Tagebuch

17. April 2019

Fast schüchtern die Frage des Landrates, ob er denn das Richtige getroffen habe mit seinem Präsent zu meinem runden Geburtstag, lang ist es her, er hatte das Richtige getroffen: eine Biographie des damals noch lebenden Literatur-Nobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez mit dem Titel „Reise zum Ursprung“. Das voluminöse Buch ist inzwischen in die zweite Reihe gerutscht, der Landrat ist längst ein Ex-Landrat. Garcia Marquez ist heute schon wieder fünf Jahre tot. Ich könnte zum Vergleich einen Ex-Landtagsabgeordneten heranziehen, der mir auch ein Buch schenkte, die Frage aber unterließ, ob er das Richtige getroffen habe, denn er hatte das Falsche getroffen. So geht es. Eine Anfrage aus dem Büro des Oberbürgermeisters, worüber ich mich freuen würde, wird es auch nicht mehr geben. Es gibt eine stuhlgebundene Wichtigkeit, die man verliert, wenn man den Stuhl verliert. Man tröstet sich dann mit anderen Wichtigkeiten, die im So-und-nicht anders-Sein liegen.

16. April 2019

Unfassbar: Notre-Dame in meterhohen Flammen. Die allerersten Fotos, die ich in Paris machte, es war am 17. Mai 2002, waren wie selbstverständlich Fotos von Notre-Dame. In jungen Jahren las ich gefesselt buchstäblich bis zur letzten Seite Victor Hugos „Notre-Dame von Paris“. Im Register steht der Roman als Nummer 500 unter dem Datum des 24. Oktober 1968. Natürlich sah ich Anthony Quinn als Glöckner, Charles Laughton als Glöckner. Unfassbar: Notre-Dame, wie man die Kathedrale kennt, ist nicht mehr. Eigentlich wollte ich heute wenigstens einige Zeilen zu Anatole France schreiben, Heinrich Mann zitieren, Richard von Schaukal zitieren, an meine Dissertation denken, für die ich beinahe einen France-Roman als Material verwendet hätte, weil er Fortschritt thematisierte. Vom Quartier Latin her fotografierte ich am 16. Mai 2003 erneut Notre-Dame, fast auf den Tag ein Jahr später: der hintere Turm, der gestern einstürzte, fast genau in der Bildmitte.

15. April 2019

Ein wenig musste ich suchen, mein großes Register verlässt mich aber am Ende nicht. Als 55. Titel des Jahres las ich am 30. Mai 1981 „Es hat am Vorabend geregnet“ zu Ende, sechs Erzählungen von Fernando Namora. Es ist ein Weilchen her, dass der schreibende Arzt, der zu den namhaftesten Vertretern des portugiesischen Neorealismus zählte und heute seinen 100. Geburtstag hätte, leidlich  bekannt war. Jetzt fehlt er selbst im ZEIT-Literatur-Lexikon, KINDLER hat ihn natürlich noch. Nach und neben dem Literatur-Nobelpreisträger José Saramago, der auch nicht mehr lebt, taucht Antonio Lobo Antunes am häufigsten in unseren Feuilletons auf. Das war es dann aber auch schon beinahe. Selbst eine kurzzeitig erhöhte Aufmerksamkeit für das kleinere Land auf der iberischen Halbinsel im Falle, dass es Gastland einer hiesigen Buchmesse ist, hilft im Ganzen kaum. Eben erst bewies der großmediale Umgang mit Tschechien in Leipzig wieder die Normalität des Vorgangs.

14. April 2019

Erstmals hatte ich das zunächst zweifelhafte Vergnügen, in Meiningen eine Pressekarte für den ersten Rang, Reihe 2, ausgehändigt zu bekommen. Als ich dann aber auf meinem Platz saß, sah ich gut, erkannte fern ganz vorn unten links Anja Lenßen und Vivian Frey, oben nicht weit von mir den Intendanten, alle drei zeigten am Ende heftigen Beifall, das Gastspiel des Theaters aus Heidelberg beeindruckte also auch die Theaterpraktiker. Um „Der gute Mensch von Sezuan“ habe ich mich bisher immer zart gedrückt, war nicht ärgerlich, wenn ich wegen eines Paralleltermins verzichten musste. Nach diesem Sonnabend-Erlebnis wird sich das ändern. Meinen eigenen Text dazu werde ich trotzdem erst morgen zu Ende bringen. Wenn der erste Absatz steht, schreibt sich der Rest fast immer zügig hinterher. Nebel und Schneefall verhindern sonntägliche Spaziergänge. Ich nerve die Frau an meiner Seite mit dem Hinweis auf den morgigen letzten Montag ihres langen Arbeitslebens.

