Tagebuch

20. Januar 2022

Gestern meldete der Deutschlandfunk das Ende der Frist für den Jahrgang 1953, sich einen neuen Führerschein zu besorgen. Ich sofort ran an den PC, Termin besorgt für heute, es waren sämtliche Termine noch frei, heute zehn Minuten vorzeitig ins Amt marschiert, mit Impfnachweis, Maske, Personalausweis, Führerschein aus dem Jahr 1995 und einem biometrischen Passfoto. Die Eingabe meines Geburtsdatums am Terminal schaffte ich mit Hilfe eines freundlichen Bürgers in Uniform, bekam ein Zettelchen wie weiland im Arbeitsamt, kam aber sofort dran, weil vor mir null Wartende warteten. Drinnen gab ich ab, unterschrieb, zahlte am Automaten 25,30 Euro bar in Scheinen und Münzen, erhielt meinen ungültig gemachten Führerschein zurück, den ich mit einer Quittung vorzeigen muss, falls ich ihn vorzeigen muss, was in den zurückliegenden 27 Jahren exakt einmal vorkam. In vier Wochen darf ich mir die neue Karte abholen, benötige dafür aber einen Termin.

19. Januar 2022

Wenn man aus der Tatsache, dass es Straßen und Schulen gibt, die einen bestimmten Namen tragen, folgert, dass die Träger dieser Namen nicht vergessen sind, dann ist Max Tau unvergessen. Heute ist sein 125. Geburtstag zu begehen. Der Deutschlandfunk hat auch tatsächlich an ihn gedacht, das war es dann aber auch. Max Tau ist vergessen, auch sein Buch „Das Land das ich verlassen musste“ ist vergessen, der SPIEGEL hatte 1962 ein paar Zeilen dazu. Ich besitze das Buch, weil in ihm Arthur Eloesser vorkommt, was ich bei Andreas Terwey las, der nicht immer ein guter Ratgeber in Sachen Lektüre ist. Das Buch liegt noch ungelesen. Dafür aber las ich in den vergangenen Jahren sehr viel von Marie Luise Kaschnitz und die wiederum hat Max Tau entdeckt. Der auch überall als Entdecker von Wolfgang Koeppen gefeiert wird. Entsprechend haben beide Namen in dem Erinnerungsbuch auffällig viel Platz. Tau starb 1976 in Oslo, heute nennt man ihn einen „unermüdlichen Versöhner“.

18. Januar 2022

Als ich begann, die verschnürt in Jahrgangspaketen in meinem Keller lagernden Exemplare von „Das Magazin“ zu schlachten, ahnte ich nicht, wie viel mir wert scheinen würde, aufgehoben zu werden. Die Akt-Fotos wanderten alle in den Papiermüll, Ausnahme diejenigen, die auf Rückseiten zu sehen waren, aber ich entdeckte zum Beispiel, dass Irmgard Keun, eine meiner absoluten Lieblingsautorinnen, die DDR bis Anfang der 60er Jahre oft beglückte. Ich entdeckte, wie nach dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 Eulenspiegel-Autoren die Lücken füllen durften, die die kommunistische Exkommunikation gerissen hatte. Für Eulenspiegel-Autoren war auch die Ausbürgerung Biermanns ein Gewinn: er verschaffte Nebenjobs für das „Magazin“, weil alle wirklich prominenten DDR-Autoren fortan nicht mehr vorkamen im gefragtesten Druckerzeugnis des Kleinstaats. 1990 kamen die Aktmodelle auffällig breitbeiniger daher als vor dem Mauerfall.

17. Januar 2022

Heute erscheint der erste Roman von Jakob Augstein, „Strömung“ heißt er und ordnet sich der Bewegung „Alle schreiben einen Roman“ ein. Das ist die postmoderne Variante von „Greif zur Feder, Kumpel!“ aus dem Hause Walther Ulbricht. Das war der Mann auf zwei Milliarden Briefmarken in der DDR, mit dem Spitzbart. Der Sachse mit der Fistelstimme und dem Genossen Niemand, der die Absicht hatte, eine Mauer zu bauen. Nichts gegen Strömungen, ohne sie gäbe es die Möglichkeit nicht, gegen sie zu schwimmen. So weit, so schlecht. Ich habe am Sonnabend Moliere vergessen, am Sonntag Moliere vergessen und heute vergesse ich ihn wieder. Am Sonntag habe ich auch Uwe Grüning vergessen und wenn ich öfter die „Junge Welt“ lesen würde, würde ich mich wahrscheinlich selbst vergessen. So aber freue ich mich zweimal im Jahr auf die Buchmesse-Beilage, weil da fast ausschließlich Bücher und Autoren besprochen werden, die niemand kennt.

