Tagebuch
8. Oktober 2019
Zwischen allem gestern auch noch das Fädenziehen beim Kieferchirurgen, er macht es diesmal nicht selbst, alles dauert länger. Lange Suche nach dem Briefkasten der Antennengemeinschaft. Heute die Trauerfeier, die Akustik in der Feierhalle schien mir gar nicht so grässlich wie vorher beschrieben. Das Pommernlied hörte ich zum ersten Male. Die Rede sehr gut, wir waren alle einer Meinung. Vom Friedhof zu Fuß zu gemeinsamem Kaffee und Kuchen beim Bäcker, wo meine Eltern langjährige Kunden waren. Kuchen wie aus dem Buch für gute Kuchen. Anschließend noch einmal zur Wohnung. Meine Kinderfreundin aus der Talstraße wird die Scherenschnitte mitnehmen nach Berlin, wir verabreden uns für morgen. Die Mail mit der Urkunden-Kopie am Morgen raus, Brief an die TEAG raus, Brief ans Finanzamt selbst abgegeben. Und immer Arbeit an den Regalen, den Schränken, diverse Stapel, Umsortierungen fürs Antiquariat, das Fotos will, ehe es anrückt.
7. Oktober 2019
Dies wäre der 70. Jahrestag der DDR gewesen. Zwei lange Versuche, einen echten Menschen der Telekom an den Apparat zu bekommen und nicht nur die üblichen Stimmen vom Band, die den Anrufer von A nach B weiter leiten. Ihnen reicht eine Mail mit Kopie der Sterbeurkunde. Die will auch die TEAG und zwar mit der normalen Papierpost. Erstaunlich die Allianz. Sie nehmen die Abmeldung am Telefon entgegen, bekunden Beileid, versprechen Rückzahlung von Resten und zu allem noch schriftliche Nachricht. Das Finanzamt will einen Antrag auf Stornierung für die nächste Vorauszahlung, eine Kopie der Sterbeurkunde und die Restzahlung für 2018. Mit dem Bestatter reden wir fast zweieinhalb Stunden. Es gibt viele Anknüpfungspunkte, nicht nur der vergangenen drei Todesfälle wegen, es gibt gemeinsame Bekannte, Berührungspunkte biographischer Art, seine Mutter war auch in Dreißigacker zur Lehrerbildung. Wir verabreden uns auf 20 Minuten vorher.
6. Oktober 2019
Entwertungshorror. Auch mit Nachlässen ist es wie mit Verkäufen fast aller Art, die unter Druck erfolgen. Wir sind zeitig in Gehren, ich stehe lange auf dem Bürgersteig, den Mann zu erkennen an seinem Autokennzeichen, das dann doch ein anderes ist, als ich dachte. Die Buchstapel warten auf dem kleinen Wohnzimmertisch, die Kartons mit den Heften. Der Mann sucht kennerisch und sehr zielgerichtet. Von den Bänden „Spannend erzählt“ interessieren ihn nur wenige, ebenso von den verschiedenen Heften der DDR-Groschen-Literatur. Der Schock kommt beim Preisangebot, ich bin überrumpelt. Ich verliere sogar zwei Titel, die ich behalten hätte, hätte ich die Kartons vorher noch gesichtet. Wir essen beim Griechen, sind ganz allein, können mit dem Inhaber reden. Wir erfahren von verlassenen Dörfern, in denen sich Albaner ansiedeln. In der Post der Steuerbescheid für 2018. Ich werde morgen telefonieren, wie das Verfahren ist. Leisten Tote noch Steuernvorauszahlungen?
5. Oktober 2019
Warum braucht ein Blasorchester ein Schagzeug, fragt heute der Allgemeine Anzeiger. Das frage ich mich ehrlich gesagt auch, wobei ich bisher gar nicht wusste, dass es Schagzeuge überhaupt gibt. Vielleicht gibt es sie, um arbeitslosen Tommlern einen Nebenjob zu verschaffen, die partout nicht auf Blockföte umschulen wollen. Der „Urfaust“ gestern mit End-Faust gestreckt wegen der so genannten Verständlichkeit, wie mir zuvor zugeflüstert wurde. Die Hauptdarsteller des End-Faust saßen im Parkett, ich sah auch Florian Martens und saß neben einem Professor aus Braunschweig. Noch vor einer Woche hätte ich dem verlässlich sagen können, wann meine Kritik fertig sein wird. Das wollte der nämlich wissen. Doch ist es nicht einfach, den Schalter im Kopf umzulegen von Trauerfall auf Theatergang, von Kündigungen, Abmeldungen, Schrankräumungen, von Gängen wegen Kaffee und Kuchen nach der Trauerfeier. Ausgerechnet in diesem Oktober 5 Theatergänge.
