Tagebuch

22. November 2018

Schlecht gelaunter Busfahrer moniert, dass ich ihm meine 1,30 Euro schon aufs Pult lege, als dort noch 40 Cent von der Dame vor mir liegen. Wie soll er, fragt er, erkennen, welches Geld meines ist. Ich hätte sagen müssen, dass Gott zu diesem Zweck an der vorderen Oberseite seines Kopfes zwei Löcher gelassen hat, durch die mittels Augen Informationen aufgenommen werden können, deren Verarbeitung freilich eines Gehirnes bedarf, das bei schlecht gelaunten Busfahrern, die a) zu früh kommen, b) an der falschen Stelle halten und c) eine Fresse ziehen, als hätte ihnen Mutti heute die falsche Leberwurst aufs Brot geschmiert, noch nicht zwingend eingeschaltet sein muss, während sie trotzdem schon fahren. Natürlich sage ich das nicht, denn ich achte den Beruf des Busfahrers, weiß, dass er ohne Überstunden nicht leben kann und folglich, statt zu leben, vor allem Bus fährt. Sonst ist es neblig, ich winke beim Aussteigen einem russisch brabbelnden Kind, das glatt zurückwinkt.

21. November 2018

Ich verrate für ein Linsengericht nichts und niemanden, gestehe aber, dass ich gern eins esse und deshalb steht fast immer ein Büchslein im Regal. Gern mag ich auch den Moment, wo ich nach einer langen Vorarbeit den ersten Satz gefunden habe und wenn der da steht, folgen in Windeseile drei Absätze nach zu je 13 Zeilen und dann schreibt sich der Rest von allein. Ich strich heute einer Nachbarskatze über den Kopf, sie ließ es sich gefallen, ich sah, das Deutschland nun doch im Lostopf 2 gelandet ist, was ich besser finde, als im Mustopf zu landen. Mit gelbem Textmarker bedenke ich einen Satz von Maximilian Harden: „Der Schweizer ist besonnen, eben drum ist der unbesonnene Teil im Land so berühmt.“ Der Schnee draußen, von dem ich gestern am Telefon hörte, er sei in Dresden noch nicht angekommen, verabschiedet sich heute schon wieder, es war ihm hinreichend, den Hermesboten geärgert zu haben, der laufen musste, weil die Straße blockiert war.

20. November 2018

Verspätet ist mir die verspätete Todesanzeige für Dirk Pilz in die Hände gefallen, dessen Namen vor allem Leute kennen, die Theaterkritiken lesen, also letztlich: niemand. Es wäre eine glatte Lüge,   behauptete ich, ihn gekannt zu haben. Wir sind uns ab und zu in Berlin begegnet, einmal wechselten wir anderthalb Worte im damals noch prä-migrantischen Maxim-Gorki-Theater, er kam mit seinem Rollköfferchen auf den letzten Drücker, ich stand ihm beim Ansturm auf die Garderobe irgendwie im Weg. Seine Texte waren Synergie-Effekt-Texte in den letzten Jahren, man las sie nicht mehr nur in der Berliner Zeitung oder Frankfurter Rundschau. Er war auch einer der Nachtkritik-Begründer, was nicht posthum gegen ihn verwendet werden soll. Die Beisetzung ist übermorgen in Alt-Stralau. Heute feiert das Museum der Stiftung Haus der Geschichte in der Kulturbrauerei ihr fünfjähriges Jubiläum, ich war freundlich eingeladen, doch Dienstage sind keine guten Berlin-Termine für mich. 

19. November 2018

Die erste leibhaftige Oberbürgermeister-Besichtigung liegt hinter uns. Wir sahen noch die nervös umher spähende Hauptamtsleiterin, Meisterin des Protokolles, in diese und jene Richtung schauen, während verschieden Bemützte sich so nach und nach um den Gedenkort sammelten, als er dann erschien: jungenhaft, unauffällig, die Zeiten breitkrempiger schwarzer Hüte sind vorbei. Ihm scheint man noch alles sagen zu müssen und er selbst sagt fast nichts. Das Protokoll hat Übermacht, jeder vergessene Ehrengast kann eine Stimme kosten bei der nächsten Abstimmung. Seine Wahlklientel ist stärker bei diesem Volkstrauertag vertreten als sie es je war, der Kreis derer, um die getrauert, derer gedacht wird, ist längst formelhaft so erweitert, dass auch die, die einen wegen Mitgliedschaft im Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge glatt kryptischer Rechtsradikalität verdächtigten, jetzt ihre Mützen von den Ohren ziehen, wenn die Solotrompete beginnt: „Ich hatt`einen Kameraden …“

