Tagebuch

22. September 2018

Man sollte mit dem ruhigen Gefühl Urlaub machen, dass nichts liegen blieb, was erledigt werden musste. Soweit es in eigener Macht steht, natürlich. So schrieb ich diesen ganzen langen Tag lang an einem abermals ziemlich umfangreichen Text zu Gottfried Keller. Gönnte mir einen offenen Schluss. Beendete am Morgen noch die Lektüre eines Vortrags, der am 6. Dezember 1969 im Studio der Akademie der Künste Berlin gehalten wurde, ihn hielt Peter Demetz, der mich nie enttäuscht. Ein Satz daraus: „Fontane hat seinen Lesern mehr zu verdanken als seinen Kritikern.“ Mit solchen Sätzen macht man Hörer neugierig, Leser auch. Wobei in Akademien, wenn der Spaß erlaubt ist, damit offenen Türen eingerannt werden, die dennoch Beulen verursachen. Am 22. September 1998 saßen wir abends lange auf unserem kleinen Balkon in Garda, tags hatten wir den Soldatenfriedhof Costermano besucht, zu Fuß hin und zurück, 36mal den Namen Ullrich gefunden im Totenbuch.

21. September 2018

Wenn bei Sartre in „Die Troerinnen des Euripides“ der Herold Talthybios sagt: „Krieg ist Krieg“ und damit sein Tun rechtfertigt, für das er sich selbst sichtbar schämt, dann neigt man zu solider Empörung, zu hören gestern auch bei der Premiere in Meiningen, einer sehr, sehr guten Premiere übrigens. Wenn man beim kriegsgefangenen Theodor Fontane im Brief an seine Gattin liest: „Es liegt in den Verhältnissen. Krieg ist Krieg“, dann neigt man zu Verständnis, zu hören heute in meinem Inneren. Zum Thema, welche Sätze man sagen kann und welche nicht, weil sie schon in einem bestimmten Sinne gebraucht wurden, sagt das alles, man muss nicht mehr dazu sagen. Ich habe auf der Heimreise gestern einen drängelnden Reisebus erlebt, Kennzeichen NMB. Es war der Chef des Unternehmens selbst, wie ich heute am Telefon von ihm selbst hörte. Er ist natürlich weder zu schnell gefahren noch hat er rasant und verkehrsgefährdend mich überholt. Was will ich?

20. September 2018

Kapitel 27 seines Buches „Das Geld schreibt“ hat Upton Sinclair „Die Kaste der Kritiker“ genannt. Der erste Satz dort in der Übersetzung von Elias Canetti lautet: „An jedem erfolgreichen Künstler saugt sich eine Anzahl von Parasiten fest, - die Kritiker nämlich, die davon leben, dass sie dem Publikum erzählen, was der Künstler meint, warum und wieso er bedeutend ist.“ Ich besitze die deutsche Erstausgabe aus dem berühmten Malik-Verlag von 1930 und nehme sie anlässlich des 140. Geburtstages leicht ehrfürchtig in die Hand. Dazu steige ich auf mein klappbares Fußbänkchen. Bei Fontane muss ich das nicht. Zu ihm drehe ich mich auf meinem Drehstuhl am PC einfach nur um. Seinem heutigen 120. Todestag widme ich eine kleine Abhandlung mit dem Titel „Theodor Fontane in Ilmenau“. Sie ist ein erster Vorausblick auf den 200. Geburtstag im kommenden Jahr, dem in diesem ja erst noch der 199. vorangeht. In Arnstadt war Fontane übrigens auch: auf der Durchreise.

19. September 2018

Zitat aus dem Tagebuch vom 19. September 1998, das war ein Samstag: „Neben uns Engländer, die Omelett mit Pommes Frites aßen und Essig auf die armen Pommes gossen. Eine der beiden Frauen quälte sich mit den Spaghetti, dass wir am liebsten geholfen hätten. Wir buchten bei einem der hiesigen Reiseveranstalter den Ausflug nach Mailand am Donnerstag und suchten uns auch schon eine Schiffstour nach Salo aus.“ Unser Busfahrer kam damals aus Kasachstan, ein gesprächiger Mann. Die seltsamen Einsammeltouren von damals gibt es jetzt kaum noch, niemand fährt mehr stundenlang von Punkt zu Punkt, ehe es endlich in die wirklich gebuchte Richtung geht. Aber wir waren ja noch von jener Reisegier getrieben, die es den Veranstaltern leicht machte, auch schlimme Zumutungen locker zu verkaufen. Morgenlektüre Paul Ernst, „Der Sterbende“, letzte Fehlstelle in einer Einakter-Datei, dazu Fontane-Briefe aus dem Harz, meist an Frau Emilie, die zu Hause blieb.

