Tagebuch

27. März 2019

Auf den Fotos vom 27. März 1994 sehen wir ein wenig müde aus. Das Schiff von Pozzuoli nach Ischia war auf dem Oberdeck fast leer, wir passierten Procida und näherten uns Casamicciola. Unser Hotel „La Ginestra“ erreichten wir eher als unsere Koffer es taten, süditalienische Logistik war neu für uns. Wir überbrückten die Wartezeit mit einem kleinen Ausflug zur Sorceto-Bucht, ich belichtete Eidechsen mit grünem Kopf und grünem Rücken, die sich sonnten. Dass sich in der Bucht im noch kalten Meereswasser heiße Quellen finden ließen, entdeckten wir erst später. Den Thermal-Pool testeten wir, als das Gepäck mit Badehosen und Badeanzügen endlich zur Hand war. Unser Zimmer ohne Meerblick hat eine kleine Terrasse. Neben dem Hotel steht ein Haus wie ein vergessener Rohbau als Siedlungsbezirk für diverse Katzen. Diverse Hunde waren uns in Pozzuoli aufgefallen, die sich sehr dezent verhielten, um nicht verjagt zu werden, man nennt sie streunend.

26. März 2019

Es muss nicht immer gleich die Rote Armee einmarschieren, um einen Tag zum Tag der Befreiung zu machen. Mir reicht es für heute, von meinem Kieferchirurgen die Fäden gezogen bekommen zu haben. Ein derart neues Ess-Gefühl hatte ich lange nicht: ich konnte mit meiner ureigenen, in die Jahre gekommenen Zunge festere Nahrung am Gaumen zerquetschen, ohne dass mir die Anfänge verschiedener Lieder auf selbige springen wollten. Ein Fädchen wurde übersehen, wie ich den Informationen dieser Zunge entnahm, die sie ans Großhirn sendete. Ich sichtete es sogar listig versteckt an einer Stelle, wo auch ich keines vermutet hätte. Die vermissten Reiseunterlagen fanden sich dafür in einem Ablagekasten mit dem Aufkleber „Reisen“, der zirka sechzig Zentimeter Luftlinie von meinem linken Auge steht und gelb ist wie die Post. Das kenne ich von Edgar Allan Poe als das beste Versteck der Welt. Am 26. März 1994 bestiegen wir einen Bus Richtung Ischia.

25. März 2019

Es passiert mir immer wieder, dass ich etwas suche, ohne es schließlich zu finden. Gestern war es ein Passwort, das sich auch nicht erneuern ließ, weil die Erneuerung selbst wieder einen Zugang voraussetzte, den ich nicht fand. Auf der Suche nach Hilfe stellte ich fest, dass ich von einer Reise im vorigen Juli nirgends die geringste Quittung entdecken konnte, obwohl ich doch sonst jedes Finanzamt beschäme mit meiner Sammelleidenschaft. Bei der Gelegenheit wanderten andere Belege, die ich auf zwei kleinen Stapeln immer wieder von rechts nach links geschoben hatte, an ihrem finalen Bestimmungsort. Ich sortierte Zeitungsartikel, einer über Mark Zuckerberg irritierte mich mit dem Schluss-Satz „Das Ehepaar hat zwei kleine Töchter, Max und August.“ Es wird sicher nicht lange dauern, bis die ersten Milliardäre ihre Söhne Heidi und Priscilla nennen. Und etliche Gender-Professorinnen werden postorgastische Belastungsstörungen bekommen vor lauter Freude.

24. März 2019

Statt Tatort Fußball, statt Blamage ein Sieg. Ich bin mehr als 10.000 Schritte gegangen an diesem überraschend nebligen Sonntag. Meine Unterlagen vom gestrigen DJV-Landesverbandstag in Weimar sind im Ordner gelandet, diverse andere Dinge auch. Ich konnte mir abermals eine kleine Rede nicht verkneifen, darin die These, dass wir nicht allzu selbstverständlich davon ausgehen sollten, mit dem, was wir tun, quasi automatisch Qualität zu verkörpern, die dann auch noch bezahlt werden muss. Print-Medien auf Dauersparkurs stehen nicht mehr für Qualität, sie stehen für Abbau, für Notlösungen, Synergie im Verlagsgeschäft ist Verlust von Vielfalt, Verlust von Vielfalt bedeutet den Ausstieg derjenigen, die mehr als eine Zeitung lesen, die Multiplikatoren steigen aus. Für die Theater, selbst wenn sie sich nur noch an Romane halten oder aus zwei Hörspielen ein Spiel für die Bühne schustern, ist der Verbleib eines einzigen Print-Kritikers für ganze Landstriche verheerend.

