Tagebuch

10. November 2018

Sieht man vom Kirchheimer Dreieck ab, wo die Baustelle in unserer Gegenrichtung einen Stau von allerfeinstem Ausmaß verursachte, kamen wir gut in Bad Salzschlirf an. Das Hotel, in dem wir das Zimmer 110 bezogen, beherbergte einst in seinen besten Zeiten nicht nur einen bulgarischen König, nein, während der Dreharbeiten zu „Die Feuerzangenbowle“ auch Hauptdarsteller Heinz Rühmann. Schwer zu sagen, wie oft ich diesen Film sah in jüngeren Jahren. Nach einem Kurztrip gestern nach Schlitz, das sich Burgenstadt nennt, die höchste Kerze der Welt beherbergt und sehr interessante Holzarbeiten in einem Schaufenster ausstellt, Schwibbögen, heute eine etwas ausgiebigere Tour nach Fulda, wo wir zuletzt Ende November 1992 mit dem Sonderzug zum Weihnachtsmarkt waren. 26 Jahre später sind kaum Erinnerungen geblieben. Vielleicht an Glühwein, den wir sonst fast nie nehmen. Die Therme in Bad Salzschlirf ist seit 2017 geschlossen, es soll wohl einen Neubau geben.

9. November 2918

Ja, Herr Professor, wir haben heute eine solide Auswahl an Gedenkanlässen. In den oberen Klassen könnte man schon etwas geschichtsphilosophisch werden, was sich so alles auf ein Datum ballt. Das Ereignis wählte sich bisweilen sogar haargenau dieses Datum. Vor Jahresfrist gedachte ich des 199. Geburtstages von Iwan Turgenjew, worauf selbst für umgeschulte Regieschul-Absolventen ziemlich messerscharf folgt, wessen ich heute gedenke. Ich tue das aber nicht zu Hause, weil ich mich in Gegenden befinde, die mir bis dato eher unvertraut waren, wenn ich absehe von den Bad Hersfelder Festspielen, die sich im weiteren Einzugsgebiet ereignen. Nun denn. Am Sonntag bin ich wieder zu Hause und lüfte das Geheimnis meines morgigen Schweigens. Vor hundert Jahren starb Guillaume Apollinaire, von dem ich, irgendwann schrieb ich davon, eine ungarische Ausgabe besitze und die Erzählungen „Der gemordete Dichter“. Die Titelerzählung war einmal sensationell „hypermodern“.

8. November 2018

Die Frau steigt aus hinten und kommt sofort wieder herein: sie hat ihre Tasche im Bus liegen gelassen. Die Frau steigt erneut aus und der Busfahrer schließt die Türen. Die Frau klopft an die Zustiegstür und steigt abermals ein, sie sei ja erst am Bahnhof, ihre Augen seien so schlecht. Ich höre vom schweren Unfall in der Kopernikusstraße, von Blutlache, Hubschrauber, vom Reinigen von Unfallwagen, in denen sich manchmal noch ein Finger findet. Der Bus müsse einen Umweg fahren. Das tut er aber nicht, wahrscheinlich ist alles längst geräumt, er kommt sogar etwas eher als gewöhnlich oder er hat, siehe vorige Woche, so viel Verspätung, dass er sein eigener Nachfolger ist. Was ich Semmeln nenne, nennen andere Doppelte oder Große, man hört, wer von hier ist. Ich habe noch nie ein halbes Zweier gekauft. Donnerstagsgedanken. Von den drei Zeitungen werfe ich zu Hause sofort so viel weg, dass es mehr ist als die dünnste. Die dünnste hat ihre Struktur umgestellt. 

7. November 2018

Aus den Jubiläen kommen wir gar nicht mehr raus, da muss ich nicht noch lange in der Literatur suchen. Wir haben mit unserem Dezimalsystem beliebige Gelegenheiten, selbst dann etwas zu finden, wenn scheinbar nichts zu finden ist. Wir hatten den Anfang des ersten Weltkrieges, jetzt haben wir das Ende, wir haben nun die Abdankungsdokumentationen, der in die Hose gegangenen Revolution von 1918 gedenken wir zeitgleich mit dem Geburtstag Iwan Turgenjews. Heute sehen wir den zweiten Teil des Rohwedder-Reißers, morgen die letzten Teile von „Babylon“, wobei ich nach so vielen US-kompatiblen Folgen immer noch zuerst an das Kino denke, das näher zu meiner Berliner Wohnküche lag als jedes andere. Auch das so genannte Camera-Kino in der Oranienburger lag weiter weg, wo es Filmkunst gab und manchmal Blues am Sonntag-Vormittag. Keine Nostalgie, auch nicht angesichts der Heftreihe, die „Wir diskutieren“ hieß (Greifenverlag) in den 50er Jahren.

