Tagebuch

3. Oktober 2018

Nachtrag: Der Feiertag ist gut zum Ausruhen und Ordnen. Ein sehr ärgerlicher Artikel in FREIES WORT zur Wohnungsbau-Genossenschaft. Ich verzichte auf einen Leserbrief. Bei Altlinks und Neulinks jubelt man über die Entlassung von Hubertus Knabe, der über Verfehlungen seines Stellvertreters stolpert, Knabe war die Lieblingshassfigur aller Führungsoffiziere und aller, die zu Schild und Schwert in Nibelungentreue standen. Natürlich ist die Entlassung nicht politisch zu deuten, wir kennen das aus der DDR-Nomenklatura, schwere Leiden waren es da, die über Nacht Leber und Nieren befielen. Der Ilmenauer Wahlkampf hat groteske Züge, weil er sich behilft mit Spitzfindigkeiten statt Argumenten. Mancher Alt-Aktivist aus dem vorigen Jahrtausend scheint nicht nur von allen guten, sondern von sämtlichen Geistern verlassen. In der Mail-Post die Kunde vom Ende des selbständigen Ch. Links Verlages, ein Foto von Christoph sogar im FW-Feuilleton.

2. Oktober 2018

Nachtrag: Es geht nach Hause. Meinen Fontane las ich gestern zu Ende, griff im Bus dann zu einer Hochglanz-Broschüre über die heilige Katharina von Siena. Um 10 Uhr sind wir auf dem Brenner, um 11.25 Uhr passieren wir die deutsche Grenze bei Garmisch-Partenkirchen. Rundum zufrieden mit der Reise, vertraut mit Marmor und Alabaster, neugierig auf Piero della Francesca geworden. Wie dergleichen Zufälle immer ausfallen, kaum habe ich Alabaster-Früchte gesehen, die völlig natürlich wirken, lese ich von solchen beim alten Fontane. Nur ein Marmormitbringsel liegt im Koffer, dazu ein sehr feiner, sehr starker Barolo-Grappa und drei Weine aus der Fattoria Poggio Alloro. Das Transfertaxi bringt uns vom Hermsdorfer Kreuz bis zum Parkplatz in Arnstadt. Zwei Pakete hat die Nachbarin für uns, eins mit den Bänden der Manesse Bibliothek der Weltgeschichte, die Fontanes Darstellung des Krieges von 1870/1871 komplett enthalten. Postsichtung, Telefonate.

1. Oktober 2018

Nachtrag: Auf dem Weg zur Zwischenübernachtung in Arco sehen wir unsere letzte Reisestation Arezzo. Erstmals ist das Wetter umgeschlagen, wir haben sogar kurz Regen. Arezzo ist die Stadt von Francesco Petrarca, von Pietro Aretino, von Giorgio Vasari, der die Loggia an der Piazza Grande noch entwarf, die Vollendung aber nicht mehr erlebte. Es ist der nämliche Vasari, der auch malte und Biografien schrieb, die bis heute gelesen werden, ich besitze seit langem die zu Raffael, Leonardo da Vinci und Michelangelo. Und hatte meine erste Bekanntschaft mit ihm schon als Student. Unsere Stadtführerin ist schwanger und ebenfalls vom Pferderennen begeistert, das hier aber ganz anders abläuft als in Siena. Es wetteifern nur vier Parteien und nicht 17. In Arco beziehen wir das Zimmer 303 im Palace Hotel Cittá in Wurfweite unseres ersten Hotels hier, das aber einen Stern weniger besaß. Wir merken es bei den Mahlzeiten besonders auffallend. Ich bin nun Rentner.

30. September 2018

Nachtrag: Im Dom von San Gimignano ist unter den Fresken eine sehr spezielle Szene zu sehen. Die biblische Geschichte vom trunkenen und nackten Noah erscheint als Bild eines nicht sonderlich nackten Mannes, dessen männlichste Stelle freilich offen und frei liegt. Man könnte auch: baumelt sagen. Auch die Geschichte vom bethlehemitischen Kindermord ist wesentlich blutiger dargestellt, als man sie gemeinhin sieht. Es wird naturalistisch in die Babies gestochen. Auf dem Weg zum „Manhattan der Toskana“ lag ein Stopp am Tempio San Biagio, reiner Fototermin, was nie schlecht ist. Und die zweite Weinprobe der Reise. Unter den Proben ein wahrhaft sensationeller Vernacchia die San Gimignano, in der Qualität kannte ich bisher keinen. Dazu Wurst, Schinken, Käse, alles aus eigener Produktion. Drei Flaschen nehme ich dennoch nur mit und koste zum Abschied statt des Grappas den Limoncello. Es ist mein letzter Abend als Nicht-Rentner, morgen Arezzo und Arco.