23. März 2019

Vier Stunden Brecht am Stück auf ARTE und ich wüsste am Morgen danach nicht, ob mir auch nur ein einziger Moment überraschend oder gar neu vorgekommen wäre. Vielleicht ist mir die Biografie des Meisters einfach zu gegenwärtig, seit ich „Brecht in Augsburg“ las und die Erinnerungen an Brecht, die Arnolt Bronnen hinterließ. Ich weiß, wie sich Erwin Strittmatters Sicht auf Brecht im Lauf der Jahre mehr und mehr veränderte. Heinrich Breloer rächt sich dafür, indem er den Namen des Stückes von Strittmatter zwar erwähnt und Proben zeigt, die an den westdeutschen Heimatfilm erinnern, den Namen des Katzgraben-Schreibers selbst aber verschweigt. Vor 200 Jahren ermordete der Student Sand den Dichter August von Kotzebue, woran vorsorglich NEUES DEUTSCHLAND schon am Mittwoch erinnerte. Dass Goethe den Mörder kannte, bevor der ein Mörder wurde, habe ich bereits einmal erwähnt, man lese es in meiner Rubrik MEIN GOETHE, 28. August 2017, nach.

22. März 2019

Vor haargenau 200 Jahren starb in Weimar der Präsident des Staatsministeriums Christian Gottlob von Voigt, geadelt 1807, seit 1794 Geheimer Rat. Als stille Reminiszenz an diesen Tag wählte Johann Wolfgang von Goethe ihn für seinen eigenen Tod, wartete damit aber noch 13 Jahre. Voigts Gattin Johanna Viktoria, geborene Hufeland, verwitwete Michaelis, war bereits 1815 gestorben, Goethes Gattin Christiane Johanna Sophie 1816. Wir verdanken die Herausgabe des  Briefwechsels zwischen Goethe und Voigt, insgesamt 2327 Seiten umfassend, dem in Wernshausen (heute Ortsteil von Schmalkalden) geborenen Hans Tümmler, der 1933 flugs in die NSDAP und die SA eintrat, was weder im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar noch in der drum herum liegenden DDR jemanden sonderlich störte. Die vier Bände erschienen zwischen 1949 und 1962 und sind heute um 100 Euro antiquarisch zu erwerben. Amtliche Briefwechsel muss man allerdings mögen.

21. März 2019

Als sollte meine gestrige These zum Thema linker Faktentreue umgehend bestätigt werden, legt die JUNGE WELT mit der Behauptung nach, Salman Rushdie habe als mittelmäßiger Graphomane den Literaturnobelpreis bekommen, sonst hätte nie jemand von ihm Notiz genommen. Schreibstümper diesen Falls ist Reinhard Lauterbach. Kann es sein, dass dieser Name verräterisch ist? Immerhin liegt auf einer Internet-Liste mit 34 Autoren, die den Literaturnobelpreis nicht bekamen, Rushdie abgeschlagen auf Platz 25. Auf der Liste der Autoren, von denen ich nie eine Zeile las, auf die ich aber neugierig bin trotz allem, liegt Rushdie auf Platz 649. Da sind aber die Autorinnen noch nicht eingerechnet, auch nicht diejenigen, die sich den Diversen innerhalb der Schreibzunft zuordnen. Beim Sortieren alter Zeitungsbeiträge stieß ich auf diese Unterzeile in der FAS vom 14. September 2014: „Ein Verbot von Beipackzetteln könnte jedes Jahr Tausende von Menschenleben retten“.

20. März 2019

Ich müsste mich selbst bedauern, dass ich die taz nur dann lese, wenn sie eine literataz enthält, was nicht sehr oft im Jahr passiert. Heute beispielsweise schreibt ein Jens Uthoff auf der Seite 20, dass der Interzone-Sänger Pudelko ohnehin Fan des österreichischen Schriftstellers Wolf Wondratschek war. Laut Lexikon ist Wondratschek in Rudolstadt in Thüringen geboren, welches sich „Schillers heimliche Liebe“ nennt und zweifelsfrei nie zu Österreich gehörte. Faktentreue ist, das freilich weiß ich, ein eher konservatives Projekt und gilt links als spießig. Steffen Grimberg, den ich leider nicht kenne, nur Klaus Grimberg ist mir bekannt, orakelt in selbiger taz über den Abgang eines der FAZ-Herausgeber und benutzt bei der Gelegenheit die sehr hübsche Formulierung „Binnenpluralität im eigenen Blatt“. Dergleichen irritierte mich einst am „Freitag“, als der noch nicht „derfreitag“ hieß und der Homogenisierung a la Jakob Augstein noch ahnungslos tapfer entgegen blinzelte. Wie ich.

