es Novellen, die das begründen, was man kaum Ruhm nennen möchte. „Das Mäuslein“ etwa. Im Druck sind das nur fünf Seiten und es geht um eine kleinwüchsige Frau, die sich ertränkt, weil sie ahnt, dass sie, von der eigene Familie vertrieben, weniger aus purer Bösartigkeit, als aus einfacher gesunder Gedankenlosigkeit, auf ihre alten Tage keine neue Heimat finden kann.

„Wegen ihrer Kleinheit hatte sie nicht heiraten können, denn der Bauer heiratet Werkhände und die künftige Mutter seiner Kinder.“ schreibt Boßhart lapidar. Und: „Etwas Menschengüte? Ja, wenn die zu haben gewesen wäre!“ Rasch wandelt sich Realismus zu Pessimismus in den Augen derer, die Betrug suchen und ihn Hoffnung nennen in der Literatur. Seltsam konstant zieht sich eine solche Betrachtungsweise durch die jüngere Literaturgeschichte. Das Wissen um sie hätte manch Bezichtigten trösten können. Ich nenne stellvertretend Günter Kunert, der dem Verdikt von Hans Koch entwich, um dem von Hans-Jürgen Heise in die Arme zu laufen. Dabei verfolgt der Lehrer und Schulreformer Boßhart, wenn er schreibt, Geschichten vom Lande erzählt, durchaus auch pädagogische Absichten. Es geht ihm, man wagt kaum, das Wort in den Mund zu nehmen, um eine Weltanschauung, „die gebaut ist wie der Mensch selber: die Füße sicher auf der Erde, das Haupt nicht über den Wolken, aber dem Staube abgewandt.“

Das mit der Weltanschauung steht ziemlich am Ende von „Das Pasquill“. Boßhart erzählt dort von einem kindlichen Wilhelm Tell, dem sein Lehrer im Jähzorn einen solchen Fausthieb versetzt, dass der Junge einen Hirnschaden erleidet und nicht lange danach stirbt. Dieser Lehrer, den die Kinder, die in sechs Klassenstufen einen Schulraum besuchen, Geßler nennen, plagt seine Schutzbefohlenen mit Brutalität, er schlägt, er reißt Haare aus, schleudert zu Boden. Wie in der Sage versammeln sich die Kinder, um ihren Schwur zu tun. Anders als in der Sage ist der Lehrer stärker, Geßler siegreich. Bis Adolf Demut, Dolfi nennen ihn die anderen, sich stellt. Er verteidigt seine Sache wie die von Sempach oder Morgarten. Jeder in der Schweiz ist mit diesen Nationalorten vertraut und weiß, was solch ein Vergleich besagt. Dolfi wagt es, das Pasquill an die Schultafel zu heften, das alle andere für Teufelswerk sahen und nicht einmal anfassen wollten und dessen Inhalt der Autor, so allwissend er sich gibt, dem Leser vorenthält. Nur ahnen kann man, dass da ein Strafversetzter ganz nebenher noch dem Schulverwalter die Frau nimmt.

Es wäre darüber nachzudenken, wie ein kindlicher Opfergang, pathosfrei erzählt, verstanden werden möchte. Universitätsfreund Berger in Grünfelden sagt das zum Erzähler, der dann weitergibt, was er hörte: „Damit meinte ich ein gutes Erziehungswerk getan zu haben, denn wer im Menschen die Liebe zur Wahrheit weckt oder besser wach erhält, gibt ihm einen guten Kompaß fürs ganze Leben.“ Das klingt heutigen Ohren sicher wie von vorvorgestern. Kompass? Und gleich fürs Leben?? Immerhin hat der Tod des kleinen Dolfi, welch schwarze Ironie, den „Geßler“ Farner tatsächlich aus dem Ort vertrieben, es kommt ein neuer, junger Lehrer, der nicht viel sagen muss, bis die Kinder ihre Hände wieder heben, was ihnen zwischenzeitlich verleidet worden war. Der Schulverwalter findet zurück ins Leben der Pflichten, es wird ein kleines Denkmal errichtet, „wie es sonst nur Kindern zuteil wird, denen vermögliche und zärtliche Eltern nachweinen.“

Schöne unvertraute Wörter wie „vermöglich“ gibt es immer wieder bei Jakob Boßhart, ein anderes heißt „Unterbruch“. Es gibt Sätze wie „Die Stämme lagen wirr durcheinander, als hätten die einen die andern im Zorn erschlagen.“ Leichen im Winterwald klingen, mit dem Fuß berührt, wie aneinander stoßende Eisschollen. Als wir vor Jahren von Soubey im Kanton Jura in Richtung Belfort aufbrachen, ahnten wir nicht, den Handlungsraum von „Die beiden Russen“ zu durchfahren,  wir hätten die Schüsse hören können von dort her, wenn sie denn gefallen wären. Als wir zum Monument Morgarten aufstiegen, von oben auf den See blickten, war von dort kein Gedanke an Jakob Boßhart gerichtet. Das einzige Foto von ihm, das ich kannte, erinnerte eher an einen Professor Unrat als an einen Mann, der den Französischunterricht in Zürich reformierte. Werner Günther hat ihm in seinem dreibändigen Werk „Dichter der neueren Schweiz“ immerhin 50 komplette Seiten gewidmet. Er hat nicht wenige Vorbehalte formuliert, dann aber auch Zitate der Begeisterung aufgenommen, Boßhart pur über mehrere Seiten.

Und dort findet sich auch folgende Ansicht: „Die „Jugendkönigin“ ist das Reifste, Köstlichste, innerlich Ausgeglichenste, was Jakob Boßharts Feder entflossen, und man bedauert, daß diese reine dichterische Hingabe ihm nicht öfter beschieden war.“ DDR-Lesern lieferte die „Jugendkönigin“ 1985 den Titel einer kleinen Auswahl von Dorfgeschichten. Wenn es stimmt, dass sechs Gedichte ein Lebenswerk lohnen, wie Benn behauptete, dann wäre eine Geschichte von dieser Reife nicht als Unikat zu bedauern, sondern mit allen Kräften vor dem Vergessenwerden zu bewahren. Nimmt man zusammen, was der Schweizer Boßhart, Jahrgangsgefährte von Gerhart Hauptmann und Arthur Schnitzler, und ihnen gar nicht so fern, wie es auf die ersten Blicke erscheinen mag, vor allem erzählt hat, dann ist das „Mäuslein“ eine Stellvertreterin. Viele Helden und Heldinnen bei ihm sind, verglichen mit den Großen seiner und unserer Welt noch immer, Mäuslein gewesen. Wie er sie schildert, ist eben nicht sentimental, es ist, siehe Weber am Anfang, „ruhig, gewissenhaft, aus einem Bild entwickelt.“ Genau das will erst einmal gekonnt sein.


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