16. Januar 2022

Wie erfährt man, wie es in Nicaragua wirklich steht? Natürlich nicht, indem man die Konzern-Medien liest. Man liest die „Junge Welt“, herausgegeben von 2602 Genossinnen und Genossen. Dort lässt sich die Schweizerin Natalie Benelli vernehmen und sie verrät, dass Daniel Ortega breite Unterstützung in der Bevölkerung genießt. „Ich habe während meines Aufenthaltes viele Gespräche mit Taxifahrern, Kioskbesitzern, Medienschaffenden, aber auch mit Ausländern geführt, die seit Jahren in Nicaragua leben und mir erklärten, dass sich das Land zugunsten der werktätigen  Bevölkerung verändert.“ Wird auch Zeit, möchte man meinen, 42 Jahre nach der Machtübernahme sollte sich schon hie und da mal was verändern zugunsten der Menschen, die zwar im Mittelpunkt stehen, wie alle wirklich langjährigen Leser der JW wissen, leider bisweilen nur im Mittelpunkt geheimdienstlichen Interesses, siehe Arnold Schölzel. Armer Franz Fühmann, JW gedenkt deiner.

15. Januar 2022

Lang ist es her, da nutzte Chefredakteur Gerd Schwinger die Zeitung, deren Chefredakteur er war, dazu aus, auf zwei kompletten Seiten einen Auszug aus seinem Buch, dessen Titel wir vergessen haben, auszubreiten, mit dem dezenten Hinweis, es werde derzeit eine zweite Auflage vorbereitet. Jahre später sah ich in einer Buchhandlung in Suhl noch Stapel eingeschweißter Exemplare der ersten Auflage. Jetzt sah ich in einer Zeitung, deren Verleger Jakob Augstein ist, zwei Seiten Auszug aus einem Roman des Verlegers Augstein, Vorabdruck genannt. Lieber Gerd Schwinger, der Du mich immer mit Sie angeredet hast als einzigen Deiner Vasallinnen (alles Frauen außer mir), ich würde gern Abbitte leisten bei mir selbst, schlimmen Falles gar bei Dir, denn ich habe vergessen, was ich in der Sesam-Straße lernte: Es ist egal, wie weit du springst, es springt immer noch einer weiter als du. Wohl also jedem, der noch irgendwelchen Blödsinn über Journalismus glaubt.

14. Januar 2022

Der Effekt „Und täglich grüßt das Murmeltier“ trifft Älterwerdende (sämtlicher Geschlechter) vermutlich heftiger als Ronya Othmann, Ronja von Rönne oder selbst die vorgängige Räubertochter der N-Wort-Nutzerin Astrid Lindgren. In Kassel als erster deutscher Großstadt ist jetzt auch das M-Wort amtlich verteufelt worden. Das Buch „Mohr und die Raben von London“, mit dem Kinder wie ich dahinwachsen mussten im Unrechtsstaat DDR, müsste also neu betitelt werden, auch wenn der dort vorkommende Mohr mit vollem Namen Karl Mohrx hieß. Er konnte ebenfalls nichts dafür, dass er später ein alter weißer Mann wurde, dem man das allerdings noch nicht zur Last legen wollte. In der Murmeltier-Branche sehe ich, dass ich fast auf den Tag vor einem Jahr bei meiner Hausärztin ein Rezept holte, damals bekam ich es noch sofort, jetzt muss ich es beantragen. Der Vorteil: den nächste Woche fälligen Termin konnte ich selbst canceln. Frist bis in den frühen April.

13. Januar 2022

„Wenn einmal die Geschichte der Corona-Pandemie in Deutschland geschrieben werden wird, dann muss darin den Wandlungen und Pervertierungen des Freiheitsbegriffs ein umfangreiches Kapitel gewidmet werden.“ Das schreibt Thomas Meyer in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die an Sonnabenden erscheint. Ich hoffe inständig, nein, ich hoffe, inständig wäre schon maßlos übertrieben, dass kein von Restvernunft oder Resthirn im Kopf befallenes aufrecht gehendes zweibeiniges Wesen auf diese saudumme Idee kommt, dass kein Verlag in dieser noch nicht final geschriebenen, aber wohl auf mehr als einer Festplatte bereits im Wachsen befindlichen Textdatei ein potentielles Umsatzobjekt erblickt. Der Freiheitsbegriff wird seit 2000 Jahren missbraucht, wer braucht da ein neues Kapitel, gar ein umfangreiches, was hat die unschuldige Hannah Arendt damit zu tun, die nicht einmal die „Banalität des Bösen“ selbst erfunden hat, was nie jemand bemerkte?

