Tagebuch

7. Februar 2018

Die schlechten alten Zeiten, als ein Krypto-Sexist wie Kurt Tucholsky SPD ein wenig böswillig mit „Hier können Frauen Kaffee kochen“ übersetzte, sind vorbei. Jetzt heißt es: „Hier können Männer Außenminister werden“. Weil die Frauen dann nicht mehr Kaffee kochen, sondern den Vorsitz übernehmen, also nicht alle, sondern eine. Das aber reicht. Koalitionsverhandlungen sind kollektive Absprachen, wer wie viel Geld mehr ausgeben darf, als vorhanden ist. Alle an diesen Gießkannen-Runden nicht Beteiligten bemängeln hinterher die Abwesenheit von Visionen oder großen Würfen. Ich las derweil Uwe Kolbes „Brecht“ zu Ende, in dem seit dem 10. August 2016 das Lesezeichen auf Seite 108 steckte. Das „Rollenmodell eines Dichters“ ist für alle interessant, die sich wie der 1957 geborene Kolbe als „von Brecht Betroffene“ fühlen. Einen traf ich kürzlich in einem Theater, einen Professor, wo er mir sagte, er könne Brecht nicht mehr lesen. Einst promovierte er über ihn.

6. Februar 2018

Die Packungsbeilage muss ich in diesem Fall nicht lesen: Nebenwirkung unseres kurzen Harztrips im September nach Braunlage war die Entdeckung eines in Braunlage geborenen Schriftstellers, von dem ich zuvor nie etwas gehört hatte: Wilhelm Brandes. Er veröffentlichte vier Jahre vor seinem Tod am 6. Februar 1928 in Julius Zwitzlers Verlag in Wolfenbüttel ein Büchlein mit dem Titel „Braunschweigs Anteil an der Entwicklung der deutschen Literatur“. Wichtiger für mich: von ihm stammt auch ein etwas dickeres Büchlein mit dem Titel „Wilhelm Raabe. Sieben Kapitel zum Verständnis und zur Würdigung des Dichters“. Ich erwarb mir umgehend antiquarisch die zweite durchgesehene und erweitere Auflage, gedruckt in der Fürstlich priv. Hofbuchdruckerei (F. Mitzlaff) Rudolstadt. Vorn drin klebt ein Jugendstil-Exlibris, leider ohne Namen. Aus gegebenem Anlass bekunde ich, von 1975 bis 1980 Student gewesen zu sein, ein Studierender war ich damals oft auch.

5. Februar 2018

In einem der gestern noch unberührten Haas-Bücher lese ich heute: „Was so in der Welt als „große Humoristen“ figuriert, ist im allgemeinen eine recht melancholische Gesellschaft, kaum einer ist so zum Bersten voll von Gelächter, dass er uns zu wirklichem Lachen – nicht nur zu abstraktem Lächeln, Lachen-wollen oder bösem Grinsen - hinreißt.“ Um wie viel schlimmer steht es dann erst mit den kleinen Humoristen! Willy Haas hat in diesem Jahr übrigens nur die Spur eines Jubiläums, deshalb kann ich reinen Gewissens aus einem 2005er Artikel von Peter Stephan Jungk zitieren, der kurz vor Weihnachten 65 wurde, Sohn von Robert Jungk übrigens: „Seine heute 98jährige Witwe besucht sein Grab sehr selten und gar nicht gerne: „Es ist dort so einsam“, sagte sie mir dieser Tage am Telefon.“ Als ich mir den Ohlsdorfer Friedhof anschaute, Haas hat dort die Grablage AD 5, 124, war ich vor allem auf der Suche nach Wolfgang Borchert. Aber ich komme wieder, das steht fest.

4. Februar 2018

In Kombination von Jever vom Fass mit Williams Christ entstehen bisweilen mehr Wirkungen als Nebenwirkungen. Während wir den langen, man könnte auch sagen: sehr langen, Weg von der Sportlerklause bis auf die Ilmenauer Golan-Höhen nahmen, begegneten uns unterwegs nur Fuchs und Hase auf dem Rückmarsch vom Gutenachtsagen. So verwandelte sich der längst angebrochene Sonntag in einen Wechsel von Schlaf- und Essphasen, die kühn geplante Beendigung eines Buches von Willy Haas scheiterte nach einem Dutzend Seiten mitten in der Behandlung von Bert Brechts Lehrstücken. Sogar meine Sonntagszeitung liegt noch an der Tankstelle. Unberührt bleiben die beiden anderen Haas-Bücher, die ich zum Vergleich konsultieren wollte. Dem Schnee wehrten wir nicht wie kürzlich mit schwerem Gerät, das Vorbild der Nachbarn beeindruckte nicht. Nachtkritik hat eine einzige Premiere von gestern. Es gab wohl keine interessanten Romane auf unsern Bühnen.

