Tagebuch

5. Januar 2019

Mit mich selbst verblüffender Ausdauer schaue ich Zeitungen durch, markiere, schneide, staple Ausschnitte. Mir kommt die Frage, warum, wenn überhaupt, Optimismus immer versprüht wird, nie, was eine kräftigere Dosis wäre, verspritzt? Insbesondere Politiker und andere Propheten versprühen gern und zielgerichtet diskontinuierlich Optimismus. Offenbar benötigt unsere seit reichlich 2000 Jahren biblisch-apokalyptisch geprägte Kultur zwischen den diversifizierten Endzeit- und Untergangsvisionen Atempausen: ein immer nur geprügelter Hintern wird taub und schmerzt nicht mehr: Salbung baut die Brücke zur nächsten Pein. Ansonsten wäre zu melden, dass nunmehr wohl alle nennenswerten Feuilletons eine ganze, mindestens aber eine halbe Seite für den Roman „Serotonin“ verwendet haben, die Aussage schließt die beiden morgigen Sonntagszeitungen ein, denn wir sind noch immer im Modus der Nachträge. Wir rüsten die Weihnachtsdekoration ab.

4. Januar 2019

Dies könnte man perfektes Timing nennen: ich biege eben um die Ecke Richtung Keplerstraße 2, als der Stammpostbote dort zu unseren Briefkästen steuert. Das kleine Päckchen per Einschreiben ist für mich, ich muss nur unterschreiben und habe es ohne alle Verzögerungen, obwohl es die falsche Adresse zeigt. Nicht auszumalen, welchen Stress es gegeben hätte, wenn ein anderer Postfahrer die Hausnummer nicht gefunden hätte, somit das Ganze zurückgegangen wäre. Von Lenin und meinem fehlbaren Nachfolger im Amte weiß ich, dass nur der keine Fehler macht, der nichts macht. Wie das Mäppchen unter mein Kopfkissen geriet, ist meinem Erinnerungsvermögen unzugänglich, die Idee, ich hätte es verstecken wollen, verlockend, nur war da ja niemand, vor dem ich es hätte verstecken müssen, wir waren allein im Haus. Beim Zahnarzt heute das pure Vergnügen, Kontrolle mit besten Aussichten auf die nächsten Termine, außer mir kein Patient in der Praxis, Heimweg wieder zu Fuß.

3. Januar 2019

Anderthalb Stunden dieses schönen Donnerstages verbringe ich liegend auf einem Zahnarztstuhl, ein Gummiteil hält den Mund offen, mit neun Einstichen, fünf oben zuerst, vier unten später, wird meine orale Empfindungsfähigkeit in die Nähe des Nullpunktes gesenkt, der Rest ist erstaunlich erträglich und es dauert später nur noch bis zum Ende der 19-Uhr-Heute-Nachrichten, bis die letzte Taubheit entschwunden ist. Immerhin gelang es mir, meiner Lieblingszeitungsverkäuferin etwas wie einen Neujahrswunsch hinzunuscheln, ohne dass es mir aus dem Maule troff, ich wechselte einen Schein und nahm die restlichen Kilometer Heimweg zu Fuß. Dort warf ich mich, schwesterlichem Ratschlag folgend, aufs Ohr, die Betäubungszeit aktiv zu verschlafen, was mir zu fast zwei Dritteln durchaus gelang. Am Abend zielgerichtet die Mediathek statt des laufenden Programms, es hat sich Nachholbedarf ergeben, auch morgen wird es so sein. Delia Mayer wird immer schöner, Wahnsinn.

2. Januar 2019

Zwischen den Jahren, um es auch für multipräsente Kolumnistinnen deutlich zu sagen, liegt nichts. Nicht die geringste Nanosekunde, die nicht dem einen oder dem anderen der beiden fraglichen Jahre zuzuordnen wäre. Ausgerechnet die Branche, die sich ausdauernd und dennoch irrtümlich eine besondere sprachliche Sensibilität zuordnet, pfuscht, dass sich die Balken biegen. Dass auf dem Umweg synergetischer Mehrfachveröffentlichungen gleich mehrere Redaktionen beweisen, dass bei ihnen schon lange niemand mehr irgendetwas Korrektur liest, ist nur der matschige Unterboden, auf dessen wankender Oberfläche schillernde Relotius-Blüten treiben. Immerhin, ich muss am Morgen heftig Eis kratzen, ehe ich den Kofferraum mit allem beladen kann, was aus Weißenstadt wieder nach Ilmenau transportiert werden will. Die stille Hoffnung, zu Hause das Mäppchen zu finden, das all diese Tage in Luft aufgelöst schien, zerschlägt sich, unsere Vermieter finden es unterm Kissen.

