Tagebuch

14. Februar 2019

Am 14. Februar 1989 rief Irans Ayatollah Chomeini dazu auf, den Schriftsteller Salman Rushdie zu ermorden. Rushdie musste seine zahlreichen Interviews danach an völlig geheimen Orten geben, die jeweils nur die Interviewer kannten. Ob er seine nachfolgenden Bücher in abgedunkelten Zimmern schrieb, damit kein Licht nach außen drang, ist nicht überliefert. Wie der italienische Ayatollah hieß, der Roberto Saviano zum Tode verurteilte, weiß ich nicht, lese allerdings Savianos zahlreiche Beiträge in der ZEIT seither nicht mit wachsendem Interesse, sondern eher selten, zumal die in Venedig schreibende Investigativ-Autorin Petra Reski ja mittlerweile ebenfalls vom Tod bedroht ist. Meine Lieblings-Plastik-Tüte, die seit Jahren jeden Donnerstag das mittlere Wunder vollbrachte, drei Zeitungen quer aufzunehmen inklusive der inliegenden Werbung, ist heute irgendwo auf dem Weg aus meinem Rucksack verloren gegangen. Mangels Gewicht erzeugte sie wenig Verlustgefühl.

13. Februar 2019

Als ich mit Hilfe meines Trittstühlchens aus der obersten Russland-Reihe meinen einzigen und dazu noch sehr schmalen Band Iwan Krylow holte, ahnte ich nicht, dass dies Büchlein mit seinen genau 100 Fabeln seit ewigen Zeiten das einzige ist, das ein deutscher Verlag von dem Mann druckte, den man modisch als eine Art russischen Gellert sehen könnte, was er natürlich nicht war. Aber man nennt ja auch Tomas Espedal den norwegischen Camus, was er natürlich nicht ist. Der Diplom-Physiker Manfred Orlick hat, was seltsam genug anmutet, als einziger heute einen Gedenkbeitrag zum 250. Geburtstag Krylows publiziert. Er bezeichnet die Übersetzung von Ferdinand Löwe (1809 – 1889) als die „noch heute gültige“, was die Frage aufwirft, ob es denn überhaupt andere damit konkurrierende Übertragungen gibt. „Wenn einer nicht versteht zu denken, / Der Platz, den man ihm gab, macht ihn nicht klug.“ („Der Parnass“). Das sieht die Landtagsverwaltung auf alle Fälle anders.

12. Februar 2019

Auch in Ilmenau kann es einmal ein Jahr geben, das mit vorläufiger Haushaltsführung beginnt. Das bedeutet nur, dass Rechnungen einfach etwas später bezahlt werden als in den vielen, vielen Jahren, da die Stadt einen beschlossenen und genehmigten Haushalt hatte wie eben unter unserem alten Oberbürgermeister. Man hofft im Rathaus, es werde wieder. Dass Thomas Bernhard vor 30 Jahren starb, war sein Pech, er erlebte so den finalen Niedergang des real dümpelnden Sozialismus nicht mehr. Der SPIEGEL hat vor zehn Tagen einen Blick in Bernhards Kleiderschrank gewährt und die vielen sichtbaren Krawatten als „mit soldatischer Akkuratesse“ gehängt bezeichnet. In meinem Armeespind hing nie auch nur eine einzige Krawatte. Freilich stehen in meinem Bücherregal für die Österreicher auch nur zwei ziemlich verhärmte Bernhard-Bände, hinzu kommt etwas in einigen Anthologien. Verglichen mit mehr als 80 Büchern von Günter Kunert ist das so gut wie gar nichts.

11. Februar 2019

Manchmal ist Müdigkeit nach einer langen Dresdner Nacht von Vorteil. Die zu schreibende Kritik entspringt keiner spontanen Verärgerung mehr, es bleibt Zeit, die Beobachtungen noch einmal zu überdenken. Heute bin ich sicher, mein erstes Urteil nicht revidieren zu müssen. Meine zwanzig Seiten Niederschrift zu Else Lasker-Schülers „Die Wupper“, auch schon wieder vier Jahre alt,  bleiben verwendbar, nur nicht zum heute anstehenden 150. Geburtstag der Dichterin, wie sie zum 70. Todestag 2015 aus Zeitgründen auch schon in die Warteschleife rutschten. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, sagt das nicht immer dumme Sprichwort. In der Post heute die Lieferung zweier neuer Bücher von Günter Kunert, zu dessen rundem Geburtstag am 6. März ich wenigstens eines gelesen haben will. Darunter sein zweiter Roman, geschrieben 1974/75. Den ersten, „Im Namen der Hüte“, fand ich weit besser als die Kritiker im Westen ihn sahen, allen voran Marcel Reich-Ranicki.