18. November 2018

Im Felde der Beunruhigungen gibt es auch handfeste: während ich eben vor meinem Bildschirm sitze an zwei Dateien, die ich abwechselnd fortschreibe, gibt es plötzlich ein nie gehörtes Geräusch. Einer unserer Rauchmelder, der im Flur, hat angeschlagen, ein zweiter im Wohnzimmer, blinkt immerhin schon vor sich hin. Panik: Was nun? Kommt jetzt die Feuerwehr, wer bezahlt Fehlalarm im Fall eines Fehlalarms? Immerhin findet sich nach etlichen sprungartigen Bewegungen durch die Wohnung, nach Kletterübungen auf einem Stuhl zum Zwecke des Ausschaltens auch das Merkblatt. Der Rauch, den gleich zwei Melder meldeten, entstammte dem großen Bräter in der Küche, in dem einige Kohlrouladen trotz Abzugshaube darüber wie eine gute alte NVA-Nebelgranate nebelten. Man soll also lieber den Rouladenduft in die letzte Ritze dringen lassen als die Schlafzimmer mit geschlossenen Türen schützen. Der Kommunismus ist schuld: er hinterließ Küchen ohne Fenster.

17. November 2018

Den heutigen Tag habe ich erst zu spätester Stunde mit flüchtigen Gedanken an dieses Tagebuch verbracht, des Stoffes voll, der ins ganz Private hätte führen müssen, da dies der 66. Geburtstag einer Schulfreundin gewesen wäre, die aber vor 16 Jahren freiwillig aus dem Leben ging. Curt Goetz hätte ich kaum erwähnt, weil ich seiner schon mehrfach gedachte, Berta Lask steht dafür in meinem Erinnerungskalender für Schreibanlässe, Doris Lessing noch nicht, auch wenn sie auch schon wieder fünf Jahre tot ist. Beunruhigt hat mich, dass ich für eine Behauptung im Anhang des dreibändigen Ehebriefwechsels von Theodor und Emilie Fontane, nämlich einen Harz-Aufenthalt für 1866, nirgends auch nur den geringsten Beleg finden konnte, in Tagebüchern nicht, in Briefen nicht, immer stieß ich auf kräftige Lücken für eben das Jahr 1866, über die sich die jeweiligen Herausgeber tapfer ausschweigen. Ich gebe zu, solche Beunruhigungen sind solistischer Luxus.

16. November 2018

Warum habe ich eigentlich regelmäßig ein schlechtes Gewissen, wenn ich wieder einmal etwas nicht geschafft habe, was ich unbedingt schaffen wollte? Niemand außer mir weiß ja, dass ich es schaffen wollte, niemand kennt meine Pläne und Absichten. Dennoch schlafe ich schlecht, dennoch rollen die ungeschriebenen Texte in meinem Kopf ab, dass ich nur einen Scanner brauchte, sie aufzuzeichnen. In der täglichen Wirklichkeit aber tippe ich sie und sehe bei Sandra Maischberger einen Alpha-Journalisten, der erzählt, dass es beim SPIEGEL nicht üblich war, selbst Tastaturen zu berühren (damals noch Schreibmaschinen), man ging diktieren. Ich Idiot schrieb immer selbst, bei  meinen ersten Redaktionseinsätzen 1968 und 1969 schon. Ich hämmerte in der Schreibkabine der Staatsbibliothek an einer grässlichen Kiste, um nicht alles teuer kopieren zu müssen, was ich für meine Arbeit brauchte. Das rächt sich. Mit „Der Landvogt von Greifensee“ bin ich in der Zielkurve.

15. November 2018

Vor zwanzig Jahren begann ich meinen fünften Brüssel-Aufenthalt nach 1994, also eigentlich den sechsten, aber die Flandern-Rundreise mit dem Thüringer Reisedienst 1995 klammere ich aus, da war Brüssel nur Ausgangspunkt, wir wohnten weit draußen im Gewerbegebiet. 1998 sammelten wir in Eisenach die letzten Mitreisenden ein, Lehrerinnen, von denen mein Tagebuch vermeldet, sie seien danach stundenlang nicht wieder verstummt. Am Morgen lag noch Schnee auf dem Auto, am Abend gab ich für nämliche Lehrerinnen den Cicerone und schleppte sie nach der üblichen Runde über den Grand Place und durch die Fressgassen auch in die „Toone“. Wie immer dort nippten alle rundum an den Bieren der jeweils anderen und gewannen den Eindruck, es sei alles sehr urig. Ich wohnte in Zimmer 56 unterm Dach mit Blick auf Parkplatz und Tankstelle nebenan, hatte eine schräge Wand und spartanische Einrichtung. Dafür nutzte ich dreist den Bus-Shuttle bis zur Börse.