3. Februar 2018

Ich dachte, es lässt sich vermeiden. Aber es geht nicht: Welche Zeitung ich auch immer aufschlug, welches Magazin oder Wochenblatt, nun sogar meine regionale Regionalzeitung, die mir zerknüllt und verspätet ins Haus gebracht wird und, die größte aller Schrecksekunden, kürzlich selbst die TAGESTHEMEN, alle füllen halbe, dreiviertle und ganze Seiten und mehrere Sendeminuten mit einer Band, die ich nur aus den Feuilletons kenne: Tocotronic. Jedes neue Album reißt gleich im Dutzend schreibende Textbegeisterte von ihren Sesseln. Einmal versuchte ich, von diesen singenden Diskurs-Buben etwas zu hören, aber ich hielt es keinen Titel lang aus. Dunkel erinnere ich mich an schrubbelnde Gitarren und irgendetwas wie Paul Celan on Stage. In meiner Parallelwelt kenne ich niemanden, der je Tocotronic hörte und als ich dann gar das Wort Diskurs-Rock vernahm, Diskurs ist das Wort, das mich hart an die Harnverhaltung treibt, wusste ich: lieber singende Tele-Tubbies.

2. Februar 2018

„Aus lauter Hass auf das Alter wurde sie alt, aus lauter Abscheu vor dem Tod lebte sie fast länger als ein Jahrhundert.“ Das schrieb Hermann Kesten über Annette Kolb, deren Geburtstag heute ist, deren 50. Todestag Anfang Dezember war und vorüber ging. Die Tagesthemen wussten gestern von einem syrischen Wunderkind zu berichten, das von seinem Großvater Ibrahim aus dem Gefängnis nach Deutschland geholt wurde, weil es sonst hinter Gittern aufwüchse, wohin die Mutter wegen Zugehörigkeit zum IS weggesperrt ist. Das jetzt 14 Monate alte Kind, war zu hören, kannte seinen Großvater bisher nur aus Erzählungen. Nun wird es ihn kennen lernen, den netten Alten. Als meine Kinder 14 Monate alt waren, später meine Enkel, kannten sie nichts und niemanden nur aus Erzählungen, sie waren einfach zu jung fürs Narrativ, wie man heute ja sagen muss. Die Geschichte aber, diese tückische Macht, wird uns alte Germanen deshalb wohl aus ihren Beständen tilgen.

1. Februar 2018

Auf Fotos sieht man Muriel Spark immer wieder nach ihrer Brille greifen. Sie fand die Geste wohl fotogen oder ihre Fotografen schauten sich dies voneinander ab. Die Idee ist sicher nicht geschützt vom Urheberrecht. Die Schottin war schon 87 Jahre alt, als sie zum ersten Mal in Deutschland aus ihren Büchern las und sah bei diesem Besuch auch Weimar. Sie soll, lese ich, bis zuletzt alle ihre Manuskripte mit der Hand geschrieben haben und zwar nur mit Stiften, die vorher noch niemand berührt hatte. Die Wenigen, die mein Verhältnis zu Bleistiften kennen, wissen, warum ich dies voller Sympathie zur Kenntnis nehme. Von ihren mehr als zwanzig Romanen besitze ich nur zwei, die ich aber auf keinen Fall vor ihrer Mary-Shelley-Biographie lesen werde. Nach ihrem Tod am 13. April 2006 gab es reihenweise freundlichste Nachrufe, die wohlsortiert in meinem Archiv landeten. Was der heutige 100. Geburtstag bewirkt, fällt schon deutlich bescheidener aus. So läuft das eben.

31. Januar 2018

„In der Buchhandlung Telemann in Weimar, wo ich gelernt habe, musste, wer die Courths-Mahler verlangt hatte, mit einem Band Nietzsche fortgehen oder auch mit einem der kleinen Holzschnittbücher von Frans Masereel.“ Das erzählte die 70 Jahre alte Marie Luise Kaschnitz dem Interviewer Ekkehart Rudolph vor auch schon wieder fast 50 Jahren. Und: „Wir waren sehr idealistische junge Buchhändler, wir wollten unsere Kunden erziehen.“ In den Buchhandlungen, die heute den Ton angeben, kommen Nietzsche und Masereel, bildlich gesprochen, erst gar nicht ins Regal, Courths-Mahler heißt jetzt SPIEGEL-Bestseller. Nur die 30 größten Verlage gelangen in die Auslage, verriet mir ein Insider. Da muss man sich dann halt doch im Internet-Handel erziehen lassen. Dort kann man seinen Masereel direkt bestellen, muss nicht erst nach einer Hedwig fragen, deren Nähmaschine nicht geht. Ich bin immer noch anhänglicher Kaschnitz-Leser, heute besonders.