18. September 2018

Reise-Rückblicksversicherung: den 18. September 1998 rollten wir zum zweiten und bisher letzten Mal zum Gardasee, Quartier in Garda und fußläufig nahe an Bardolino. Vor zwanzig Jahren war die Erinnerung an den ersten süffigen Bardolino, genossen bei einem Italiener in Arnstadt, den es schon bald nicht mehr gab, noch frisch, neugierig die Nachfrage, ob dergleichen auch zu kaufen sei. Da hatte ein sehr bald seine Ausgangsqualität verlierender tiefer gelegter blaugelber Discounter am Wollmarkt noch ein fast berauschendes Weinsortiment, das aber nie erneuert wurde. Wir bezogen Zimmer 8 im Hotel „Miravalli“, das war für seine drei Sterne ganz anständig ausgestattet, wenn auch ohne Seeblick. Zehn Jahre später genossen wir einen letzten schönen Tag mit Blick auf die Oosterschelde bei Ebbe auf Suche nach einem schönen Ferienhaus für weitere Besuche um diese Zeit. Es rede niemand gegen September-Urlaube, die nicht nach Süden gehen. Westen geht auch.

17. September 2018

Schwer zu sagen, warum die Verantwortlichen des ARD-Videotextes die Kette von Fehlleistungen nie abreißen lassen. Heute wird des am 17. September 1948 in der Nähe von Ascona gestorbenen deutsch-jüdischen Schriftstellers Emil Ludwig gedacht, der einst Millionenauflagen hatte, der das Attentat auf den Schweizer Nazi Wilhelm Gustloff öffentlich begrüßte und dafür in seinem Exilland quasi Veröffentlichungsverbot bekam, der später Präsident Roosevelt beriet. So weit, so wichtig. Warum aber wird ihm eine Shakespeare-Biographie untergejubelt, die er nie geschrieben hat? Die akademischen Historiker mochten Ludwig nicht, der auch mit Walther Rathenau befreundet, dessen 150. Geburtstag im 2017 eher nicht begangen wurde. Vielleicht wartet man ja auf das Jubiläum seiner Ermordung. Rechtsradikale erledigten das am 24. Juni 1922, es bleibt also Vorbereitungszeit. Mit Franz Werfels „Troerinnen“ schloss ich heute den Themenkomplex vorerst ab, Neugier bleibt.

16. September 2018

Wenn man beim alten Fontane liest, wie genau damals die Postwege kalkulierbar waren, er konnte seiner Gattin Emilie genau auftragen, wann sie zu schreiben hatte, damit er den Brief an dem und dem Tag in den Händen hatte, dann ist man noch mehr im Zweifel an der Gegenwart als sonst. Gestern zum Beispiel schaffte die Vertretungszustellerin ihren Bezirk nicht, an dessen Ende wohl meine Straße liegt, ich hatte gar keine Post, auch nicht jenes an Sonnabenden erscheinende Magazin aus Hamburg, das früher immer am Montag kam, als die gelbe Post sonst nichts zuzustellen hatte und bisweilen schon gegen 9 Uhr die Briefkastendeckeln klappern ließ. Ein Nachrichtenmagazin, das zwei Tage später im Kasten liegt, ist ein Witz in sich und die gelbe Post, die ihre Mitarbeiter überfordert, noch mehr. Heute sah ich mir am Nachmittag an, was aus dem geplanten „Wiener Kaffee“ im alten „Lindenhof“ geworden ist: ein Backshop. Thema verfehlt, nennt man dergleichen.

15. September 2018

Zum „Tag des Friedhofs“ passt das Wort der Hekabe in der deutschen Fassung von Dietrich Ebener: „Den Abgeschiednen, glaube ich, liegt wenig dran, ob ihnen eine prächtige Bestattung winkt. Das ist nur eitler Prunk der Überlebenden.“ Das Statement des Euripides wird nicht zum Marketingpool des Bestattungswesens passen, nach dem Trojanischen Krieg durfte man zweifelfrei so denken. In Berlin oder wo auch immer begeht mein Alt-Freund Christoph heute seinen 64. Geburtstag, wozu ich ihm alles erdenklich Gute wünsche inklusive eines erfüllten neuen Ehelebens. Vom Original bin ich inzwischen zu Jean-Paul Sartre übergegangen, der sich wie vor ihm schon Franz Werfel 1914 ebenfalls den Troerinnen widmete. Die mir bekannten Sartre-Biographen halten sich bei diesem späten Bühnenwerk nicht lange auf oder ignorieren es ganz und gar. Umso mehr freue ich mich auf die Spielfassung, die das Staatstheater in Meiningen dem ganzen gibt am kommenden Donnerstag.

