Tagebuch

7. Januar 2022

„Nach ihrem Debütroman aus dem Jahr 2016 hat Ronja von Rönne ein neues Buch geschrieben.“ Dies kann man im „Bücher Magazin“ Februar/März 2.2022 nachlesen, das eben, Anfang Januar, in meinem Briefkasten gelandet ist. Autorin dieses grandiosen Satzes ist Katharina Manzke, eine alterslose Literatur- und Theaterkritikerin, die seit 2015 für just dieses Magazin schreibt. Weil sie offenbar fleißig ist, hat sie noch mehr geschrieben: „Der erste, im Katapult Verlag erschienene Debütroman ist eine faszinierende Aussteigergeschichte um einen Vater, seine Tochter und einen Fremden, der sich zu ihnen gesellt.“ Hier wäre es wichtig, aufmerksam zu bleiben, wie viele Debütromane der hier nicht zu nennende Autor noch schreibt. Im ersten Fall stellt sich die Frage, was gewesen wäre, wenn Ronja von Rönne nach ihrem Debütroman ein altes Buch geschrieben hätte. Das Mädel ist seinerzeit irrwitzig durch die Feuilletons gejubelt worden, nun rächt sie sich.

6. Januar 2022

Was bleibt haften, wenn ein Nachrichten-Magazin 75 Jahre alt wird? Eine Affäre und ein Skandal. Die Nachricht zum nämlichen Jubeldatum gestern war passend: Spiegel-Affäre und Claas Relotius. Den kann man getrost vergessen wie etwa auch erhebliche Teile dessen, was die Besserwissenden über die DDR zu wissen glaubten. Man war halt selten da und wenn, nur in Berlin und bei den Dissidenten: Befragen Sie mal den Krill über Wale, Sie ahnen, wie realistisch das Wal-Bild ausfällt. Ansonsten lese ich den Spiegel seit dreißig Jahren höchst selektiv und selten gleich. Heute aber sind alle beim Gedenken an den Sturm auf das Capitol in Washington, den ein Mann einleitete, der so etwas wie ein Präsident war, wenn ich mich recht erinnere. Man hört, dass er immer noch glaubt, was er glauben will, das hat er freilich mit mehr Menschen gemeinsam, als man glauben möchte. Wie sagte ein alter Preuße: soll jeder nach seiner Fönwelle, äh, seiner Fasson glücklich werden.

5. Januar 2022

Geschafft hat er es nicht mehr bis zu seinem heutigen 90. Geburtstag, 2016 ist er einfach gestorben, nachdem er seinen 84. noch erlebt hatte: Umberto Eco. Der Mann war von Hause Semiotiker, ein echter Professor und vermutlich wissen die meisten seiner Leser, Leserinnen und sonstigen Lese-Gestalten nicht einmal, was Semiotik ist. Man muss „Der Name der Rose“ schreiben und damit eine ganze Lawine Mittelalter-Krimis lostreten, dann ist der Rest Beiwerk. Ich kenne nur den Film und habe damit kein schlechtes Gewissen. Ich besitze ein dickliches Buch von ihm aus dem Carl Hanser Verlag, es heißt „Sämtliche Glossen und Parodien“. Mein Lesezeichen steckt bei Seite 132, dort findet sich ein (fiktives) Lektoratsgutachten zur Bibel, eine Köstlichkeit. Außerdem besitze ich „Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen“. Zeichen sind das, womit die Semiotik zu tun hat, man könnte also eine Semiotik politischer Ersatzhandlung schreiben: Vom Zeichen-Setzen.

4. Januar 2022

Früher war, was um diese Zeit vom Himmel fiel, Schnee. Der aber traut sich angesichts von Omikron offenbar nur noch als Wasser vom Himmel, deutbar als höheres Weinen. Unsere junge und dynamische Regierung hat das Problem, dass außer ihr und der von Österreich niemand ernsthaft etwas gegen die Ernennung der Atomkraft zur grünen Alternative hat. Das Erdgas ist gleichgestellt privilegiert von diesem seltsamen Europa. Nun droht Gesichtsverlust, melden die Hauptnachrichten und ihre Nebenprodukte. Am Ende könnte es besser sein, kein Gesicht, als keinen Strom zu haben. Ohne Strom funktionieren auch Twitter und Facebook nicht, wenn ich richtig informiert bin, ich rede gar nicht von all den Elektroautos, für die die Autobranche wirbt, obwohl überall die anderen Autos fahren und gekauft werden. Pro7 meldet, wie ich jetzt sehe, weil ich es sonst nie sehe, das Ende der Werbung, um dann noch drei ellenlange Werbespots in eigener Sache nachzuschieben.

