Tagebuch

20. Februar 2021

Zwei Jahre ist es her, da ich mir, als Kostprobe gewissermaßen, „Der Herrscher“ vornahm, das ist eines der kürzesten Stücke von Eugéne Ionesco, ich las es und dann kam so vielerlei dazwischen, dass nicht einmal für ein paar Notizen Zeit blieb. Es geht um einen Herrscher, der keinen Kopf hat, wohl aber einen Hut, „das ist leicht darzustellen“, schrieb Ionesco in seine Regiehinweise. Der einst modische Ansager des Stückes verrät: „Er braucht keinen, denn er hat Genie!“ Mehr braucht man kaum zu sagen, wenn es um absurdes Theater geht. Dennoch habe ich mir den heutigen siebzigsten Jahrestag der französischen Uraufführung von „Die Unterrichtsstunde“ zum Anlass genommen, ein ungeplant langes Stück Text zu fabrizieren, mehr als 3500 Wörter an einem Sonnabend, schon am zeitigen Morgen begonnen, nicht lange vor Mitternacht beendet. Und nebenbei noch mehr als 10.000 Schritte gelaufen. Eine lange Runde, die wir wegen Schnee und Nässe bis heute mieden.

19. Februar 2021

Es taut tapfer weiter, nur die größten Haufen widerstehen noch. In Berlin wird ein Geburtstag im kleinsten Kreise gefeiert, zu dem wir ohne unsere liebe Freundin Corona auch gefahren wären. Schwacher Ersatz ist Skype. Weil die höhere Technik im Hause wieder ordentlich funktioniert, streikt zur Abwechslung das Festnetz-Telefon. Man könnte mit ihm den Service anrufen, aber dann brauchte man den Service ja nicht. Ehe man einen leibhaftigen Menschen an der Strippe hat, kann man seine alte Balkonbepflanzung entsorgen, die Teetassen spülen oder ein altes Stück absurden Theaters lesen. Inzwischen funktioniert das Telefon kurzzeitig wieder, aber es scheint ein tieferes Problem vorzuliegen. Als André Gide vor 70 Jahren starb, wurden Verbindungen noch von echten Fräuleins gestöpselt. Als Paul Zech vor 140 Jahren geboren wurde, war das erste Gespräch in Deutschland mit einem Bell-Apparat eben vor vier Jahren geführt worden. Fortschritt geht anders.

18. Februar 2021

Zu den schönsten Beschäftigungen Linker gehört es, andere Linke zu bekämpfen. Würde man behaupten, dass das bei den Rechten ähnlich funktioniert, also an den Rändern, würde man Proteste ernten von wegen Gleichsetzung. Lassen wir es also stehen: NEUES DEUTSCHLAND rempelt heute auf der Titelseite gegen JUNGE WELT, weil JUNGE WELT offenbar vorher gegen NEUES DEUTSCHLAND rempelte. Es gab Zeiten, da kämpften Kommunisten derart tapfer gegen den Sozialfaschismus der SPD, dass sie gar nicht richtig merkten, wie der tatsächliche Faschismus die Macht übernahm. Später faselten einige von Einheitsfront, aber am Ende war es immer wie im „Leben des Brian“: Volksfront von Judäa gegen Judäische Volksfront. Monty Python wusste vor 50 Jahren alles. Ansonsten gibt es ein neues Buch von Gisela Steineckert, die es also immer noch gibt. Sie wird im Mai 90 Jahre alt, mit Schlagertexten scheint sie es nicht mehr so zu haben wie dereinst.

17. Februar 2021

Es ist tatsächlich passiert: Herbert Köfer erlebt und feiert seinen 100. Geburtstag und ist dabei niemals singend ins Maxim gegangen mit weißem Schal um Hals und Ohren. Monty Jacobs sprach am 17. Februar 1938 zur Trauerfeier für den drei Tage vorher im Jüdischen Krankenhaus Berlin verstorbenen Arthur Eloesser. Ich fand ausgerechnet heute ein sehr frühes, vielleicht das früheste Porträt von ihm, gedruckt im September 1905 in Siegfried Jacobsohns „Schaubühne“, der Autor Kurt Walter Goldschmidt ist 1942 im Ghetto Lodz verschollen. Seine Arbeit über Hermann Hesse zu dessen 50. Geburtstag hat nicht einmal der omnipräsente Hesse-Kenner Volker Michel in seinen einschlägigen Text-Sammlungen zur Hesse-Rezeption. Dreißig Jahre älter als der lebende Köfer war der nicht mehr lebende Georg Britting, von dem ich eben „Die Rettung“ las, eine Geschichte, in der ein Mann erst die falsche Frau rettet und dann gemeinsam mit seiner richtigen Frau ertrinkt.