29. September 2018

Nachtrag: Das Wetter hält sich immer noch hochsommerlich, vier Leute aus unserer Bus-Gruppe verzichten auf die Tour nach Siena und verpassen so den Höhepunkt in der Reihe der durchweg guten Stadtführungen. Wir hören von den Pferderennen der Ortsteile auf der abschüssigen Piazza del Campo, wir hören von den beiden diesjährigen Siegern, es waren im Juli die „Wölfe“ und die „Drachen“ im August, im Oktober wird ein dritter Sieger hinzu treten. Die „Drachen“ laden alle Verlierer zum Fest, die „Wölfe“ alle bis auf einen: die „Stachelschweine“, denn die sind der Feind. Man muss eine „Wölfin“ gehört haben, um das voller Vergnügen zu akzeptieren. Wir sehen uns San Domenico zweimal an, erst mit Führung während einer Messe eigens für Amerikaner, dann allein, in Ruhe und mit Zeit. Dem ungemein miesen Abendessen von gestern folgt heute ein versöhnlich gutes. Die Zeit vorher reicht für einen Spaziergang, ein alter Mann zeigt allen Passanten Hornissen.

28. September 2018

Nachtrag: Der Weg zum Hotel „Cristina“, wo wir Zimmer 33 beziehen, wird in Pisa und Volterra unterbrochen. Die Einfahrtserlaubnis in Pisa ist nach nur 105 Euro in Lucca mit 200 Euro wieder heftiger, am Ende kommen mehr als 900 Euro nur an diesen Gebühren zusammen. Wundere sich niemand über den Anstieg der Reisepreise. Wir kennen den Campo dei Miracoli schon, erreichen ihn in einer Art von Maidemonstration vor dem Palast der Republik, Massen, Massen, Massen. Die wollen aber nur fotografieren. Wir sehen Baptisterium, Camposanto und Duomo von innen, alles für sieben Euro pro Nase, auf den Torre Pendente steigen wir nicht, das heben wir uns auf. In Volterra beginnen wir die Stadtführung am Etruskertor, hören die leidenschaftlich vorgetragene Geschichte von einer Rettung durch Zumauern. Volterra ist eine echte Entdeckung für uns mit Theater und Therme aus Römerzeiten. Und wie immer hören wir von herzlichen Antipathien gegen Florenz.

27. September 2018

Nachtrag: Wir müssen zeitig aus dem Bett, es geht nach Elba und wir haben die Fähre zu erwischen. Unser Schiff heißt „Moby Blue Two“, es legt in Portoferraio um 10.45 Uhr an. Wir sehen die noble Verbannungs-Villa Napoleons von außen und innen, wir sehen nicht den Ort, wo er seine kleine Privatarmee antreten ließ. Die Insel-Rundfahrt bringt uns nach Marina di Campo, wo wir ein Pasta-Gericht vertilgen und einen halben Liter Vino della Casa. Porto Azzuro ist wie auf Postkarten, man möchte sofort einen Urlaub nur hier buchen. Erinnerungen an Ascona. Das Eis ist hier wie überall einfach sensationell gut. Wir haben uns mittlerweile immer näher mit einem Ehepaar aus Schwedt angefreundet, haben die zufällige Tischwahl im Hotel einfach beibehalten. Die Rückfahrt wieder an Deck, es ist dort wärmer als innen im Schiff, nur ganz leichter Seegang. Im Hotel wird nach dem Abendessen die Schlussrechnung fällig, denn morgen siedeln wir nach Chianciano Terme über.

26. September 2018

Nachtrag: im Netz steht heute mein Text zu Gottfried Kellers „Am Mythenstein“. Wir erleben eine zweistündige Stadtführung in Lucca ohne einen Hinweis auf Heines berühmtes Reisebuch, in dem Lucca kaum vorkommt. Die Stadt ist für uns wie nie gesehen, jetzt haben wir sogar Zeit, auf der Mauer zu spazieren in sommerlicher Hitze. Und vom verpassten Bus 1996 zu plaudern, was damals kaum lustig war. Schon 14.30 zurück nach Forte dei Marmi, es sind nur gut 40 Kilometer bis dahin. So bleibt Zeit, für einen langen Barfuß-Spaziergang am Sandstrand, wir laufen bis zur Seebrücke und weiter, dort irgendwo ist das 96er Hotel zu vermuten. Der Strand fällt flach ab, man kann weit hinein ins Mare Tirreno laufen, einige aus unserer Gruppe baden sogar, das Wasser ist sehr warm. Der Montecarlo Bianco zum Abendmenü ist jung und gut, der Chianti Classico auf dem Balkon ergänzt ihn bestens. Ich komme sogar mit meinem Fontane voran, lese „Schach von Wuthenow“.