14. September 2018

Am 14. September 2019 hat Alexander von Humboldt seinen 250. Geburtstag, der berühmteste Selbsteinwechsler der Fußballgeschichte seinen 75. Die Gedenkwirtschaft entwirft vermutlich bereits auf den Flip-Charts ihrer obersten Etagen die entsprechenden Events. Hätte Netzer nicht das Siegtor geschossen, wäre ein Narrativ, endlich mal dieses Wort, nicht in die Welt geraten. So aber, und noch dazu am Tag der Tropenwälder, erinnern wir uns dieser beispiellosen Disziplinlosigkeit mit wohligem Schauer: Er hats gewagt! Nein, das war Ulrich von Hutten, aber wen kümmerts. Vor zehn Jahren besuchten wir Middelburg, sahen die Stadt zuerst als Miniatur im Zentrum, dann in Natur, zweite Tagesstation Veere mit Reminiszenzen an den ersten Trip dorthin von Port Zelande aus, ich fotografierte gefrorene Spinnweben und die ersten Holzschuhe vor einem Souvenir-Shop. Heute als Kontrastprogramm zum Fontane ein wenig Euripides, „Die Troerinnen“. Ach, Kassandra.

13. September 2018

Meine Krankenversicherung schickt mir eine neue Gesundheitskarte mit der Aufforderung, die alte zu vernichten, mein Zahnarzt schickt mir eine Terminkette, der ich zustimmen soll, die Kasse wird dazu weniger beitragen als die Zusatzversicherung und die Zusatzversicherung wird im besten Falle die Hälfte zahlen, was ich dann irgendwann unter die besonderen Belastungen schlage, wenn es an die Steuererklärung des Rentnerpaares geht, dem ich angehören werde, nachdem ich ein paar Monate ganz allein der Rentner im Paar bin. Immerhin drei Euro habe ich in der Wachau schon gespart durch Seniorentarife, wenn ich das viele Jahre durchhalte, kann ich mir davon einen halben neuen Zahn leisten. Weil er heute vor 90 Jahren starb, las ich ein wenig über Italo Svevo mit dem Effekt, nach Venedig nun endlich auch einmal Triest sehen zu wollen. Nicht weniger als 4 Fontane-Dateien erlebten heute Wachstum, die Empörten im Fernsehen sind immer noch empört. Empörend.

12. September 2018

Noch ein Reiserückblick: am 12. September 2008 verließen wir Kutzenhausen im nördlichen Elsass zu einer der merkwürdigsten Autofahrten, die wir uns je auferlegten. Ich, der Schuldige, hatte die Entfernung zur holländischen Insel Zeeland leichtsinnig unterschätzt, noch mehr die Streckenart zwischen Start und Ziel, so dass wir am Ende über seltsame Waldpisten, die sich B 38, dann B 48 nannten, über eine Autobahn hinter Kaiserslautern ohne jede Infrastruktur, keine Raststätte, keine Tankstellen, kein Autohof, um die sieben Stunden brauchten bis zu unserem Haus Nummer 133, vor dem zwar nur das Ausladen erlaubt war, aber trotzdem gleich drei offenbar des Lesens unkundige Blödgermanen mit KLE-Kennzeichen alles blockierten. Zeeland wurde dennoch wunderschön, wir hatten den Denkmaltag dabei und sahen viel, was man sonst nie sieht. Heute schon wieder einen Fontane beendet, den dritten in Folge. Man muss älter sein, um den Alten nachhaltig zu entdecken.

11. September 2018

Es hätte mich auch Ulrich Bräker beschäftigen können heute, „Der arme Mann im Tockenburg“, der am 11. September 1798 in Wattwil zu seiner letzten Ruhe gebettet wurde. Sein Shakespeare-Buch verleitet mich in größeren Abständen immer wieder einmal zum Blättern und Festlesen. 2002 sah ich Lichtensteig, wo Bräker Mitglied der Reformierten Moralischen Gesellschaft wurde, und die ehemalige Grafschaft Toggenburg natürlich auch, wir hatten herrliche Panoramen von Wildhaus aus. So aber saß ich den ganzen Vormittag über Theodor Fontane. Wenn ein Anfang geschrieben ist, wäre es Frevel, nicht fortzusetzen und nun muss ich nur noch Korrektur lesen, das lasse ich mir für morgen. Während des Schreibens stieß ich auf einen Text eines Ex-Kollegen, der eine Weile für die THÜRINGER ALLGEMEINE in Ilmenau arbeitete und in Elgersburg wohnte, wenn ich mich recht erinnere. Er interessierte sich bisweilen für Scheibenwelten mehr als für einfache Feuerwehrfeste.


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