4. Oktober 2019
Immerhin schaffe ich erste fünf Absätze meiner Kritik zum Meininger hinkenden „Hinkemann“, dann ist wieder Nachlass-Arbeit vordringlich. Am Sonntag will ein Sammler und Händler von DDR-Unterhaltungsliteratur zu uns kommen, ich muss ihm den fraglichen Bestand zeigen können. Als wir telefonierten, erfuhr ich, was ich eigentlich wegwerfen müsste, weil es keinerlei Nachfrage mehr gibt. Selbst unser kompletter Bestand an DAS MAGAZIN, mit allen Aktfotos: unverkäuflich. Und dann lese ich in einer hiesigen Tageszeitung, das Heft sei dieser Tage 95 Jahre alt. Welch ein Blödsinn: die erste Ausgabe erschien 1954. In einem Regal steht noch die Fläschchensammlung, in der Mitte der Sechziger begonnen, alle Arten von Hochprozentigem in Miniatur, alles mit echtem Original-Inhalt, wachsversiegelt gegen Verdunstung. Ob sich dafür jemand interessieren könnte? Abends wieder ins Theater, diesmal Weimar, diesmal der „Urfaust“, ein Labsal gegen den Toller.
3. Oktober 2019
Die Feier zum Tag der Deutschen Einheit gestern mit einigen Neuerungen im Redeteil: nicht mehr die endlosen Begrüßungen der vergangenen Jahre, es fehlten auch etliche der immer Begrüßten, so die Alt-Landräte und die Neu-Landrätin. Festredner ein Mann aus der Wirtschaft, Gründer, schon in den späten achtziger Jahren in der DDR in der TH Ilmenau auffällig geworden mit erfinderischer Kreativität, ergraute Zeugen der „Messe der Meister von Morgen“ in den Mensa-Sälen erinnern sich. An ihn und vor allem auch seinen Mitgründer. Ich las den Tag über Tollers „Hinkemann“, an die Erstlektüre vor mehr als vierzig Jahren sind keine Erinnerungen geblieben außer der des starken Eindrucks. Verblüffend viel Substanz fast hundert Jahre nach der ersten Niederschrift verblieben, verblüffend wenig Expressionismus im Text. Die Inszenierung in Meiningen leider ein Fehlgriff in fast jeder Hinsicht. Ich hatte dem Namen des Regisseurs vertraut, der mich bisher nie enttäuschte.
2. Oktober 2019
Lange Gespräche gestern mit den Schwestern meiner Mutter, auch mit Schweden ist geredet. Zur Trauerfeier werden die hinterbliebenen Geschwister alle nicht kommen können. Zu alt, zu krank, zu weit weg. So wird die Feier im engsten Kreise tatsächlich eine. Heute Telefonate, möglichst viel vom Nachlass in gute Hände kommen zu lassen. Ich werde mich, so schwer mir das fällt, von sehr vielen Büchern trennen müssen, es fehlt schlicht an Platz. Ich drehte gestern eine große Runde in Gehren, ging durch die einstige Talstraße, in der ich von 1959 bis 1979 wohnte, zum Steinmetz, der die Grabplatte entfernt und dann wieder mit neuer Beschriftung aufbringt: ich hatte in der Nacht geträumt, ich hätte die falschen Daten angegeben. War aber alles richtig, alles gut auf der Karte an der Pinnwand. Das Haus, in dem ich mein erstes Kinderzimmer hatte, sieht von vorn noch fast aus wie 1959, nur die Haustür ist neu und die Briefkästen, allein die Wetterseite ist grau geschiefert.
1. Oktober 2019
Meine ehemalige Tageszeitung bringt einen Beitrag unter der Überschrift „Der politische Horror von Frankenstein“: Der Hyper-Skandal im Kreis Kaiserslautern betrifft ein Ehepaar Schirdewahn, das im örtlichen Gemeinderat allen Ernstes, man stelle sich vor, eine Fraktionsgemeinschaft bildet, obwohl sie in der CDU und er in der AfD ist. Wäre dem armseligen Schreiber das Wort Horror ebenso hirnlos leicht in die Rübe gestiegen, wenn der Ort des Geschehens, sagen wir: Blankenstein gewesen wäre? Mit Wort- und Sprachverklumpungen sollten gerade Vertreter der Berufsschreiber-Zunft souverän umgehen können. Theoretisch natürlich nur. Von den Christdemokraten kann ich zu ihren Gunsten nur hoffen, dass eine Polit-Gemeinschaft eines Ehepaares für sie nicht blanker Horror ist, sonst wären sie ja vor wirklichem Horror absehbar gänzlich hilflos. „Schockwellen bis Berlin“, wie viel bare Print-Blödheit lassen wir uns eigentlich vorsetzen, bis uns der Kragenknopf wegfliegt?