10. Februar 2019

Ehe ich am 15. August 2011 auf meiner fast noch jungfräulichen Website www.eckhard-ullrich.de meine erste Kritik zu einer Inszenierung von „Kabale und Liebe“ veröffentlichte, hatte ich bereits sechs andere Bühnenfassungen und zwei Verfilmungen gesehen, die 1959er in der Regie von Martin Hellberg, die neue in der Regie von Leander Haußmann. Ich wusste also vor der Aufführung des Theaters Plauen/Zwickau bereits, was man in Weimar, in Meiningen, in Düsseldorf, in Rudolstadt und in Berlin an der Schaubühne und im Deutschen Theater daraus gemacht hatte. Und war auf dem Heimweg aus dem Staatsschauspiel Dresden gestern dezidiert der Meinung, das Schiller-Stück noch nie so schwach, teils wirklich jämmerlich, gesehen zu haben. Nie schrieb ich in der Dunkelheit mehr in mein Notizbüchlein, um nur ja nichts von all dem Unfug, den Fehlleistungen, zu vergessen. Mein Freund erklärt, was ich für blöd hielt, als Absicht der Regie. Was nichts besser macht, leider.

9. Februar 2019

Dieser Tage sah ich zu späterer Stunde ein Porträt von Claudia Michelsen, die zur überschaubar kleinen Zahl meiner Lieblingsschauspielerinnen gehört. Ich sah sie vor Dresdner Kulissen mit Christine Hoppe, der Tochter Rolf Hoppes, mit der sie seit ihrem zwölften Lebensjahr befreundet ist. Ich sah sie ins Staatsschauspiel gehen, nicht in dem Gedränge natürlich, das ich stets erlebe, wenn ich das Haus gegenüber dem Zwinger betrete, sondern leer für die Fernsehkamera. Wenn ich heute nach Dresden fahre, den zweiten Schiller des Jahres zu sehen, führe ich einen Artikel mit mir, den ich der Titelseite des Jakob-Augstein-Blattes „derfreitag“ entnahm. Dort meuchelt ein Kritiker mit großer Heftigkeit und meinen Argumenten die jüngste Dresdner Theater-Untat Volker Löschs, was mich zu der irritierenden Vermutung führt, man könne Mist auch dann charakterisieren, wenn man gar nicht selbst an ihm gerochen hat. Ich sehe „Kabale und Liebe“, unbelehrbar wie ich bin.

8. Februar 2019

Elf Treffer findet meine private Suchmaske auf www.eckhard-ullrich.de bei Eingabe des Namens Ludwig Marcuse, der jüngste stammt von vorgestern hier aus dem Tagebuch, die beiden ältesten sind vom Februar 2012. Marcuse begleitet mich eben. Heute zu seinem 125. Geburtstag wähle ich wegen der Nähe zur einstigen Hochschule für Elektrotechnik auf dem Ehrenberg, jetzt Technische Universität Ilmenau, diese hübsche Passage aus dem Buch „Denken mit Ludwig Marcus“: „Hält einer einen Vortrag über Elektrizität und erwähnt dich nicht, obwohl du Straßenbahnschaffner bist: greife ihn an! Er leugnet durch sein Verschweigen deine Existenz.“ Die Schaffnerfeindlichkeit war, dürfen wir sagen, wahrscheinlich eine Art getarnter Frauenfeindlichkeit. Ein Nachschlag: „Besser sich allein langweilen als in Gesellschaft. Man kann ungenierter gähnen.“ Zweiter Nachschlag: „Jede Zeit überschätzt ihre lauten Ketzer.“ Marcuse starb am 2. August 1971. Als leiser Ketzer?

7. Februar 2019

Wenn es dafür ein Bezahlmodell gäbe: WIKIPEDIA findet in 0,55 Sekunden 411 Millionen Treffer bei Aufruf des Namens Howard Fast. Auf Platz 7 von diesen vielen Millionen stehe ich mit dem Beitrag, den ich zum 100. Geburtstag 2014 schrieb. Ich hätte den Suchbegriff gar nicht eingegeben, wenn mir nicht das leicht zerflederte Heft in die Hände gefallen wäre mit dem Titel „Das Massaker von Chicago“, geschützt in einer Klarsichtfolie gemeinsam mit dem etwas besser erhaltenen Heft „Amerikanische Intellektuelle im Kampf um den Frieden“. Darin wiederum liegt, absichtlich oder unabsichtlich vergessen, eine textile Serviette mit dem Datum 25. Oktober 1974, Ort das Hotel „Stadt Berlin“. Das IML (Institut für Marxismus-Leninismus bei ZK der SED) feierte dort und damals sein Silber-Jubiläum (1949 gegründet) mit Sprüchen wie „Wer keine Pause macht, kann nicht gearbeitet haben!“ oder „Unser Standpunkt ist kein Stehpunkt!“ Die Endstation: Antiquariat!

