Tagebuch
22. November 2019
Eigentlich hieß sie Mary Anne Evans, zu Ruhm aber kam sie als George Eliot. Sie schrieb ganz dicke und ziemlich dicke Romane und der Weimarer Bertuch Verlag hat deshalb alternativ ein nur 40 Seiten umfassendes Büchlein mit dem Titel „Zu Gast in Weimar“ produziert. Ich sah es noch nicht, aber das will nichts bedeuten. Heute ist der 200. Geburtstag von George Eliot und einige Medien sind altmodisch genug, dessen zu gedenken. Danke, Medien. In meinen Beständen steht außer „Silas Marner“ nichts, es steht zwischen „Die Sturmhöhe“ von Emily Brontë und „Die Kunst zu lesen“ von John Ruskin. Meine Lesepräferenzen würden mich derzeit eher auf Ruskin lenken, aber wen interessieren schon meine Präferenzen. Im Veranstaltungskalender von Bad Kissingen las ich von einem Gastspiel des Theaters Hof in der kommenden Woche, das damit wirbt, nicht nur Filme und Romane auf die Bühne zu bringen. Ich fahre hin, verzichte aber doch auf das Gastspiel.
21. November 2019
Zu nachtschlafener Zeit aus dem Bett, einen Gefrierschrank bei Aldi kaufen, man weiß nie, wie die Nachfrage ist und Söhne mit Frühschicht könnten zu spät kommen. 45 Minuten Telefonat mit Ulm. Der Brief mit den Fotos ist angekommen. Viel Mitgefühl für unser siebenwöchiges Schuften in Gehren. Traurige Botschaft von der Frau meines Cousins. Meinen Tagebuch-Eintrag vom 13. Februar zu Iwan Krylow müsste ich zitieren, das Lesezeichen im Reclam-Buch steckt noch an derselben Stelle. Nur ist heute bereits der 175. Todestag. Gedenken müsste ich auch des Herrn de Voltaire, den man laut Charles de Gaulle nicht verhaftet. Mein Kalender weist mich auf dessen 325. Geburtstag hin, der freilich so wenig wichtig ist wie fast alles. Immerhin las ich sein Stichwort „Todesurteile“ in seinem „Philosophischen Wörterbuch“. Großer Kopf, aber das weiß man ja, wenn man etwas weiß. Kleiner Text zu Fontane fertig, muss morgen nur noch Korrektur gelesen werden.
20. November 2019
Die Kritik steht im Netz, ich konnte dem tschechischen Regisseur leider absolut nichts Lobendes nachsagen, fand aber bei Arnold Zweig noch gestern eine schöne Aussage über Theater, die dem Irrtum unterliegen, Dramen seien Problemlösungsangebote für Grübler in akademischem Rang. Es gibt leider nicht genügend promovierte Grübler, die ausreichen, in größeren Städten mehr als zwei, maximal drei Abende die Häuser mit Gelächter zu beschallen, wenn vorn poststrukturalistisch-postmigrantischer Gender-Kahlbühnen-Abend zelebriert wird. Obwohl es sie natürlich gibt, die den Einfall, Prinzessin Hamlet einen Ophelio an die Seite zu geben, bannig geil finden: endlich mal was anderes. Das kann man ins Unendliche treiben: Königin Lear mit ihren drei Söhnen, Schneewittrich und die sieben Zwerginnen, die dann allerdings Kleinwüchsige heißen müssten wegen der Gefahr, die Diskriminierungsbeauftragte des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe auf den Plan zu rufen.
19. November 2019
Die Rechnung von Eichhorn & Schöne ist da, erfreulich weniger heftig als erwartet. Ich zahle sofort online und bedanke mich noch einmal ausdrücklich, indem ich meinen TAGEBUCH-Eintrag vom Freitag fürs Hausarchiv ins Gewerbegebiet sende. Der Text für THEATERGÄNGE schmort noch immer, dafür gibt es am Abend viele schöne Tore gegen Belarus. So sagen heute im Fernsehen alle, als ob sie Angst hätten, Weißrussland zu sagen. Konsequent wäre es dann, alle Länder in den Nachrichten mit dem Namen zu bezeichnen, den sich die Länder selbst geben. Wir ahnen, dass schon bei Ungarn, nicht zu reden von China, die Sprecher von einer Blamage zur nächsten holpern würden wie es die Fußballreporter seit Jahren tun. Wäre Finnland dann nicht Suomi, wie jeder in Ehren ergraute Briefmarkensammler weiß? Womit ich bei der hinterlassenen Sammlung wäre, die in voller Größe große Flächen im Esszimmer wie im zweiten Schlafzimmer blockiert. Immer noch.