12. Januar 2022

In unserer Wohnung gibt es mehrere Zeitungsstapel, der kleinste und streng genommen gar nicht als Stapel zu bezeichnende enthält jene Blätter, die neu hereinkommen und zuerst von meiner fleißigen Mitarbeiterin und Gattin gelesen werden. Dann trage ich sie in mein Arbeitszimmer, greife zuerst die Reiseteile und das Feuilleton heraus, die schlachte ich für mein Archiv aus, während der Rest warten muss, bis er an der Reihe ist. Das kann dauern, so dass ich immer wieder Entdeckungen in meinen Zeitungen mache, die ich längst gemacht hätte, wenn ich gleich alles durchgeschaut hätte. Manche Entdeckungen sind aber zeitlos. Wenn ich zum Beispiel auf den Namen Ilja Trojanow stoße, denke ich wie Pawlows Hund beim Leuchten der Lampe regelmäßig: unser gesamtdeutscher Bulgare vom Dienst. Trojanow bleibt, was er ist. Anders Jurij Andruchowitsch. Der war lange unser gesamtdeutscher Ukrainer vom Dienst, bis er in Ungnade fiel, Delikt: ostukrainische Russophilie.

11. Januar 2022

Damit sich nicht irritierte Heimatforscher aus den Fenstern ihrer Forschungskeller stürzen: am 20. Juli 1933 meldete die gestern zitierte Zeitung den genannten Waffenfund als in Großbreiten bei Erfurt geschehen, ebenfalls in einem zugeschütteten Bergwerksschacht, ebenfalls 221 Gewehre, jetzt aber gut eingefettet und in Säcke verpackt. „Die Waffen entstammen einer Waffenfabrik in Zella-Mehlis.“ Ob daraufhin vier Waffenfabriken verhaftet wurden, blieb unerwähnt, was mit den Kommunisten geschah, ebenso. Vermutlich wurden sie nach ihrer Flucht und Erschießung wenig eingefettet in Säcke verpackt. Gestern wollte ich eigentlich erwähnen, dass Franz Kain 100 Jahre alt geworden wäre, heute muss ich wenigstens erwähnen, dass Caroline von Wolzogen vor 175 Jahren starb, was als herber Verlust für Rudolstadt zu werten wäre. Aber die Ereignisse haben die dumme Angewohnheit, sich zu überschlagen. Großbreiten bei Erfurt gab es leider nie, dumm gemeldet.

10. Januar 2022

Worin liegt in dieser Nachricht der Skandal: „In Geraberg bei Arnstadt hob die Gendarmerie ein Waffenlager in einem zugeschütteten Bergwerksschacht aus. 221 Infanteriegewehre und viele hundert Schuss Munition wurden beschlagnahmt. Vier Kommunisten sind verhaftet.“ Die Antwort lautet: bei Arnstadt. Die Nachricht konnte man übrigens am 19. Juli 1933 nachlesen in einer Zeitung, für die einst Lessing, später Fontane gearbeitet hat. Das war eine Zeit, in der immer Kommunisten in Gartenkolonien Waffen lagerten und dann auf der Flucht erschossen wurden. Das Versteck im Bergwerksschacht war also sehr originell. Später wurde zu Gerabergs Hauptsorge das feindliche Ausland Geschwenda. Von Vorbereitungen zu einem bewaffneten Kampf gegen die Nachbarn ist zwar nichts bekannt geworden, boshafte Menschen aus Ilmenau aber behaupteten bisweilen, Geraberg wäre lieber an Tibet gefallen als an Geschwenda. Das war früher, ganz früher.

9. Januar 2022

Wahnsinn: genau 50 Jahre ist es heute her, dass ich aus Rövershagen meinen Eltern schrieb, meinen ersten NVA-Urlaub ankündigend. Ich bat, den Badeofen anzuheizen und Kaffee zu kochen, meine Ankunft am Sonnabendmorgen voraussetzend. In „Kulturschock NVA“ kann man das bei Bedarf und Vorhandensein eines Exemplars nachlesen. Ich schrieb von der Post, die ich bekam: von Franks Karin schrieb ich, die Zahnärztin wurde und sich nun auch schon im Ruhestand befindet, während ich an Franks Grab jeweils kurz verweile, wenn ich den Gehrener Friedhof besuche. Ich schrieb von Erikas Brief und dem Foto von ihr, das ich mir in den Spind hängte. Ach, Erika, ach Ungarn 1965 bis 1971 und danach wieder von 1973 bis 1976! Wer schreibt heute noch Briefe von Hand und klebt selbst angeleckte Briefmarken drauf oben rechts? Gedruckte Brief-Ausgaben in mehreren Bänden wird es nie mehr geben. Auch von unseren alten weißen Frauen nicht, geschweige den Diversen.


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