19. März 2019

Die Nebenwirkungen von Medikamenten, die ich einnehme, erregen selten in jedem Detail mein Interesse. Meist ist es besser, die Beipackzettel gar nicht zu lesen, sie verursachen im Spektrum zwischen Todesangst und Minderwertigkeitsgefühlen höchst diffuse Empfindungen. Ein Mittel zum Mundspülen hätte ich im Traum nie verdächtigt. Vielleicht erwischt es mich gerade deshalb. Als ich gestern nach einer Woche Vollabstinenz meinen ersten Schluck Weißwein nehmen wollte, meinen Lieblings-Gascogner, hätte ich fast ausgespuckt. Die Probe Roter aus Kastilien danach schmeckte wie aus einem vergessenen Tetrapack des vorvorigen Jahres. Heute, beim zweiten Kontrolltermin, meine dezente Frage an den Kieferchirurgen: ja, das sei normal, kann ein paar Tage dauern, deshalb soll man es nie länger als einen Monat benutzen. Ich hätte es lesen können: Verfärbung der Zunge und der Zähne: vorübergehend. Geschmacksstörungen: keinerlei Zeitangabe. Mein schöner Wein!

18. März 2019

Christa Wolfs 90. Geburtstag ist für mich ein Montag, da ich kurz nachschaue, wer diesem Anlass nun gar nichts mehr abgewinnen kann. Dann gehe ich nahtlos und leise vorempört zu einer Dame über, die vermutlich vor jedem Pressefoto und mittlerweile auch Auftritt vor Kameras lange vor dem Spiegel steht und übt, wie sie die Haare fallen lassen muss, um möglichst schön auszusehen, wie sie den Kopf drehen muss, um noch schöner auszusehen, ehe sie die Gelegenheit ergreift, eine ihrer granatendämlichen Thesen in die Welt zu sprechen: Kinder seien ein reaktionäres Projekt, Kinder versauen die Klimabilanz. Die Dame ist 1980 geboren und hat sogar promoviert, das aber zeichnet in Deutschland längst niemanden mehr aus. Die Dame ist, was schwerer ins Gewicht fällt, Lehrerin. Gäbe es keine Kinder mehr wegen der Umwelt, könnte uns diese komplett gleichgültig sein. Sie braucht uns nicht, wir sie schon. Welche Schule beschäftigt eine Verena Brunschweiger?

17. März 2019

Immer, wenn ich gestern dachte, jetzt machen die Elstern Mittagspause, oder: sie haben aufgegeben, der Scheißbaum schwankt ihnen zu heftig, da fliegt ja jedes Ei aus dem Nest, wenn es kein Bleiei ist, doch warum sollten normale Elstern Bleieier legen, immer dann sah ich den Fortgang des Baugeschehens und bewunderte diese wackeren Facharbeiter. Bob, der Baumeister mit seinem „Jou, wir schaffen das!“, das bekannte Vorbild unserer Kanzlerin, ist gegen diese beiden Elstern ein armer Pessimist. Meine Hoffnung, am Ende des Sturmes, gegen den Greta Thunberg bis jetzt auch noch kein revolutionäres Rezept gefunden hat, den Brutvorgang beobachten zu können, wird das letzte sein, was stirbt. Ich liebe diese tapferen Elstern, die den überlegenen Krähen die ziemlich kleine Stirn bieten, wenn es darauf ankommt und wünsche ihnen von Herzen alles Gute. Mich bewegt still die bohrende Frage, ob „Saturday for Future“ weniger klimafreundlich wäre als „Friday for Future“.

16. März 2019

Läge Ilmenau auf den Lofoten oder den Orkney-Inseln (wo man sehr anständiges Bier braut nach dem schottischen Reinheitsgebot), könnte man sagen: so ist es halt auf Lofoten und Orkneys: es stürmt, auch wenn es nicht zugleich schneit. Hier aber macht uns der Dauersturm langsam wuschig. Ich werfe eben einen Blick aus dem  Arbeitszimmerfenster, aus dem ich das ganze Stadtpanorama erblicke, als ein Vogel ins Blickfeld fliegt, etwas quer im Schnabel tragend. Es ist weder der Ulmer Spatz noch die kleine weiße Friedenstaube. Für einen Spatzen ist der Vogel klar zu groß, für eine Friedenstaube ist der Weißanteil im Federkleid zu gering. Es ist, um es kurz zu machen, eine Elster, also jener Singvogel, über den ich schon einmal schrieb. Er befindet sich mit seiner Partnerin (oder sie mit ihrem Partner) mitten im Nestbau, es sind emsige An- und Abflüge zu verzeichnen, die werkzeugfreie Schnabelarbeit ist stressig. Doch das Nest wird wegen Sturmes einfach nicht fertig.


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