Tagebuch

27. September 2019

Zum achten Mal bin ich nun in Brüssel, zum siebenten Mal im Hotel Van Belle, zum ersten Mal im Zimmer 6. So beginnt mein Tagebucheintrag vom 26. September 2004. Am 27. September meldete ich die Verteilung von vier meiner Bücher. Professor Timmermans, inzwischen leider verstorben, war so freundlich, sie bei mir als Gastgeschenke für unsere Gesprächspartner zu bestellen. Der Reisepreis hatte sich innerhalb von zehn Jahren verdoppelt, das Programm war dürftiger und blasser geworden. Dass es meine letzte Teilnahme an dieser Reise war, ahnte ich noch nicht, erhielt aber noch lange immer neue Einladungen auch für andere Angebote der Akademie aus Jena. Heute geht es nach Dresden, im MDR sahen wir noch spät gestern einen werbenden Beitrag für Ursula Werner als Mutter Courage. Wenn die Inszenierung ist, wie sie zu sein scheint, können wir uns freuen. Es ist der erste Theatergang der neuen Spielzeit, fünf folgen im Oktober, danach ist der Kalender leer.

26. September 2019

Der Kontrollblick des Kieferchirurgen sagt: alles sieht gut aus, der Termin für das Fädenziehen fällt auf den 70. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik, der dank Mauerfall keiner mehr ist. Es macht mäßig Freude, jetzt wieder täglich mit den immer noch einseitigen Geschichten über diese Republik konfrontiert zu werden. Der allgemeine Effekt des medialen Weltbildes wiederholt sich auch hier: jede beliebige Mehrheit bleibt ausgeklammert (hatte nicht Demokratie irgendetwas mit Mehrheiten zu tun?), stattdessen Sonderfälle, Sonderfälle, Sonderfälle. Millionen DDR-Menschen haben weder versucht, einen Tunnel zu graben, noch flogen sie vom Gymnasium, noch waren sie Bausoldat. Millionen DDR-Menschen waren nicht Pastorensöhne oder -töchter und selbst die wildesten Dissidenten länger in der SED als andere, denen man es zum Vorwurf macht. Aus Station 22 nichts Neues, man muss jetzt Gesprächstermine vereinbaren, um etwas zu erfahren, Trauerspiel.

25. September 2019

Zu den Erfahrungen, die man jedermann ersparen möchte, gehört die, einem lieben Menschen beim Verfall zuzuschauen und nichts tun zu können. Eben noch einem Scherz zugänglich und schelmisch mit dem Finger drohend, ist plötzlich Irritiertsein der vorherrschende Zustand, Kläglichkeit der Stimme. Was vorgestern Klage gewesen wäre, ist heute Resignation. Kleinste eigene Gesten werden wie fremde Phänomene wahrgenommen. Meine eigene OP wird fast nebensächlich, auch wenn ich am Nachmittag eine Weile sehr heftige Schmerzen habe, nachdem die Betäubung nachlässt. Alles dauerte nicht halb so lange wie im März. Noch einmal Lob, als ob ich einen willentlichen Anteil daran gehabt hätte, wie gut und fest der Kieferknochen geworden ist. Es fühlt sich merkwürdig an, wenn man etwas in den Mund geschraubt bekommt, verglichen mit einer Spritze in den Gaumen ist aber alles das pure Vergnügen. Es herrscht nun erst einmal Brei-Time und Blutorange statt Wein.

24. September 2019

An die verheerenden Folgen aus dem tagelangen Zwangsgenuss von Chlorhexamed Forte kann ich mich noch sehr gut erinnern. Heute nun die Einführung in die zweite Operation mit einem Rundum-Röntgenbild, das mir verrät, wie gut der Knochenaufbau verlaufen ist. Ich sehe, was morgen getan wird, ich werde beauftragt, ein Antibiotikum eine Stunde vor der OP zu nehmen, ich besuche meine Hausärztin wegen eines anderen Rezeptes, gehe mit dem Zahnarzt-Rezept in eine andere Apotheke. Am Ende des Tages lande ich bei 11450 Schritten und das zwei Tage nach dem Urlaubsende. Leider inbegriffen ein Krankenhausbesuch bei einer mir sehr nahe stehenden Person. Der Datenschutz in Krankenhäusern ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass man eine schriftliche Genehmigung erteilen muss, damit ein Besucher an der Rezeption erfahren kann, wo die Patientin liegt. In meinem Falle trug ich heute nachträglich Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht zum Kopieren hin.