25. September 2018

Nachtrag: Kurz vor 10 Uhr erreichen wir den Check Point in Florenz, wo unser Busfahrer nicht weniger als 320 Euro für das Recht zahlt, uns in der Stadt abzuladen. 1996 durften wir noch direkt zur Piazzale Michelangelo fahren, jetzt erst nach der Gebührenerhebung. Der Blick von oben noch immer herrlich. Florenz selbst ein Alptraum an Massentourismus. Was wir vor 22 Jahren als Massen empfanden, gälte jetzt als pure Wohltat. Um auch nur in die Nähe der David-Kopie und des Cellini in der Loggia zu gelangen, mussten wir uns wie Eisbrecher durch das touristische Packeis schieben. Nach der Freizeit bis 16 Uhr besuchten wir ein Weingut in Altopascio, verkosteten einen absurd schlechten Vermentino und zwei ordentliche Montecarlo (Bianco und Rosso). Gut, dass ich von 96  noch die Fotos von den Gräbern in Santa Croce habe, von den Figuren der Uffizien-Galleria, jeder Versuch, dort auch nur die Kamera zu heben, wäre potentiell Kopfstoß mit Körperschadensfolge.

24. September 2018

Nachtrag: Wir sind gut in Arco angekommen zur Zwischenübernachtung, hatten Zimmer 309 im Hotel „Oliva“, tranken einen ersten leckeren Lugano, um heute 8.36 Uhr gen Toskana zu rollen. Vier Stunden später erreichten wir sie. Zwischenaufenthalt in Carrara, wo seit mehr als 2000 Jahren der weiße Marmor abgebaut wird. Wir schauten uns das in Film und Augenschein an, sahen eine Werkstatt, die den edlen Stoff zu allerlei verarbeitet, darunter auch ein solider Anteil Kitsch. In der Stadt Carrara sieht man eine große Post ganz aus Marmor, man sieht Bordsteine aus Marmor und Sitzbänke aus Marmor. In Forte dei Marmi wohnen wir im Hotel „Atlantico“, Zimmer 308, Balkon mit Meerblick. Ich muss einen Carabiniere fragen, wo ich einen Alimentari finde und trage die beiden Chianti zurück, während der Kofferinhalt in die Schränke wandert. Ich erkenne nichts in Forte dei Marmi wieder, unser 96er „Grand Hotel“ hatte Randlage, wir kaum Zeit zur Erkundung.

23. September 2018

Heute sitzen wir im Bus, wie es sich für angehende Rentner gehört. Auf dem Rückweg wird sich unser Status dahingehend geändert haben, dass eine angehende Rentnerin neben einem echten Altersrentner sitzt, der bin dann ich. Wir werden eine hoffentlich schöne Reise hinter uns haben, die ich meine Renteneintrittsreise nenne und sie führt uns nach der heutigen Zwischenübernachtung im Raum Gardasee nach Carrara, Florenz, Lucca, auf die Insel Elba, nach Pisa und Volterra, nach Siena, San Gimignano und Arezzo. Am Abend werden wir uns der sich prügelnden Engländer erinnern, brüllender Männer, heulender Frauen, vor zwanzig Jahren auf der anderen Seite unseres Hotelflurs. Wir werden uns auf Lucca vor allem freuen, wo wir uns 1996 wegen sintflutartigen Regens nichts anschauen konnten außer einigen Engländern, die sehr erstaunt beäugten, was sie in der kleinen Trattoria bestellt hatten. Für uns war es schon die 7. Italien-Tour, da waren wir Profis.

22. September 2018

Man sollte mit dem ruhigen Gefühl Urlaub machen, dass nichts liegen blieb, was erledigt werden musste. Soweit es in eigener Macht steht, natürlich. So schrieb ich diesen ganzen langen Tag lang an einem abermals ziemlich umfangreichen Text zu Gottfried Keller. Gönnte mir einen offenen Schluss. Beendete am Morgen noch die Lektüre eines Vortrags, der am 6. Dezember 1969 im Studio der Akademie der Künste Berlin gehalten wurde, ihn hielt Peter Demetz, der mich nie enttäuscht. Ein Satz daraus: „Fontane hat seinen Lesern mehr zu verdanken als seinen Kritikern.“ Mit solchen Sätzen macht man Hörer neugierig, Leser auch. Wobei in Akademien, wenn der Spaß erlaubt ist, damit offenen Türen eingerannt werden, die dennoch Beulen verursachen. Am 22. September 1998 saßen wir abends lange auf unserem kleinen Balkon in Garda, tags hatten wir den Soldatenfriedhof Costermano besucht, zu Fuß hin und zurück, 36mal den Namen Ullrich gefunden im Totenbuch.


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