13. April 2019

„Der Feierabend eines Schriftstellers, der gute Werke veröffentlicht hat, wird vom Publikum mehr geachtet als die betriebsame Fruchtbarkeit eines Autors, der nur die mittelmäßigen Werke vermehrt. Das Schweigen eines Menschen, der bekannt ist dadurch, dass er etwas zu sagen hat, macht mehr Eindruck als das Geschwätz des Redseligen.“ Geschrieben hat das Nicolás Chamfort, der am 13. April 1794 in Paris starb und den französischen Moralisten zugerechnet wird wie Vauvenargues. La Rochefoucauld, Montesquieu, Galiani, Joubert, Fürst von Ligne. Meine fünfte „Faust I“-Kritik zum gestrigen verschneiten Theaterabend in Arnstadt steht im Netz, ich war lange nicht dort, wo ich vor Jahren noch die Kämpfe um die Neu-Eröffnung erlebte und jetzt Mühe habe, den Namen der sehr engagierten Kulturamtsleiterin zu erinnern, deren Mann ein Chefarzt war, den ich auch ganz gut kannte. Mir wurde geholfen, der Chefarzt wirkte im Haus am Wollmarkt, in dem ich geboren bin.

12. April 2019

Morgen feiert Hans Christoph Buch seinen 75. Geburtstag, heute liegt sein neues Buch „Tunnel über der Spree“ in meinem Briefkasten. Ich werde es in aller Ruhe lesen und dann auch darüber schreiben. Ebenfalls im Briefkasten: Heft 1 vom diesjährigen PALMBAUM, ich sah ihn schon am vergangenen Sonnabend in Weimar, bin aber in der Reihe der zu beliefernden Abonnenten sicher ähnlich weit hinten wie auf allen Anwesenheitslisten, weil ich nicht Ackermann, sondern eben  Ullrich heiße, hinter mir folgen nur noch V bis Z. Im Heft ein Mail-Wechsel, der mir sehr bekannt erscheint, obwohl ich ihn erst jetzt zu lesen bekomme. Im Heft drei Gedichte aus dem neuen Band von Annerose Kirchner, der sehr schön im Thüringen Journal des MDR vorgestellt wurde, als ich dieses ausnahmsweise einmal sah wegen einer Razzia in Ilmenau. Im Heft ein Stück Prosa von Elisabeth Dommer, das dömmer kaum beginnen kann. Liest da irgendjemand vorher die Texte?

11. April 2019

Das war er nun: der erste Neujahrsempfang des Oberbürgermeisters, der kein Neujahrempfang war, sondern ein Jahresempfang. Der Bürgermeister ist jetzt eine Bürgermeisterin und der neue OB hat ein sieben Wochen altes Baby mit in der ersten Reihe liegen, denn sitzen kann es selbstredend noch nicht. Die junge Frau neben dem Oberbürgermeister ist die Gattin des Oberbürgermeisters nebst Mutter seiner Kinder, was gut ankommt. Die neue Bürgermeisterin begrüßt die Gäste wie das der alte Bürgermeister mit dem Pferdeschwanz auch tat, der jetzt Beigeordneter der Landrätin ist. Die Landrätin umarmt den neuen Oberbürgermeister, was sie mit dem alten Oberbürgermeister so nie  tat. Dafür brachte sie immer die Genehmigung für den Haushalt mit, was diesmal ausfiel, weil der Haushalt heute erst beschlossen wurde. Am 28. August 2010 lobte ich Sigrid Damm in der TA für ihr Ilmenau-Marketing in „Goethes letzte Reise“, Ilmenau dankt ihr spät mit einer Ehrenmedaille.

10. April 2019

Wer Triest denkt, denkt gern Schmelztiegel. Ich will nicht orakeln, wie viele Menschen sämtlicher Geschlechter auf Anhieb wissen, was ein Tiegel ist, in ihm kann man nämlich nicht nur schmelzen sondern auch Spiegeleier braten. Wie auch immer, in Triest wurde heute vor 80 Jahren Claudio Magris geboren. Vermutlich wäre mir sein Name nicht oder erst sehr viel später aufgefallen, wäre er mir nicht im Zusammenhang mit Joseph Roth aufgestoßen. Seinen beiden ersten Büchern über den habsburgischen Mythos und die verlorene Welt des Ostjudentums bin ich ein Weilchen hinterher gejagt, ehe ich sie fand. Dass für Triest eine eigene Mannschaft bei der Friedensfahrt startete wie auch eine seltsame andere aus in Frankreich lebenden Polen in den frühen Jahren des Radrennens, werde ich wohl erst vergessen, wenn mir mein Name entfallen ist. Kindliche Begeisterung für den Täve-Schur-Sport prägte mich anhaltend und nun werde ich wohl auch bald einmal Triest sehen.