1. Januar 2019

Dies ist der 100. Geburtstag von Jerome D. Salinger und Danil Granin. Beide haben auf ihre Weise die Literatur des 20. Jahrhunderts geprägt. An wen denken die Medien heute, wenn sie nicht schon dem Gesetz des vorzeitigen Samenergusses folgend gestern bis vorigen Dienstag daran gedacht haben? Richtig: an Salinger. Es hat also auch nicht genützt, dass der uralte Helmut Kanzler Schmidt sich mit dem uralten Granin über die Gräber hinweg anfreundete auf beider späteste Tage. Wenn es um Russen geht, hilft und nützt nichts, selbst Dostojewski muss so lange neu übersetzt werden, bis er als West-Dostojewski erscheint. Nun denn, wir denken heute an fast nichts und niemanden, wir nehmen unseren zweiten Sauna-Volltag, verglichen mit Sonntag ist die Therme geradezu komplett ausgestorben. Ein Aufguss mit drei Düften wird begleitet von Don McLeans „American Pie“ aus dem Jahr 1971. Selig singt die nackte Gemeinde mit, früher war tatsächlich deutlich mehr Lametta.

31. Dezember 2018

Den Weißenstädter See haben wir im Frühjahr schon umrundet, lasen damals brav alle Granitstelen mit Versen von Eugen Gomringer, jetzt konzentrieren wir uns auf die Biberbiss-Stellen. Was diese Nager so zu Boden nagen, ist phantastisch. Wir brauchen eine gute Stunde rundherum, weil wir nur die Softcore-Schrittfrequenz eingestellt haben in unser Laufwerk. Immerhin sehen wir zwei Leute in Faltboote steigen und auf den See hinaus paddeln, was nicht wesentlich komischer ist als unter einer regendichten Kapuze zu wandern. Als wir unser Ferienhaus wieder betreten, leeren wir, wie an allen Tagen, eine Flasche Schaumweines aus französischer Produktion und begeben uns danach zum Silvester-Schmaus. Wir werden freundlich zum mitternächtlichen Feuerwerk eingeladen, was wir uns nach einem grässlichen Konzert von Coldplay und einem feinen Konzert von Rammstein im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auch sehr gerne antun. Viele trinken Rotkäppchen, wir nicht.

30. Dezember 2018

Am 199. Geburtstag Theodor Fontanes haben, wie ich, dies ist ein Nachtrag, endgültig zu Hause bestätigt finde, alle sich wichtig dünkenden Feuilletons bereits einen Beitrag zum 200. Geburtstag veröffentlicht. Der 200. Geburtstag von Gottfried Keller knapp ein halbes Jahr vorher im Jahr 2019 wirft dagegen keinerlei Schatten voraus, Preußen ist uns eben doch deutlich näher als die kleine Schweiz. Wir verbringen diesen Tag komplett in der Therme, die unfassbar überlaufen ist wie alle Thermen, die wir zum Jahreswechsel seit Jahren besuchen. Ein Unterschied: die Aufguss-Saunen sind auch beim besten Willen zu klein, weil dem benachbarten Hotel mittlere Völkerwanderungen in weißen Bademänteln mit gelben Handtüchern unterm Arm entquellen. Der Luxus des Zugangs mit Bademänteln ist aus unseren Kriterien gestrichen, das gesparte Geld setzen wir in den örtlichen Restaurants um, allein drei Abende haben wir seit September im „Deutschen Haus“ vorreserviert.

29. Dezember 2018

Nahausflug zum Fichtelsee, der nicht nur ein netter See ist, sondern auch erweitert um einen Stausee mit ausschließlich touristischer Sinngebung. Wir wandern um den See, jeder zweite Baum ist beschildert mit Hinweisen auf dies und jenes, vor allem aber auf Jean Paul. An einem Jean-Paul-Brunnen verharren wir, versandfähige Ablichtungen unserer Wandergruppe für zu Hause gebliebene Kinder und Uromas zu verfertigen, leider haben die Sendegeräte hier kein Netz, dafür grüßen alle überaus freundlich, die in beiden Richtungen um den See sausen. Sie führen gefühlte zweitausend Hunde an der Leine, die uns seltsamerweise weder anbellen noch überhaupt versuchen, uns auf die Pelle zu rücken. Auf dem Rückweg Zwischenstopp in Bischofsgrün, wo sich ein Modegeschäft findet, in dem der weibliche Teil unserer Gesellschaft volle zwei Stunden Beschäftigung findet. Dem Wahnsinn nahe kaufe ich mir einen Nordbayerischen Kurier gegen meine Grundstimmung.