18. November 2019
Während wir in Leipzig weilten, erschien zu Hause mit heftiger Verspätung der verlängerte Bildtext zu meiner großen Buch-Spende für die Ilmkreis-Kliniken in der „Heimat-Zeitung“, ich griene in die Kamera der Verwaltungsdirektorin neben meinen 9 Büchern, die gespendeten 180 Bücher sieht man nicht. Freundliche Kollegen der mir angetrauten Gattin achten für uns auf alles, was in den lokalen Blättern erscheint. Margaret Atwood hat heute ihren 80. Geburtstag. Sie ist mit der Fortsetzung von „Der Report der Magd“ derzeit in vieler Munde, den Nobelpreis für Kanada bekam Alice Munro. Ob es wie bei Peter Handke ausgleichende Gerechtigkeit gibt, dem nach Elfriede Jelineks Preis jeder prophezeite, das sei es nun für ihn gewesen, will ich nicht prophezeien, es gäbe anschließend auch wenig Grund für irgendeinen Migrationshintergründler aus Ex-Jugoslawien, gegen die graue Preisträgerin zu wettern wegen politischer Unkorrektheit. Heute ein Negativ-Rekord an Schritten.
17. November 2019
Die ersten Sätze meiner Kritik habe ich geschrieben, was freilich für den Sonntag nicht viel bedeutet nach dem reichlichen Hotel-Frühstück. Der ICE kommt zehn Minuten später und trotzdem pünktlich in Erfurt an. Einen Hinweis auf ein leer gefressenes Bordrestaurant wie am Freitag gibt es nicht, wir hätten es ohnehin nicht frequentiert. Ein Mathematiker-Pärchen wie am Freitag gibt es auch nicht, es sprach am Stück eine Stunde über n gleich n-Fälle und Lösungswege, die der eine Dozent anerkennt, der andere mit einem Punktabzug bestraft. Die Mathematikerin besucht zwar die Lehrveranstaltungen, weiß aber nicht, wie der Mann vorne aussieht oder gar heißt. Herrlich ist doch die Mathematik. Am Abend gibt es 30 Jahre Lena Odenthal mit Ben Becker. Ulrike Folkerts kann tatsächlich auch spielen, wenn man sie lässt. Ich versuche, meine Hermannsschlacht-Datei noch etwas zu modernisieren, ehe ich die begonnene Besprechung fortsetze. Ein reizendes Reiz-Thema.
16. November 2019
Wer für die kurze ICE-Strecke von Erfurt nach Leipzig keine Platzkarte reserviert, muss unter Umständen stehen. Ich stand. Ich habe in den letzten sieben Wochen so viel gestanden, kombiniert mit Hebe- und Tragearbeiten, dass mir die kurze Zeit wenig ausmachte. Hätte ich geahnt, was mich heute für eine seltsame „Hermannsschlacht“ im Schauspiel Leipzig erwartet, wäre ich wohl weniger enthusiastisch losgelaufen. Immerhin: das bleibende Erlebnis des Tages war der Zoo Leipzig. Wir sahen im Koala-Haus zwei ruhig Eukalyptus mampfende Koalas, was unter Glück zu verbuchen ist, denn die schlafen 18 bis 20 Stunden am Tag. Wir sahen mit ihrer Zunge weiches Futter züngelnde Schuppentiere, die man, so die Wärterin, in dieser Beschäftigung auch nur selten sieht. Ein eben noch in der Hand präsentiertes Kugel-Gürteltier machte seinem Namen alle Ehre und kugelte in eine Mulde, wo es liegen blieb. Was ist dagegen ein Kleist aus dem Text- und Rollen-Häcksler?!
15. November 2019
Die gute Nachricht kurz vor der Abreise nach Leipzig: der Sperrmüll-Rest von Dienstag ist entsorgt. Alles ging, von Auftrag bis Erledigung des Auftrages, in weniger als zwei Stunden über die Bühne. Dagegen der kommunalisierte Abfallwirtschaftsbetrieb des Ilm-Kreises: Antrag auf Entsorgung wochenlang vorher, Termin der Entsorgung wochenlang später, die Hälfte bleibt dennoch stehen. Statt alles mitzunehmen und die Mehrmenge in Rechnung zu stellen zu Gunsten der kreislichen Einnahmeseite, überlässt der beauftragte Ilmenauer Umweltdienst privaten Anbietern gute und fix generierte Einnahmen. Man kann dies Wirtschaftsförderung auf Umwegen nennen oder aber auch als postsozialistische Ignoranz gegenüber wirtschaftlicher Betriebsführung betrachten. Immerhin verschaffte mir der Ärger mit dem AIK das Vergnügen, einer bürgerfernen Argumentation einer Beraterin zuhören zu dürfen, die mich zudem auch noch anmaßend nannte. Weiter so, Ilm-Kreis!