6. Februar 2019

Geschichten, in denen einer mit 67 stirbt, gehen mir näher als Geschichten von Hundertjährigen, die aus dem Kellerfenster steigen und ihren Hut dabei verlieren. Ich lese die seltsame Erzählung „Von der Kunst“, mit der August Strindberg seinen Zyklus „Abschied von Illusionen“ eröffnete, eine Notiz mit hartem Bleistift zeigt mir, dass ich das vor mehr als 20 Jahren schon einmal tat, weitere Spuren müsste ich im alten Tagebuch suchen, wozu mir aber die Neugier fehlt. Im Mai 2007 sah ich in den Meininger Kammerspielen „Fräulein Julie“ und es dauerte danach fünf Jahre, bis ich mir den „Totentanz“ vornahm, eine Enttäuschung, gemessen am Ruhm des Werkes. Und alles nur, weil ich gestern zu später Stunde, nach dem Elfmeterschießen, Ludwig Marcuses „Strindberg“ durchblätterte mit Blick auf Marcuses 125. Geburtstag übermorgen. In „Mein zwanzigstes Jahrhundert“ las ich mich fest, Kapitel 2, Abschnitt 2: „Weimar, zweiter Teil: 1919ff“. Schreiben werde ich aber nichts.

5. Februar 2019

Kein Blödsinn ist groß genug, dass er nicht noch übertroffen werden könnte. Eine Dame von der Universität Bochum äußerte anlässlich der Auszeichnung eines österreichischen Schlagermannes mit dem Karl-Valentin-Orden einer Münchener Karnevals-Gesellschaft, Karl Valentin sei „so viel differenzierter und so viel klüger“ gewesen als der Unwürdige jetzt. Nach dieser Logik dürfte es in Deutschland weder einen Goethe-, noch einen Schiller-Preis geben, keinen Kleist-Preis, keinen Georg-Büchner-Preis. Nicht einmal der Hans-Huckebein-Preis wäre sicher vor Tilgung, man muss sich nur vergegenwärtigen, dass er den Namen eines Raben trägt, der sich besoffen versehentlich selbst erhängte. Wen macht solch Preis ernstlich stolz? Meine „Tell“-Kritik habe ich erst heute ins Netz gestellt. Als künftiger Förderpreisträger der Gesellschaft zur Verhütung von Kritikermorden müsste ich von Schreibhemmung fabulieren oder dem Gedichtband, den ich erdichte, es wäre Lüge.

4. Februar 2019

Die Nachricht, die man erwartet, wird dadurch, dass man sie erwarten musste, nicht leichter oder gar besser erträglich. Mein ältester Schulfreund Frank, der seinen 66. Geburtstag nicht mehr bei Bewusstsein erlebt hat, ist erlöst. Anders lässt es sich kaum sagen. Unser beider 65. Geburtstage haben wir noch gefeiert, zu seinem sah alles vermeintlich sehr gut aus, zu meinem reichlich zwei Monate später schon nicht mehr. Man sah ihm an: es ging ihm nicht gut. Es war viel schlimmer, als wir ahnten, wissen wir seit Dezember. Schreiben wollte ich eigentlich von einem ersten Geburtstag vor zehn Jahren, von Jahren, die wegrauschen, unser Geburtstagsgruß zum 11. ist per WhatsApp zum Ziel gekommen. Nun sind da andere Bilder: Silvesterfeiern im „Goldenen Hirsch“, Forellen aus der Wohlrose, die Riesenfeier auf dem Langen Berg, Schulstunden bei Erwin Tesch, Fahrten der Goetheschulklasse nach Freyburg, nach Wittenberg, die ersten Wochen nach der Armeezeit 1973.

3. Februar 2019

Noch immer geistert Claas Relotius durch den gehobenen Blätterwald, man prüft allerorten, wie sehr die jeweiligen Beiträge gefälscht waren, die man dem renommierten jungen Mann auf sehr guten Glauben hin abnahm in den zurückliegenden Jahren. Die Anwälte (Plural) antworten statt seiner, wenn er denn doch einmal selbst gefragt werden müsste. Als es vor Jahren einmal den Fernsehfälscher Michael Born gab, landete der sogar im Gefängnis und als er wieder draußen war, gab er medienkritische Interviews. Es sind also noch nette Entwicklungen zu erwarten. Würde es üblich, alle Fakten auch in den Beiträgen freier Mitarbeiter von Lokalzeitungen zu überprüfen, würden die ihr Erscheinen rasch einstellen müssen, denn der eine freie Mitarbeiter, der immer alle Wochenendtermine im Tiefflug absolviert, damit der Lokalchef Zeit hat, E-Mails zu lesen, falls er da ist, liefert so viel Material, die komplette Gehaltsempfängerschaft in den Burnout zu treiben.


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