28. Dezember 2018

Tagebuch wegen Betriebsausflug geschlossen, Nachträge folgen. Nachtrag: Es sind nicht mehr als 200 Kilometer, die Strecke ist getestet, das Reisewetter leidlich. Planmäßig sind wir in Gefrees auf den Getränkemarkt-Parkplatz gerollt, die leere Kiste Straubinger Weisse wurde gleich von der Kasse her moniert. Als ich aber kund und zu wissen gab, dass ich sie zu füllen gedenke und nicht als Pfandgut zu versetzen, herrschte wieder die übliche pure fränkische Freundlichkeit. Ich befüllte den Träger mit zehn neuen Sorten für meine Sammlung, drei weitere landeten im textilen Beutel, begleitet von einem soliden Stück frischen Steinofenbrotes. Noch nie kauften wir Brot in einem Getränkemarkt, folglich war es automatisch das beste Brot, das wir je in einem Getränkemarkt in die Hände bekamen. Mit ihm und den wurstalen Mitbringseln aus thüringischem Hofladenhandel bestritten wir eine kalte Mahlzeit, ehe wir für vier Stunden in die Siebenquell-Therme eintauchten.

27. Dezember 2018

Der letzte Arbeitstag 2018 für die Frau an meiner Seite, ein Donnerstag ohne Gang zum Bäcker, denn morgen fahren wir in den Silvester-Kurzurlaub, der uns in die Gegend nahe des Ochsenkopfes führt, wo wir uns schon einmal probeweise wohlfühlten. Heute die letzten Absprachen, was wir noch mitbringen müssen. Mein alter Literatur-Kalender zeigt für diese Woche Theodor Fontanes Arbeitszimmer als Aquarell von Marie von Bunsen, die vermutlich nicht den gleichnamigen Brenner erfunden hat. Ich habe tapfer archiviert, nur kurz daran gedacht, dass es Zeiten gab, da wir am 27. Dezember den so genannten Ex-Pennäler-Ball besuchten. Von meinen Ex-Pennälern sind einige Weihnachtsgrüße eingegangen, die ich nur deshalb nicht beantwortete, weil ich erst heute wieder einen Blick in meinen Posteingang warf: 92 Mails zum Löschen, ein Dutzend von Interesse. Die haptische Post mit Sendungen zum Anfassen hält sich angenehm zurück, ist es Winterschlaf?

26. Dezember 2018

Obwohl von den beiden Kaninchen noch etwas übrig ist, sind heute Rouladen an der Reihe, es gibt unter den Essensteilnehmern männlichen Geschlechts ausgesprochene Rouladen-Fans und welche Oma kann da schon nein sagen. Nach dem Essen tritt der Berliner Teil der Familie die Heimreise an, unser Mietparkplatz fällt zurück an uns, bleibt allerdings erst noch leer wegen des Rotweines und des im Madeira-Fass gelagerten Sibonia-Grappas, die das Mahl begleiteten und eben deshalb die Fahrzeugbewegung aus verkehrsrechtlich-ethischen Gründen auch auf kurzen Strecken nicht erlaubten. An den vor 85 Jahren verstorbenen Anatoli Lunatscharski denke ich nur kurz, während ich verspätet den Literatur-Kalender umblättere. Abends ein Tatort, in dem eine Kommissarin niedergeschlagen wird, ohne dass der Täter ihr die Kamera wegnimmt und ein Kommissar diesen Täter erschießt, ohne unter dem Motorradhelm nachzuschauen, wen er da eigentlich erschossen hat.

25. Dezember 2018

Die Weihnachtsgans Auguste ist in unserem 4-Generationen-Menü nicht vertreten, zwei Kaninchen lagen nach glücklichem Dorfleben eingelegt in saurer Sahne auf dem Balkon, ehe sie heute zu den Klößen auf den acht Tellern landeten. Die Spülmaschine arbeitet wie im Restaurant, den sonstigen Dienst in der Küche verrichtet ein seiner Mutter eine Pause gönnender Sohn. Inzwischen weiß ich, dass ich doch einige Relotius-Lügen gelesen habe, nur halt nicht auf den Namen geachtet. Erfahren habe ich auch, was man offenbar so lehrt in den Kursen für High-End-Reporter und dass sie die Verfilmung ihrer Reportagen gleich mit imaginieren. Mit passender Musik und den genau zum Moment passenden Martial-Szenarien. Letzteres wundert mich schon lange nicht mehr. Warum soll nur auf den Bühnen des Landes die vordergründigste Symbolik die beliebteste sein? Dass vor 80 Jahren Karel Ĉapek starb, von dem ich 1985 fast alles las, was es gab: immerhin eine Randnotiz.


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