6. November 2018

Früher hätte mich eine solche Nachricht kaum dazu gebracht, den Blick von den Schnürsenkeln zu wenden, an einem Montag aber, da ich mich anschicke, den ersten Teil einer RAF-Geschichte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen, weil mich Terroristinnen schon immer interessierten, noch mehr aber, wenn sie von Petra Schmidt-Schaller gespielt werden, da breitet sich Vorgefühl in mir aus: im kommenden Jahr komme ich in den Genuss einer Rentenerhöhung von 3,9 Prozent, da soll noch einer was gegen die Groko sagen, die freilich nichts dafür kann, es ist halt der Verlauf der Konjunktur. Heute wäre vom 138. Geburtstag Robert Musils zu reden oder vom Spielplan in Bad Hersfeld 2019, der mich von einer Reise abhält, weil ich zwar Franz Kafka mag, nicht aber seine Romane auf Bühnen, gleich wer und wie gut der/die sie inszeniert. Ich bin der sehr altmodischen Meinung, dass 2500 Jahre Weltdramatik so viel beinhalten, dass Romane Romane bleiben sollten.

5. November 2018

1965 gab es noch wissenschaftliche Bücher des Berliner Akademie-Verlages, die hinten die vollständigen Anschriften nicht nur der DDR-Wissenschaftler, sondern auch der Gäste aus dem Reich des Bösen abdruckten, sodass man, falls man wollte, an sie schreiben konnte, damit dem aufs Brieföffnen spezialisierten Spezialministerium eine Jobgarantie liefernd. Immerhin ist dem als Band I deklarierten Buch über Turgenjew und Deutschland nie ein zweiter Band gefolgt, der so auch gar nicht hätte mehr heißen dürfen, denn was um alles, war denn Deutschland? Das alte, das ganz alte, oder gar jenes in drei Teile zerfallende mit dem besonderen politischen Territorium Westberlin? Ich nähere mich dem 200. Geburtstag von Iwan S. Turgenjew auf leisen Sohlen, dem 199. widmete ich vor Jahresfrist ein Textlein über ein Bühnenwerk, das werde ich in diesem Jahr nicht wiederholen können wegen anderer Jubiläen. Ein Montag voller Sonnenschein zu Lasten der neuen Winterräder.

4. November 2018

Es ist wie mit Turgenjews „Natalie“, von der man nicht automatisch wissen muss, dass sie „Ein Monat auf dem Lande“ unter anderem Titel ist wegen ihres anderen Übersetzers. „Mumu“ ist der andere Titel von „Der Stumme“, den wiederum las ich am 3. Januar 1976 mit Federzeichnungen von Kurt Riedel aus dem Leipziger Jugendbuchverlag E. Wunderlich 1953. Nicht weniger als 13 Bücher las ich in jenem Januar, in dem meine studentische Hauptaufgabe eigentlich „Materialismus und Empiriokritizismus“ von Lenin hieß, das musste ich konspektieren, deshalb waren die anderen zwölf Titel deutlich dünner: immerhin noch Joseph Conrad dabei und Bobrowski und ein zweiter Turgenjew. Am Nachmittag ein Ausflug zum Ilmenauer Lichterfest. Vom Wetzlarer Platz bis zum Kino alles rammelvoll, wir trafen tatsächlich sogar Bekannte, nur diesmal fotografierte uns anders als beim Stadtfest niemand, als Wahlkampfunterstützer haben wir unsere Schuldigkeit brav getan.

3. November 2018

Mein Behandlungsplan Kiefergelenkserkrankung/Kieferbruch vom 24. Oktober hat den Segen meiner Krankenkasse, für meine Privatkasse wird am Ende dennoch und trotz Zusatzversicherung ein Stänglein bleiben. Ob ich später noch so fröhlich wie nach der gestrigen wunderbar mundigen Weinprobe im Gemeindesaal in der Unterpörlitzer Straße werde zubeißen können, wird sich zeigen, wenn alles installiert ist, wieder aufgebaut, was einst mitten im Sozialismus durch suboptimale Zahnarztkunst respektive Abwesenheit von Zahnärzten für Studenten über den Jordan ging. Den Versuch, nach meiner Morgenlektüre von „Mumu“ herauszufinden, wann ich diesen Turgenjew zuerst las, gab ich erst einmal auf. Sicher bin ich nur, dass die Geschichte nichts verloren hat seit damals. Das Weingut, dessen Erzeugnisse ich in trauter Runde verkostete, sitzt in einem Ort namens Sommerloch, meine Favoriten ein Regent, ein Spätburgunder Alte Reben, ein Weißburgunder.