23. September 2019

Aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen verlautet, dass in der Bevölkerungsgruppe, die in tiefen DDR-Zeiten Arbeiterklasse genannt wurde, Teile des Thüringer weiblichen Gruppenteils sich zur Frage verständigen, dass es ratsam sei, in diesem Jahr LINKE zu wählen, weil, wenn man die CDU wählt, die den schönen Kindertag im September wieder abschaffen will. Ich als LINKE hätte ja wenigstens den 1. Juni zum Kindertag erkoren. Passt einfach besser zur ehemaligen DDR. So muss ich sagen: wenn das Kalkül war, Hut ab, Ziege. Mal schauen, wie sich die weiblichen Wählerströme verhalten. Denn Wählerströme haben eine andere Viskosität und Fließrichtung als die Ströme, in die gewöhnlich unsere Flüsse und Bäche münden: mit denen geht es stetig abwärts. In meinem Viertel sorgen bei 22 Prozent Wahlbeteiligung LINKE-Stammwähler in ihren beigen Popeline-Mänteln für grandiose Wahlsiege bis zu einem Drittel der Stimmen, also sieben Prozent aller Wahlberechtigten.

22. September 2019

Günter Kunert ist tot. Neunzig und ein halbes Jahr alt ist er geworden. In die Tagesschau hat er es in seinem Leben nicht in dieser Länge gebracht, sein Tod verschafft ihm das Vergnügen, das er nicht mehr genießen kann. Da ich kein großes Medium bin, habe ich keinen Nachruf auf Vorrat liegen. Auch ärgert mich, dass nun überall von der Unüberschaubarkeit seines Werkes die Rede ist. Er hat sich vor vielen Jahren über eine Kritik lustig gemacht, die ihm eine verwirrende Vielfalt seiner Texte attestierte. Verwirrt sind immer die Kritiker, die auf der Suche nach gemeinsamen Nennern die Antenne für die einzelne Schönheit verloren haben. Die ganz wichtigen Preise hat er nicht bekommen und ich argwöhnte schon einmal öffentlich, dass das mit seiner Zurückhaltung zu tun haben könnte, Romane zu schreiben. Vielleicht hätte er welche geschrieben, hätte Reich-Ranicki nicht „Im Namen der Hüte“ durch den Wolf gedreht, wahrscheinlicher ist aber, dass er nicht wollte.

21. September 2019

Ausgeschlafener sind wir selten, deshalb fällt uns das frühe Aufstehen ebenso wenig schwer wie das frühe Frühstück. Unsere Koffer werden zuletzt verstaut, weil wir die ersten sind, die aussteigen am Hermsdorfer Kreuz. Wir fahren eine andere Strecke heimwärts: via Triest und Udine, 10.30 Uhr passieren wird die Grenze nach Österreich, ich finde vorher an einer Raststätte noch in Italien einen Viererpack mit verschiedenen umbrischen Bieren, die Craft-Beer-Welle hat auch Italien erreicht. Durch den Tauerntunnel gen Salzburg, schöne Strecke und nahe München fast kein Stau. Wir fahren an Hallein vorbei, wo ich „Don Juan kommt aus dem Krieg“ sah vor auch schon wieder fünf Jahren. Der Bus nimmt in Bayreuth am Bahnhof einen zweiten Fahrer auf, der dann am Hermsdorfer Kreuz übernimmt. Wir müssen kurz auf unser Taxi warten, das uns dann direkt vor der Haustür absetzt und nicht wie vorgesehen am Bahnhof. Vor 21 Uhr sind wir in der Wohnung, packen nur Weniges aus.

20. September 2019

Was Lido di Jesolo ist, lässt sich kaum sagen, eine Agglomeration von Hotels und Appartements vor allem, ein Strand mit endlosen Reihen von Liegen und Sonnenschirmen, die Liegenpreise reichen von 13,50 bis 21 Euro pro Tag, abhängig von der Reihe. Zur Hochsaison fassen sich die Liegenden vermutlich ständig ins Gesicht beim Umdrehen, es gibt endlose Reihen von Läden und Restaurants aller Art, Busse in Richtung dessen, was vielleicht Zentrum ist, fahren keine, man weiß eigentlich gar nicht, wo man sich befindet, orientiert sich an den Farben der Sonnenschirme. Den Ausflug nach Venedig heute haben wir uns verkniffen. Nach 33 Übernachtungen in Venedig, davon 30 am Canale Grande, brauchen wir keine Tagestouren mehr, in zwei Jahren sind wir wieder eine Woche dort. Am Strand auffallend viele dicke alte Frauen. Die Rückkehrer sind alle begeistert, was wir verstehen können. Am Abend wieder Schnelldurchlauf mit vier Gängen, danach Balkon-Abschied.