30. Januar 2018

Was waren das früher für herrliche Zeiten, als man George Orwells „1984“ in seiner antitotalitären Tendenz, so die staatlich geförderte Lesart, gegen den real existierenden Stalinismus in seinen frühen, mittleren und späten Formen, mit und ohne Vorsilbe, nach Bedarf auf alle Fälle, wenden konnte. Nun aber, mitten in der Demokratie, werden wir von Sprech- und Sprachverboten umstellt, selbst ernannte Wächter achten darauf, dass niemand Wörter benutzt, die die Wächter eigens auf einen Index setzten, dessen Wortlaut in keinem Amtsblatt klagefest nachgelesen werden darf. Noch werden keine Schilder an Bänke geschraubt, die mitteilen, wer auf diesen Bänken nicht sitzen darf. Aber die Aussagen darüber, wo Demokratie, wo Rechtsstaat, wo Toleranz ihre Grenzen haben, sind bereits für die Hauptnachrichten präsentabel. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht irgendwo bereits Trainingscamps für Nachrichtenkreischen a la Nordkorea vorbereitet werden. Brave New World.

29. Januar 2018

Erst spät, liebes Tagebuch, Schmarrn, greife ich zu dir. Ich wollte heutigen Tages eigentlich einige Trainingsstunden in der neuen Verlagssoftware absolvieren, das Überspiel aber dauert länger als zu vermuten war. Also las ich fleißig, schrieb fleißig, hörte fleißig den Sturm unter den Türen heulen. Warum hat Marcel Reich-Ranicki eigentlich so oft nicht nur Recht, sondern auch die knackigsten Formulierungen gefunden? Ich habe noch eben mir den Heurigenkalender 2018 angeschaut, man nennt es ja herunterladen. Wir sind in einer perfekten Woche in der Wachau: alle, bei denen wir am liebsten sitzen, haben geöffnet, wir könnten theoretisch jeden Tag wechseln, wobei wir unseren Favoriten natürlich mehr als einmal aufs Haus rücken. Und kaum werden wir zu Hause sein, richten sich unsere Blicke auf die Renteneintrittsreise. Heute in genau acht Monaten bin ich zwei Tage in Rente. Den ersten Rententag erlebe ich in Pisa und Volterra, 22 Jahre nach dem ersten Besuch dort.

28. Januar 2018

Das muss ich Meiningen lassen: Kaum habe ich meine 25 Euro Bußgeld online auf das städtische Raffzahn-Konto überwiesen, stellt die Stadt kurz hinter ihrem Ortsschild eine Leuchttafel auf, die mir grün blinkend mittelt: Danke! Gern geschehen, Meiningen. Von wegen: Undank ist der Welten Lohn. Immerhin habe ich mir dies eingeprägt: wenn irgendwo das Wort Dolmar auftaucht, einzeln oder als Bestandteil eines zusammengesetzten Wortes, werde ich nicht nur bremsen, sondern brutal schleichen. Denn als ich vor Jahren schon einmal in Richtung Meiningen zur Kasse gebeten wurde, war es nahe am Parkplatz Dolmar, wo ein uniformierter Bürger im Schneesturm ein mobiles Schild mit der Geschwindigkeitsbegrenzung 60 km/h aufgestellt hatte und davor lauerte, ob jemand in die Schnappfalle tappte. Ich löhnte, weil ich auf einer deutschen Autobahn 80 km/h gefahren war. Max Mells Büchlein über Adalbert Stifter übersteht dessen heutigen 150. Todestag leider ungelesen.

27. Januar 2018

Als Freund des unter wechselnden Namen, derzeit als Meininger Staatstheater, firmierenden Hauses bin ich, wie heute wieder, auf Anreise mit eigenem Auto angewiesen. Ich sehe „Sonny Boys“ von Neil Simon. Als ich im Dezember Alan Ayckbourns „Die bessere Hälfte“ hinter mir hatte, erwischte mich auf dem Heimweg um 22.38 Uhr in der Dolmarstraße, Höhe soundso, der Blitzer, weil ich mit sage und schreibe 45 km/h durch das nächtlich stockdunkle Vordörfchen gebrettert war. Man durfte aber nur 30 km/h fahren, was tief in der Nacht zu kontrollieren sehr wichtig ist, denn wenn sich dort Fuchs und Hase „Gute Nacht!“ sagen wollen, sollen sie ungefährdet über die Hauptstraße schnüren respektive hüpfen können. Ich bin auf dem Foto sehr gut getroffen und werde umstandslos blechen, auch wenn ich nicht als Fahrzeughalter angeschrieben wurde, der ich nicht bin. Meine Liebe zu Meiningen erhöht sich auf dem Umweg über diese 25 Euro sprunghaft, Gruß zum Schlossplatz 1!


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