16. Februar 2021

Zweimal nur war ich Teilnehmer des Schweriner Poetenseminars: 1974 und 1975. Die damaligen Teilnehmer sind jetzt überwiegend Rentner. Einer dieser Rentner, Ralph Grüneberger, wird heute 70 Jahre alt. Von den vielen, die ich kannte, ist er mir im Gedächtnis geblieben, weil wir im Schloss, in dem heute die Regierung sitzt, ein Doppelstockbett zur Verfügung hatten. Ob er oben und ich unten oder umgekehrt, weiß ich nicht mehr sicher, er kann sich an mich gar nicht mehr erinnern, wie sich bei einem nachwendlichen Neugierkontakt meinerseits ergab. Ich wollte nichts weiter von ihm, er schickte mir ein Buch mit dem Titel „Worttreffen“, in dem ich auch tapfer las, aber es war nicht so mein Ding. Ich bin stehen geblieben bei seinem „Poesiealbum 198“, bei „Frühstück im Stehen“ und „Stadt Name Land“, danach blieb die DDR stehen. Ob nun viel oder wenig Politik in ein Gedicht gehört, ist keine Frage, die mich interessiert. Auch die alten Kinnbärte quirlen keine Nostalgie hoch.

15. Februar 2021

Dass er selbst es nie erfahren wird, ist das Traurige an diesem Tag des Regenwurms, von dem noch nicht einmal sicher ist, wann genau er eingeführt wurde: um 2005, las ich. Das ist freilich in so sagenhafter Vorzeit, dass man sich freuen darf, wenigstens eine ungefähre Vorstellung zu haben. In meinen sehr jungen Jahren, ich wohnte in der Friedensstraße 3 in Gehren, gehörte es zu meinen kindlichen Vergnügungen, Regenwürmer zu sammeln, in einer fluchtsicheren Blechbüchse sie zu verwahren, um dann auf der anderen Seite der Straße im dortigen Hof die frei laufenden Hühner mit diesen Würmern zu füttern. Es muss für die Hühner eine Kombination von Weihnachten und Ostern gewesen sein. In Langewiesen und wohl auch andernorts wird heute Wilhelm Heinses gedacht, der daselbst vor 275 Jahren das Licht der Welt erblickte, falls seine Augen nicht noch zu sehr verklebt waren. „Auch der dümmste Mensch hat seine Wahrheiten, die man von ihm lernen kann.“ Sagte er.

14. Februar 2021

Lindenberg und Kickelhahn wie Kitschpostkartenberge vor strahlend blauem Hintergrund, die Morgentemperatur vor meinem Arbeitszimmerfenster minus 14 Grad, das darf man Winter nennen. Es ist der 83. Todestag von Arthur Eloesser heute, nichts für große Begängnisse, wohl aber für mein nicht mehr nur privates Wiederentdeckungsunternehmen ein guter Anlass, einen weiteren Text zu ihm ins Netz zu stellen. In seinem Buch über Elisabeth Bergner steht der hübsche Satz „Die Großen deckt kein Inkognito, nicht das des Königs, nicht das des Bettlers.“ In Arnold Zweigs Buch „Juden auf der deutschen Bühne“ steht weniger hübsch als eindringlich: „Das Theater hat das Unglück, rentabel sein zu müssen dank seiner Grundlagen“. Das ist etwa genau die Stelle, an der Beflissene gern rufen: „Es kann doch nicht alles nur am Geld liegen.“ Genau deshalb wollen jene Beflissenen möglichst jede Ruinenstätte in ein freies Kulturinstitut verwandeln, das finanziert werden muss.

13. Februar 2021

Männer mit Feindbild Frau gab es auch früher, einer wäre schlimmeren Falles sogar Literatur-Nobelpreisträger geworden. Sie hatten aber noch kein handlich-medientaugliches Etikett auf ihrer hühnerhaft heldischen Brust kleben. Jetzt ist das anders: sie heißen Incels. Als ich das Wort zum ersten Male las, war ich mild überrascht, es vorher nie gehört zu haben, inzwischen gibt es sogar schon frische Fernsehkrimis, in denen der Incel sein Unwesen treibt. Der SPIEGEL ist mit seinem heutigen Titel also eher Mainstream als Entdecker. Das Ilmenauer Amtsblatt hat eine Nachruf-Anzeige für Dr. Siegfried Lusche, mit dem ich in seiner Zeit als Bürgermeister von Oberpörlitz manches nette Gespräch hatte, zumal sein EDV-Mitarbeiter ein alter Schulfreund von mir war. Unglaublich: damals war Oberpörlitz noch selbständig, widersetzte sich halbwegs tapfer allen Eingemeindungswünschen der Großstadt Ilmenau, um schließlich trotzdem aufgeben zu müssen.