9. April 2019

Ich habe noch eben rasch einen Blick in eine sehr kleine Schrift von Arnold Stadler geworfen, weil der heute 65 Jahre alt wird und in meinem Österreich-Regal damit nach ganz unten rechts geraten ist. Das Textchen heißt: „Anfrage zum 28. August 1999: Was sagt Ihnen Goethe?“ Stadler stellt dort Goethes Gedichte ganz weit oben auf: „Ich kenne niemand, der derart naheliegende, kühne Worte gefunden hätte für das, was war.“ Stadlers Beispiel: das Wort morgenschön. Und: „Ich staune immer wieder, dass dieser Mensch ein langes Leben lang immer wieder die schönsten Gedichte  seiner Zeit schrieb, von Anfang an und bis zuletzt.“ Staunen, meine ich, ist einigermaßen das Beste, was einer sich erhalten kann, ob hier oder in Österreich. Auf der Seite, die dem Goethe-Stück folgt, zitiert Stadler übrigens einen ziemlich unbekannten Brecht, „Über die Verführung von Engeln“. Das Buch, in dem ich blättere: „Erbarmen mit dem Seziermesser“. Schöner Titel das, Glückwunsch!

8. April 2019

Ein sehr guter Freund von mir gestand mir eines schönen Tages, er lese nur noch Bücher zweier Autoren: Christa Wolf und Christoph Hein. Ich könnte diese minimalistische Vorliebe mit beiden Vornamen familial in Verbindung bringen, unterlasse es aber ebenso wie den gendergerechten Plural. Christa Wolf ist zum abgeschlossenen Sammelgebiet geworden. Christoph Hein wird heute 75 Jahre alt und nervt mit einem neuen Buch derzeit das westdeutsche Groß-Feuilleton. Zuletzt schaffte er das mit dem Roman „In seiner frühen Kindheit ein Garten“, mit dem er sich in die ureigenen Angelegenheiten Ur-Westdeutschlands einmischte, für die Deutungshoheitsrechte auf Lebenszeit vergeben waren. Für die Groß-Feuilletons ist die Gelegenheit von Falschbehauptungen aus der Feder eines Beinahe-Groß-Autor eine gefundene Mehlspeise. Nicht nur Claas Relotius und Dirk Gieselmann: auch Hein. Ich hatte schon 1990 einen Kollegen, der ganze Interviews frei erfand.

7. April 2019

Ich hasse Max Frisch. Diese Überschrift eines Großartikels in der heutigen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung macht natürlich extrem neugierig. Wäre der Satz von mir, würde er fast niemanden interessieren. Der Satz ist aber von Sibylle Berg, der Schweizerin aus Weimar. Sie muss ihren neuen Roman vermarkten, der zwar erst am 11. April erscheint, aber vorab auch einen guten Seitenfüller liefert. Früher gab es bisweilen Sperrfristen und Streit um die strenge Einhaltung derselben. Mal sehen, welche Zeitung wie schnell nachzieht und ob Sibylle im ZEIT-Magazin die Traum- oder die Rettungsrubrik freigeräumt bekommt. Ich würde nie sagen: Ich hasse Sibylle Berg, obwohl sie mir durch das Gewese um ihre Person regelmäßig auf den Wecker geht. Ich habe auch nie gesagt: Ich hasse Elfriede Jelinek, obwohl ich seit der für meinen Vortrag über sie nötigen Hardcore-Recherche sofort von posttraumatischen Belastungsstörungen befallen werde, sobald mir ihr Name begegnet.

6. April 2019

Mein erster Gedanke gestern nach diesem Büchner in Meiningen: Lass Bulgaren aus Frankreich kommen, Gott des Theatergemetzels, dann wird alles gut. Was für ein schöner, schöner Abend! Heute geht es sicher weniger vergnüglich zu, an unserer Jahreshauptversammlung in Weimar in der Eckermann-Buchhandlung wird auch keine leibhaftige Botschafterin teilnehmen. Immerhin: ich werde in aller Stille die üblichen Gedichte belauschen, die verteilten Reden und die Debatten, die an Überraschungswert im Lauf der Jahre nicht zugenommen haben. Vor 25 Jahren besichtigten wir die Ausgrabungen von Pompeij und bestiegen den Vesuv. Wo es übel kalt wurde. Es rauchte brav im Krater, ein Bröcklein vom Vulkangestein lag jahrelang noch in unserer Durchreiche hinter Glas, es gab auch einen Stempel oben als Beleg, man sei dagewesen. Muss man dabei gleich noch an Goethe denken? Nur wegen des Namens der Buchhandlung? 2019 steht uns gleich zweimal Italien bevor.


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