30. September 2019
Absprache mit dem Bestattungsinstitut. Dauert eine Stunde. Viel wird uns abgenommen, einiges bleibt dennoch. Zeitungsabmeldungen etwa. Wir sind heute nicht in Gehren. Die Steinmetzfirma wird die Grabplatte abnehmen und auf den neuen Stand bringen. Die Anzeige ist geschaltet, die Texte auf den Schleifen bestellt. Jetzt sind von 13 Geschwistern noch 4 übrig: ein Bruder in Brasilien, ein Bruder in Schweden, zwei Schwestern in Ulm. Die jüngste wird auch schon 80 in diesem Jahr. Eine Familiengeschichte, die geschrieben werden müsste, aber nicht geschrieben werden kann. Wie viele Romane gibt es schon von Erben, die alte Schachteln und Mappen öffnen, alte Fotos betrachten, alte Briefe lesen? Ich habe jetzt ein vierzigbändiges Tagebuch geerbt, alles in schöner Schrift notiert. Viele Bücher mit Notizzetteln wie Lesezeichen: ein Name erinnert an eine Straße, in der meine Mutter wohnte. Sie hält fest, wann ich nach einem lateinischen Zitat fragte.
29. September 2019
Schon erste vorsichtige Blicke in die Hinterlassenschaften meiner Mutter nötigen mir Begeisterung ab: alles geordnet, alles beschriftet, alles aufgehoben, was auch nur irgendeinen ideellen oder historischen Wert hat, das Familienstammbuch weist meine Eltern auf der Heiratsurkunde beide als Geschichtslehrer aus, das hat geprägt. Ich finde einen Brief von mir vom 23. September 1963, in Mühlberg geschrieben, wo ich zur Schule ging, als meine Mutter im Krankenhaus lag. Eine ganze Blechschachtel mit einer Szenerie vor einem „Restaurant Stephanplatz“ enthält alte Ausweise, Pässe, Mitgliedskarten. Visitenkarten meines Vaters aus seiner Nürnberger Zeit, Mitgliedskarten der Büchergilde Gutenberg, erst Erfurt, dann Nürnberg. Jetzt kenne ich alle frühen Adressen. Ich finde Reisedokumente von 1957 und 1961, Prag und Grusinien, Kurunterlagen von 1977. Zum ersten Mal im Leben sehe ich die Sterbeurkunde meiner Schwester vom 18. November 1950, Tag ihrer Geburt.
28. September 2019
Meine Mutter ist tot. Genau zwei Wochen vor ihrem 91. Geburtstag ist sie ihrem letzten Leiden erlegen, zu ihrem und unserem Glück ohne lange Quälerei. Noch am Sonntag telefonierten wir nach unserer Rückkehr aus Italien, sie erzählte vom Besuch der Urenkel, ein Foto davon kannten wir schon. Am Montag wollten wir weitere Vereinbarungen mit dem DRK treffen, mussten verschieben, weil das Sanitätshaus mit den Vorbereitungen noch nicht zu Ende gekommen war wegen des neuen Thüringer Feiertages. Als ich am Dienstag mit dem DRK sprach, war es schon eine vorläufige Absage, meine Mutter lag auf Station 22, von Tag zu Tag wurde es kritischer. Am Donnerstag der Satz, den wir für beginnende Verwirrung halten mussten: „Warum bringt Ihr mir noch was, ich bin doch morgen im Sarg.“ Es war nur ihr Lieblingsjoghurt und frische Wäsche, was wir brachten. Den Freitagsbesuch nahm sie schon nicht mehr wahr. Heute holten wir ihre Sachen ab: mit Protokoll.
27. September 2019
Zum achten Mal bin ich nun in Brüssel, zum siebenten Mal im Hotel Van Belle, zum ersten Mal im Zimmer 6. So beginnt mein Tagebucheintrag vom 26. September 2004. Am 27. September meldete ich die Verteilung von vier meiner Bücher. Professor Timmermans, inzwischen leider verstorben, war so freundlich, sie bei mir als Gastgeschenke für unsere Gesprächspartner zu bestellen. Der Reisepreis hatte sich innerhalb von zehn Jahren verdoppelt, das Programm war dürftiger und blasser geworden. Dass es meine letzte Teilnahme an dieser Reise war, ahnte ich noch nicht, erhielt aber noch lange immer neue Einladungen auch für andere Angebote der Akademie aus Jena. Heute geht es nach Dresden, im MDR sahen wir noch spät gestern einen werbenden Beitrag für Ursula Werner als Mutter Courage. Wenn die Inszenierung ist, wie sie zu sein scheint, können wir uns freuen. Es ist der erste Theatergang der neuen Spielzeit, fünf folgen im Oktober, danach ist der Kalender leer.