14. November 2019
Früher war Grünheide berühmt für Robert Havemann und die ihn rund um die Uhr bewachenden Brigaden der Sozialistischen Spitzelarbeit. Jetzt will Elon Musk hin und Elektroautos bauen, dazu Arbeitsplätze schaffen noch und nöcher. Da sollten sich die Herrschaften, die sich derzeit um die Doppelspitze der ältesten deutschen Sinkflugpartei bemühen, mal einige Scheiblein abschneiden. Stattdessen kommt Olaf Scholz auf die grandiose Idee, Kaninchenvereinen, die sich nicht der Aufnahme von Füchsen und Schlangen öffnen, die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Die erste Welle des Aufschreiens ist durch, wie ich gestern spät sehen konnte. Noch ist es nicht lange her, als Harald Martenstein darauf hinwies, dass ein Knabenchor, der Mädchen aufnimmt, kein Knabenchor mehr ist, sondern ein gemischter Chor und in den konnten schon immer Mädchen aufgenommen werden. Volker Braun, der 80 wurde im Mai, nannte dergleichen die „Eskalation des Blödsinns“.
13. November 2019
Um 12.12 Uhr verließen wir letztmalig die nunmehr leere Wohnung meiner Mutter, ich hängte die drei Schlüsselpaare an den Türdrücker der Vermieterin, riet später zum Verkleben des Briefkastens, um unnütze Entsorgungen zu vermeiden. Vom Sperrmüll, der gestern abgeholt werden sollte, ist nur ein Teil verladen worden, der Rest stapelt sich noch immer auf dem Bürgersteig. Genau 47 Tage hat es gedauert bis heute, unser Auto hat als Nachlasstransporter sechs Wochen hart zu tragen gehabt. Zu Hause dann ein seltsames Gefühl: Nie mehr nach Gehren. Nur noch zum Friedhof gelegentlich. Oder wenn ein Klassentreffen ansteht. Zu Hause Fotoalben durchblättert. Meine Mutter hat meine dringliche Bitte, alles zu beschriften, akribisch befolgt, ich besitze nun einen Schatz an Bildern aus der Familiengeschichte bis Anfang des vorigen Jahrhunderts zurück. Nur nebenbei Gedanken an Werner Weber, dessen 100. Geburtstag heute ein lange und doch vergebens geplanter Termin war.
12. November 2019
Meine Mutter hat, wie es Mütter eben so tun, meine Artikel gesammelt und in flachen Schachteln verstaut. So sehe ich beim Sortieren vor der vorletzten Ausfahrt nach Gehren, morgen geben wir die Schlüssel endgültig ab, in geballter Ladung auch all die Sachen, auf denen ich selbst zu sehen bin, denn in der ersten Arnstädter Zeit hatten meine Suhler Bosse wenig Lust, in der neuen Dependance zu repräsentieren: ich übergab die wohltätigen Schecks, ich schaute in die Kamera oder auch nicht. Die Lust nahm später weiter ab. Auch meine Kolumnen finde ich alle und weil nun eben wieder die so genannte fünfte Jahreszeit begonnen hat, stelle ich eine olle Kamelle von 2000 in meiner Rubrik ALTE SACHEN neu ins Netz. Ich denke, ich war wohl einer der wenigen Journalisten im Lokalen, vielleicht der einzige gar, der so lange so regelmäßig eine Kolumne bediente. Das müsste nun nur noch jemandem auffallen, das meiste liest sich, sage ich in aller bescheidenen Eitelkeit, recht gut.
11. November 2019
Hans Magnus Enzensberger, der das Lausbübische im Gesicht auch noch an seinem heutigen 90. Geburtstag nicht verloren hat, gehört zu den Opfern meines nun in der siebenten und finalen Woche sich befindenden Haushaltsauflösungs-Marathons. Ich hätte gern über ihn geschrieben, zumal er für diverse Themen immer gute Vorlagen liefert. So aber: der letzte und brachialste Angriff auf den Nachlass meiner Mutter: mit kräftigen jungen Männern gelangt alles, was niemand will und verwerten kann, auf einen Sperrmüllberg. Das große Bücherregal wird demontiert und bei einem meiner ältesten Schulfreunde neu aufgestellt. Alles, was Holz ist, landet zerlegt und zerschlagen auf einem Haufen, der Brennholz werden möchte. Auslegware wird gerollt, Teppiche ebenso, die ersten Hintergründler umschleichen den Haufen an der Straße schon, ehe wir ihn zu Ende gestapelt haben. Eine alte Stehleiter und ein uralter Riesenkoffer mit Gardinen drin geraten direkt in farbige Hände.