14. November 2018

Mit ganzen 137 Stimmen rutscht man heutzutage in Bockwurst-Ilmenau in den Stadtrat: als ein Nachrücker. Dort rückt man dann in eine andere Fraktion als die, für die man die bescheidenen Stimmen sammelte und schon verschiebt sich das Gleichgewicht derart, dass die Zeitung eigens darüber schreibt. Ich hatte einst fast doppelt so viele Stimmen und nie auch nur die Spur einer Chance. Mein Leben wäre anders verlaufen, das Leben selbst hätte vermutlich nicht einmal Notiz von allem genommen, weil es ausdauernd damit beschäftigt ist, seinen Gang zu gehen. Der neue Oberbürgermeister lässt sich mit alten Skat-Meistern belichten und es steht zu vermuten, dass er dies und jenes tun wird, was der alte Oberbürgermeister auch tat. Eines ist allerdings auch klar: „Na, mein Lieber“ wird er nicht zu mir sagen und mich auch nicht fragen, wie es mir geht. Ob ich künftig an dieser Stelle einen Phantomschmerz empfinden werde? Vermutlich nicht, aber wer weiß.

13. November 2018

Als wir anno 1991 unsere allererste Italienreise starteten, ging es uns vor allem um das Ausflugziel San Marino, das wir 2019 erneut besuchen werden. Wir wohnten in Pesaro, wo am 29. Februar 1792 ein später sehr dicker Mensch geboren wurde, den Opernfreunde natürlich bestens kennen: Gioacchino Rossini. Pesaro gehörte damals noch zum Kirchenstaat, was wir alle Italien nennen, gab es noch nicht. Rossini starb am 13. November 1868 nahe Paris. Das Rossini-Haus in Pesaro, weiß und olivgrün und mit wilden Verzierungen an den Fassaden, belichtete ich am 14. Oktober 1991 bei einem ersten Rundgang zum Adriastrand und zurück von zwei Seiten. Meine Ur- und Grunddistanz zur Oper wurde damit nicht geringer. Unser Hotel hieß „Caravan“, bot von unserem kleinen Balkon aus sogar ein wenig Meerblick, wenn man sich sehr reckte und streckte. Familiengeführt nennt man solche Häuser. Als Fontane Italien zuerst besuchte, hatte er eher durchwachsene Hotelerlebnisse.

12. November 2018

Was sagt man seinem Computer, wenn der mit einem hässlichen „Bemm“ verbunden behauptet: „Bei der Weitergabe des Befehls ist ein Fehler aufgetreten.“ Früher nannte man dies das Prinzip der stillen Post. Ob heute bei der Weitergabe der Nachrichten-Sequenzen vom Auftritt der Kanzlerin aus Anlass von 100 Jahren Frauenwahlrecht Fehler auftraten in den öffentlich-rechtlichen Programmen, kann ich nicht sicher behaupten. Ich sah nur am Nachmittag einen Satz über Quoten und Parität, auf den hin es fast jubelnden Beifall für Angela Merkel gab, und ab dem Abend fehlten Satz und Jubel in allen Nachrichten. Darf einer Kanzlerin medial kein Jubel mehr zugeordnet werden, wenn ihr die Medien innerlich bereits den Stuhl vor die Tür gestellt haben? Wie rasch hatten unsere Flaggschiffe uralte Manns-Mumien aus westlichen CDU-Gruften gezogen, die über Merkel redeten, als hätte sie mit aller Kraft und ausschließlich am Untergang des Abendlandes gearbeitet! Ich bekenne Ekel pur.

11. November 2018

Die Restzahlung hielt sich in Grenzen, dreimal die Getränke zum Abend, dreimal der Parkplatz, dreimal die Kurtaxe. Die beiden Saunen verröchelten gestern am späten Nachmittag, beide lagen mehr als 15 Grad unter der angegebenen Temperatur, in der einen zischten nicht einmal mehr die Steine beim Aufguss, in der anderen saßen Frauen ganz oben, was bei 95 Grad ungefähr so selten ist wie Männer in der Bio-Sauna mit Klangschalen-Entspannung. Auf Höhe Bad Hersfeld erinnerten wir uns der späten Heimfahrten nach den Premieren der letzten Jahre, von Dieter Wedel redet schon niemand mehr. Sein Nachfolger will unbedingt den großen Prager Dramatiker Franz Kafka in die Stiftsruine bringen, wir wünschen frohe Verrichtung und verbleiben bis 2020. Die Post erfreute uns mit vielen Katalogen, zwei roten und einer gelben Benachrichtigungskarte, wobei eine der roten Karten auf ihrem QR-Code einen Nachbarn als Empfänger nannte, von dem wir noch nie hörten.


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