3. Januar 2022

Immer, wenn ich „Ilm-Kreis“ lese, denke ich an jene lustige Zeit zurück, da mein Chefredakteur mir befahl, den offiziellen Namen des Kreises ohne Bindestrich und als ein Wort zu schreiben. Ich tat das natürlich nicht, fand regelmäßig die entsprechende Korrektur in meinen Texten und dachte mir ein Wort, das mit A begann und mit schloch endete. Heute ist der Chefredakteur längst vergessen, sein Stellvertreter ist immer noch Stellvertreter und hatte doch so gehofft, endlich einmal selbst Falschschreibungen befehlen zu dürfen. Der „Ilm-Kreis“ begegnet mir seit Tagen an der Spitze der deutschen Inzidenz-Hitparade, die man mit oder ohne Bindestrich schreiben darf, wegen der so genannten Lesbarkeit besser mit. Manchmal schafft es der „Ilm-Kreis“ in die Nachrichten: wenn etwa Schüler und Eltern, wie heute geschehen, gegen die Direktorin ihrer Schule protestieren. Diese Direktorin hat einen Ruf wie Donnerhall und eine Karriere des Scheiterns hinter sich, heißt es.

2. Januar 2022

Wir sind wieder zu Hause, der Heimweg streckte sich wie der Hinweg, den wir dem Navi folgend als Nebenstraßen-Grusel erlebten. Heute brannte ein Fahrzeug mit Anhänger im Rennsteigtunnel, was wir erst später erfuhren. Und wieder wollte uns das Navi ständig wenden lassen. Also Suhl, Zella-Mehlis, Suhl, Schmiedefeld, Nebel, Nebel, Nebel, dann Stützerbach, Manebach. Wann sind wir zuletzt diese Strecke gefahren? Standen da noch die Türken vor Wien oder schon die Syrer? Das waren Zeiten, in denen noch polnische Könige ins Weltgeschehen eingriffen, heute versuchen das dickliche Rest-Zwillinge mit weniger Wirkung. Die Bulgarin Blaga Dimitrowa wäre an diesem Sonntag 100 Jahre alt geworden. In der DDR begleitete man ihr Werk fürsorglich mit spärlicher Desinformation, im Westen gar nicht. Ich las ihren Roman „Auf Umwegen“ vor 21 Jahren mit hohem Genuss, meine alten Notizen kann ich fast wörtlich nutzen, wenn ich sie denn nutzen will.

1. Januar 2022

In ruhigen Zeiten nennt man das einen guten Vorsatz. Wir sind in Bad Rodach, nachdem wir vor Jahresfrist erstmals seit ewigen Zeiten Silvester ausfallen lassen mussten. Ein Teil ist auch diesmal ausgefallen: es gab kein Frühstück, weil das Hotel geschlossen blieb, nur unsere Ferienwohnungen waren zugänglich. Geimpft am 18. Dezember, als wir in Ilmenaus alter Schwimmhalle ganz ohne Voranmeldung uns „boostern“ ließen, müssen wir hier in Bayern immer noch 15 Tage warten, ehe wir ohne zusätzlichen Test aufs Saunatuch klettern dürfen. Zur Belohnung ist der Zugang so beschränkt, dass schon halb elf am Vormittag alles dicht ist, Bad Colberg hat gleich vollständig geschlossen. Kommt man dennoch hinein, darf man nur Plätze mit grüner Markierung einnehmen, das sind manchmal fünf pro Sauna, manchmal acht. Den Aufguss erleben 14 Glückspilze, zu denen wir nicht gehören. Trotzdem ist das Leben schön, weil es eben das Leben ist, wie man es kennt.

6. Mai 2021

Das hätte ich nicht gedacht: Christian Morgenstern wird 150 und keiner geht hin. Also ich bin natürlich aufmarschiert mit einem bemoosten Text und mit einem neuen dazu. Und bin nicht böse, dass ich mir Erich Fried verkniffen habe, der heute 100 Jahre alt geworden wäre. Den schneide ich mir aus fürs Archiv, die „Junge Welt“ feiert ihn schon seit einer ganzen Weile. Von ihm bin ich ohnehin nur bescheiden versorgt: mit Shakespeare-Übersetzungen. Und einigen wenigen Gedichten als Streugut in Anthologien. Mein kleiner gelber Impfausweis, der leicht gefälscht werden könnte, wie ich inzwischen weiß, hat lange, lange im Verborgenen gelegen, bis ich ihn für einen heutigen Besuch an der Arzttheke herauskramte, um ihn auf den aktuellen Stand bringen zu lassen. Nicht, dass ich Begeisterung ausgelöst hätte mit meinem Ansinnen mitten in der Sprechstunde, aber immerhin konnte ich von der Warteliste gestrichen werden. Platz für neue Wartende mit Maske.