19. September 2019

Abschied von der Adria, eine Frau hat den Safe-Schlüssel eingepackt und muss noch einmal an den schon verstauten Koffer. In Padua nach drei Führerinnen heute ein Mann: Graziano, der nicht ganz so geläufig deutsch sprach wie die Damen. Zuerst der Platz, den unsere Reisebegleiterin Kerstin als drittgrößten, Graziano als zweitgrößten Europas bezeichnete. Dann die Kirche, die fast alles in den Schatten stellt, was wir bisher im Leben sahen: die Antonius-Basilika, für die uns viel zu wenig Zeit blieb. Immerhin sahen wir die Kapelle der Reliquien mit den Überbleibseln des Heiligen, darunter Zunge, Kinn und Kehlkopf, was einigen eher antireligiös gestimmten Mitreisenden Kopfschütteln abzwang. Wir waren im historischen Innenhof der drittältesten Universität Italiens nach Bologna und Modena. Den berühmten Anatomie-Hörsaal sahen wir nur auf dem Foto. Den gibt es nur im Rahmen einer Führung durch die Universität. Unser Hotel in Lido di Jesolo sehr weit vom Zentrum.

18. September 2019

Unsere allererste Italienreise nach Pesaro enthielt auch einen Tagesausflug nach San Marino, mein Erinnerungstext „San Marino forever“ ist unter REISE-LOB, 11. Mai 2011, noch nachlesbar. Drei Stunden blieben uns heute, 28 Jahre später. Wir hatten deutlich bessere Sicht bis zur Adria als am 16. Oktober 1991. Man kauft jetzt Eintrittskarten für ein, zwei und mehr Museen, Plastikkarten, die man seltsamerweise sogar behalten darf. Ich fand Biere aus San Marino, einige unverschämt teuer und gar nicht in San Marino gebraut, sondern in Padua, eines, das seine Herkunft nicht verriet, den Brauer aber auf dem Etikett zeigt. Ich nahm zwei Weine mit, den ersten genossen wir nach dem Abendessen auf dem Balkon, der zweite fährt mit nach Hause. Auf dem zweiten Turm Myriaden  fliegender Ameisen, mit jedem Schritt tötet man Dutzende. Viel Zeit für den Strand von Cesenatico, unser Hotel hat einen eigenen schmalen Abschnitt, auch eine kleine Bar dabei, kräftiger Wind heute.

17. September 2019

100. Geburtstag von Horst Krüger, den ich viel zu spät für mich entdeckte. Der fakultative Ausflug nach Ferrara und zum Kloster Pomposa. Heute führte uns eine Elisabetta. Ferrara ganz anders als Ravenna, wir liefen ab Palazzo dei Diamanti in Richtung Castello Estenense. Der Dom wegen Renovierungsarbeiten geschlossen, rundherum kleine wie angeklebte Geschäfte, in deren winziger oberer Etage früher die Inhaber wohnten. Pizza-Stücke als Zwischenmahlzeit, Eis bei den Kuchen-Lieferanten der Deutschen Lufthansa. Die Klosterkirche von Pomposa wie auch das dazu gehörige Museum nur mit Eintrittskarte zu sehen, wir zahlten gern. Von Touristengewimmel hier keine Spur mehr, die knapp bemessene Zeit reichte ausnahmsweise einigermaßen. Wir haben von weiteren Versuchen, an Weingläser fürs Zimmer zu kommen, Abstand genommen, trinken den Balkonwein aus den Plastebechern, nur roten natürlich, für weißen hätten wir einen Kühlschrank haben müssen.

16. September 2019

Milde Enttäuschung von Ravenna. Grandios die Basilika Sant’Appolinare in Classe, einem Vorort, der einst Hafen war. Mosaiken aus uralten Zeiten. Zweite Station außerhalb des Zentrums von Ravenna: das Grabmal Theoderichs, das Dach aus einem einzigen riesigen Stein wirft die Frage nach der Montage des Monuments auf. Stadtrundgang mit Claudia, die uns auf der Piazza del Popolo verlässt für die kleine Freizeit. Wir schauten zuerst zum Dante-Grabmal, suchten dann vergeblich in den Gassen nach einem normalen Geschäft mit Spezialitäten und Weinen. Zeitig zurück in Cesenatico. Die unangenehme Überraschung: es fahren keine Busse mehr, wir sahen die letzten gestern von unserem Balkon aus. Heute ist Schulbeginn in Italien. Langer Fußmarsch ins Zentrum, wo uns eine kleine Fähre für 40 Cent übersetzte. Auf dem Busparkplatz in Ravenna erstaunlich viele Busfahrerinnen, bei uns immer noch eher selten. Schrittrekord gebrochen: 21019.


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