2. November 2018

Allerseelen heute ist für die Spatzenscharen unter meinem Arbeitszimmerfenster ein finsterer Tag. Drei, phasenweise vier Männer rotteten unter Erzeugung von Höllenlärm zwei üppige Sträucher mit Hagebutten aus, der eine Busch war vor einem Jahr schon verstümmelt worden, trug aber noch tapfer Früchte, jetzt sind beide weg. Die Sperlinge haben nun nicht nur einen Landeplatz weniger, in dem sie fröhlich zwitschern konnten, auch eine gute Vorratskammer mit Winterfutter ist weg. An der auch andere Vögel teilhatten. Die Sozial-Verbrecher, pardon, Sozial-Demokraten, die 2004 die Teilenteignung meiner Altersvorsorge bei Eintritt ins Rentenalter beschlossen, damit meinen Vertrag mit dem Presseversorgungswerk aus dem Jahr 1991 in ein Vertrauensbruch-Papier verwandelnd, nehmen mir von den ersten 120 Monatsrenten nicht weniger als 19 einfach wieder, ich bekomme also dank Rot-Grün rein rechnerisch in 10 Jahren nur achteinhalb Jahre Rente. SPD-Gerechtigkeit!

1. November 2018

Als zivilisierter Bürger bin ich bis zum heutigen Tage durchaus geneigt gewesen, Hassmails in den so genannten sozialen Medien mit Unverständnis zu begegnen. Nun aber, ausgelöst durch einen Brief der AOK, eröffne ich mein persönliches Hass-Zeitalter. Mein Hass gilt beiden Parteien, die vor Jahren eine rot-grüne Regierung bildeten, in dieser Funktion ein Gesetz unter Ausschluss des in Deutschland geltenden Rechtstatbestandes Vertrauensschutz erließen, demzufolge nachträglich Beiträge zur Altersvorsorge, bei mir im Presseversorgungswerk, krankenversicherungspflichtig sind. Praktisch bedeutet dies für mich, dass ich in den kommenden zehn Jahren mehr als 20.000 Euro an eine Krankenkasse nachzahlen muss, bei der ich erst seit zwei Jahren überhaupt bin, dass ich keinerlei juristische Handhabe habe gegen dies verbrecherische Gesetz aus dem Jahr 2004 und darüber auch erst aufgeklärt wurde, als die Auszahlung meiner Altersversorgung fällig wurde.

31. Oktober 2018

Zu den härteren Fällen des Bücherfreundelebens gehört der, dass man Vorkasse leisten soll, einem aber nicht die Kontodaten zur Verfügung gestellt werden, die man zur Überweisung benötigt. So zieht sich der Erwerb eines alten Stückes ein Weilchen hin, man entfaltet muntere Mail-Wechsel und am Ende überkreuzen sich verspätete Zahlung und Lieferung. Dabei ist Jost Schillemeit nicht eben überrepräsentiert auf dem Markt, ich also froh, just das gefunden zu haben, was ich als solider Arbeiter im Fontane-Bergwerk brauche. Heute sind wir gewappnet, falls es um Saures und Süßes geht, es gab schon Jahre, da wir uns den Ruf von Dödeln einhandelten, weil unbevorratet. Wir haben einen dicken Reisekatalog durchblättert und sind auf ein Angebot gestoßen, dass uns zusagt, werden demnach 2019 der zweiten gleich noch eine dritte Renteneintrittsreise folgen lassen. „Alles spitzt sich im letzten zu einer Geldfrage zu“ sagt Fontane, sagt locker seine zweite Rom-Reise ab.

30. Oktober 2018

Wenn eine hochrangige Politikerin der CDU, die jahraus, jahrein nur von Angela Merkel redete, plötzlich von Frau Merkel spricht, dann weiß, wer mit Ohren ausgestattet ist zu hören, was die Stunde geschlagen hat. Manchmal dauert es danach noch etwas länger. Und so vermerke ich am heutigen 30. Oktober, dem 25. Jahrestag meines ersten und bisher einzigen Herzinfarktes, zugleich dem ersten Erscheinen einer Rentenzahlung auf meinem Girokonto, eine historische Einmaligkeit: meine erste und bisher einzige Lieblingskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, wirft mit Geste hin: erst den Vorsitz, dann die Kanzlerschaft, mit ihr auch noch das Bundestagesmandat. Geschieht alles vor der nächsten regulären Wahl, freut sich ein Nachrücker, wird vorgezogen, ist wieder die SPD das Opfer, die so ausdauernd ihr Profil schärft, bis dieses wegen Dünne durchscheinend wird. Meine Rente reichte für mittelfristige Altersarmut, wäre ich nicht der Gatte einer Gattin, der ich bin.


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