12. Februar 2021

Noch immer bin ich aufgeregt, weil mein PC wieder funktioniert und ich neue Optiken sehe. Ich habe nicht nur mein gutes altes Outlook wieder mit all meinen alten Mails im Ordner „Gelöschte Objekte“, ich kann sie auch wieder für immer und ewig löschen. Die große Überraschung des gestrigen Donnerstags trägt den Titel „Juden auf deutschen Bühnen“, als Buch zuletzt 1927 bei „Der Heine-Bund“ erschienen, gedruckt in der Rossberg’schen Buchdruckerei in Leipzig und geschrieben von Arnold Zweig. Überraschend, weil ich nicht ahnte, dass mein alter Lieblingsautor auch derart bedeutend in Theatergeschichte ist. Die Ordnung des Buches ist verblüffend und wenn die Verblüffung vorbei ist, eigentlich gar nicht anders denkbar. Zweigs Bücher, die man „Judaica“ nennen könnte, fehlten in der DDR in der großen Ausgabe mit ihren 16 Bänden. An den Nachträgen hätte ich bei Aufbau Berlin vielleicht gearbeitet, doch die DDR wählte die Flucht in die Geschichte.

11. Februar 2021

Dies ist, wegen des Datums, der Tag des Notrufs 112. Ich will hoffen, ihn nicht zu brauchen und das nicht nur wegen der üblichen Umwege über Rettungsleitstellen. Es schneit immer wieder und bleibt natürlich liegen. Bei dieser Temperatur knirscht der Schnee, der Sahara-Anteil ist an vielen Stellen immer noch gut zu sehen. Die Nachricht, dass am 1. März die Frisör-Läden wieder öffnen dürfen, trifft bei weiten Teilen der Bevölkerung, so weit sie die Wohnung mit mir teilt, auf ungeteilte Freude. Unsereiner schädigt diese Branche seit 44 Jahren ausdauernd. Thüringen ist mit dem heutigen Tag das einzige Bundesland mit einem Inzidenzwert über 100, dafür aber liegen wir mit dem Impfen plötzlich im oberen Drittel, nachdem wir anfangs hinterher hinkten. Die Kritiker kritisieren wie üblich alles, das nennt man Demokratie. Die Regierung tut prinzipiell alles zu spät, zu früh, zu viel oder zu wenig, und zwar immer, wahlweise anzukreuzen. Wann wusste sie wovon?

10. Februar 2021

An Margarete Hannsmanns 100. Geburtstag habe ich nicht einmal gedacht, geschweige den Versuch unternommen, etwas zu ihr zu machen. Ich besitze von ihr nur ein einziges Buch, das sie sich auch noch mit Günter Herburger teilen muss, es stammt aus dem Jahr 1978. Dafür beginne ich, mein vernachlässigtes Tagebuch zu aktualisieren, ohne die Nachträge auch Nachträge zu nennen. Es kann sein, dass noch einmal eine Zwangspause eintritt, wegen einer PC-Nachsorge. „Graf Öderland“ von Max Frisch hatte in seiner ersten Fassung vor 70 Jahren Uraufführung, der Text, der dazu heute erscheinen sollte, ist weitgehend vorbereitet, ich muss nur vorher noch andere Defizite ausgleichen, schon am 7. März wird das nächste Uraufführungs-Jubiläum sein, „Santa Cruz“. Die Temperaturen schleichen sich leise wieder nach oben, mitternächtliche 17 Grad minus bleiben hoffentlich unser aktueller Rekord. Unsere große Runde sind wir voll vermummt auch bei 13 Grad minus gelaufen.

9. Februar 2021

Fahrt zur Sparkasse, unsere Kontenzugänge wieder zu ermöglichen mit neuen Zugangsdaten. Wir bekommen am Schalter zwei Ausdrucke, haben aber nur den alten Zugang wieder neu, als wir es testen. Am Nachmittag die zweite Tour, diesmal die neue Installation direkt bei unserem Berater. Zwei neue Überweisungen klappen problemlos. Den 90. Geburtstag von Thomas Bernhard lasse ich nun doch verstreichen. Wer außer mir selbst achtet eigentlich darauf, ob ich einen Tag vorher, am Tag selbst oder drei Tage später ins Netz stelle, was ich geschrieben habe? Erfreulichste Nachricht des Tages aber ist die, dass der Verlust, den ich als Lehrgeld verbuchte, wieder auf dem Konto ist, die Sparkasse hat die Rückbuchung geschafft. Ich bin voller Schadenfreude: haben also die Arschlöcher mit dem indischen Akzent und der 0044-Vorwahl am Ende nicht einen Cent von mir ergattert. Inzwischen kenne ich einen Warntext der Verbraucherzentrale, die Masche läuft seit 2014.


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