5. Mai 2021

Besondere Wetterlagen band meine Mutter gern an die Geburtstage der Familie. Wenn es schon zu ihrem Geburtstag schneite oder noch einmal am Geburtstag ihre Gatten, meines Vaters, dann war das ein Jahr fürs Langzeitgedächtnis. Mein Geburtstag verband sich in gewissen Abständen mit Fasching, in gewissen Abständen mit fast sommerlichen Vorfrühlingstemperaturen. Denen man aber, so der Familienrat, nie trauen durfte. Als Kind war ich zum Geburtstag in gewissen Abständen krank, was mir mehr Zuwendung einbrachte als ohnehin. Wirklich interessant war für mich, als ich lesen konnte, eigentlich immer nur die Zahl der Bücher, die auf dem Geschenktisch lagen. Meine Frau würde in diesem Sinne sagen, dass bei mir mehrmals in der Woche Geburtstag ist, wobei ich mir die Bücher selbst schenke. Ich lese den zweiten Tag in den Erinnerungen von Fritz Homeyer und denke darüber nach, warum man älter werdend lieber Erinnerungen liest als edle Romane.

4. Mai 2021

Nicht die Balken, wohl aber die Bäume bogen sich bedenklich unter dem stürmischen Andrang der blasenden Luftmassen. Wir erörterten im Familienrat rasch die Frage, welche Wanderrunde uns den geringsten Gefahren, von herabstürzenden Baumteilen erschlagen zu werden, aussetzen könnte und entschieden uns für die bewährte Glaswerksrunde. So heißt ein Weg, den wir wie einst Herbert Roth auf den Höhen oft gegangen sind. Wir passieren Fraunhofer und Schorn-Tower, gehen bis dahin, wo im Wald unmittelbar oberhalb des Rundwanderwegs eine straßenbreite Schneise geschlagen wird, von der wir nicht ahnen, welchem Zweck sie dienen wird, falls sie das überhaupt soll. Vielleicht werden die alten Schienen aus dem Boden gerissen, die früher zu Henneberg führten, also zum Porzellanwerk gleichen Namens, vielleicht müssen auch nur die Fundamente der Fernwärmeleitung weg vor einer Wiederaufforstung. Rückweg durch Unterpörlitz, da zieht es auch an vielen Ecken.

3. Mai 2021

„Heimlich träumen Mensch und Erde“ heißt der Band aus der Reihe „Klassische Kleine Bühne“ des Henschelverlags Berlin 1978, den ich heute ins Register meiner gelesenen Bücher eintrug. Die Noten hinten würden mich natürlich weit mehr erfreuen, wenn ich Noten lesen könnte. Diese feine Fähigkeit geht mir ab, sie hatte auch nie eine reelle Chance, sich zwanglos unter meine Fähigkeiten zu mischen. Zwar wählte ich, als mir die Goetheschule die Gelegenheit dazu bot, das Fach Musik statt des Faches Kunsterziehung, denn das Malen von Bildern oder ähnliche Übungen inklusive des Erörterns von Maler-Biographien schien mir mehr Aufwand zu fordern, als unter Musikdirektor Otto Boxberger hie und da zwecks Gewinn einer Schulnote „Freude schöner Götterfunken“ zu grölen und ihm ansonsten beim Klavierspiel zuzuschauen und zuzuhören. Hingebungsvoll pianierte er, man konnte währenddessen völlig ungestört Hausaufgaben erledigen für Englisch oder Latein.

2. Mai 2021

Die Debatten, welche Rechte uns als vollständig Geimpften zustehen, wenn wir vollständig geimpft sein werden, was noch eine Weile dauert, denn in Thüringen sind die Abstände zwischen den beiden Terminen größer als die zwischen zwei Mäuseschwangerschaften, verliert an Bedenkenträgerei, wenn man selbst betroffen ist. Muss ich Urlaub im Ganzkörperkondom planen, darf ich überhaupt planen? Was, wenn ich für eine Woche Venedig zweimal zehn Tage in Quarantäne muss? Venedig? Hatten wir schon. Der Ethikrat berät über mich, wessen Freiheiten ich beschneide. Gut, ich glaube immer noch, dass es keine Frage für den Europäischen Gerichtshof ist, wenn für einen Besuch in den Tropen Tropenschutzimpfungen vorgesehen sind und folglich zu Hause bleiben muss, wer die nicht hat. Die Wanderrunde heute über den Friedhof, wo uns Gedanken an den Erfrierungstod den Schritt beschleunigen ließen. Der April war der kälteste seit 1977 oder länger. Erderwärmung eben.


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