Tagebuch

17. Dezember 2023

Nachtrag: Gut, dass ich heute „Lord Hamiltons Bekehrung“ von Jakob Wassermann las, die Nummer 4 aus „Die ungleichen Schalen“. Hätte ich das nicht getan, wäre Theodor Fontanes „Ein Sommer in London“ auf dem Haufen schlicht liegen geblieben, der mir etwas wie eine gestapelte Warteschleife darstellt. Dort gibt es ziemlich in der Mitte ein Kapitel, das „Lady Hamilton“ heißt. Die Hardcore-Fans von Th. F., die immer alles wissen, werden na klar sagen. Ich sage in meiner Entdecker-Naivität: früher oder später hätte ich es gemerkt, wahrscheinlich später. Lord Hamilton sagt übrigens bei Wassermann: „Man habe keine Leidenschaften unter der Würde des eigenen Standes. Und wenn man sie hat, so verberge man sie wie ein unappetitliches Geschwür.“ Der wirkliche Lord Hamilton traf in Neapel unter anderem auch unseren Goethe und Karl Philipp Moritz. Der Wahrheit die Ehre zu geben: die Lady bekehrte den Lord in Italien, nicht in England.

16. Dezember 2023

Nachtrag: Als dritten Einakter von Wassermann nach „Rasumowsky“ und „Gentz und Fanny Elßler“ lese ich heute „Der Turm von Frommetsfelden“ zu Ende, meine Notizen in eigener Datei nähern sich der 10-Seitengrenze. An Sekundärliteratur zum dramatischen Schaffen Wassermanns ist wenig zu berücksichtigen, es wird entweder ganz ignoriert, erscheint nur in der Literaturliste oder ist stiefmütterlich behandelt, wobei die Stiefmütter meist Stiefväter sind. „Mit Schwatzen und Auseinandersetzungen erreichen die Menschen nichts weiter, als dass sie sich so nahe rücken, dass sie keinen Platz mehr zum Atmen haben.“ Auch das einer der vielen pseudoanthropologischen Sätze des Meisters, über die man nicht näher nachdenken darf. Wassermanns irrlichternder Ehrgeiz, eine hauseigene Metaphysik zu basteln und in möglichst dunkle Sätze zu gießen, bleibt nicht auf seine Prosa beschränkt. Dass morgen schon der dritte Advent ist, ist dagegen pure Kalenderphysik 2023.

15. Dezember 2023

Nachtrag: Endlich mein Termin beim Orthopäden, hin werde ich gefahren, zurück laufe ich, was am Ende des Tages die fünften 10.000 Schritte in Folge sichern hilft. Mein linkes Knie, Verdachtsfall für einen zu operierenden Meniskus-Schaden, wird auf diverse Weise gebogen, geknickt, gedrückt und geschwenkt. Diagnose: es ist gesund. Womit die Ursache für meine Schmerzphänomene anders fixiert werden muss. Meine gute alte Spinalkanalstenose von 2022 könnte nachwirken auf diese oder jene oder alle Nervenbahnen, die zum Fuß laufen. Ich bekomme eine Überweisung zum MRT und eine zum Neurologen. MRT suche ich mir selbst und werde wieder nach Erfurt gehen, der Neurologe, ebenfalls in Erfurt, wird mir dezent empfohlen. Jetzt weiß ich ja: Anrufe sind zwecklos, e-mail hilft. Der Heimweg an den Stadtvillen vorbei Richtung Schwimmhalle und Eishalle ist eine gute Abkürzung. Zu Hause ist die freitägliche Feudel-Übung fast beendet, mein Zimmer nutzbar.

14. Dezember 2023

Nachtrag: Der unverwüstliche Lutz Herden schreibt heute im „Freitag“ zu Weihnachtsfeiern über die Westfrontgräben des I. Weltkrieges hinweg, auf dem illustrierenden Foto ein von zwei Eseln gezogener Nachschub-Transport, der Kutscher mit Peitsche, Stahlhelm und umgebundenem Weihnachtsmann-Bart. Am Ende zitiert Herden den als Ignaz Wrobel getarnten Kurt Tucholsky aus der „Weltbühne“ vom 7. August 1924, es war die Nummer 32, der Bericht hieß „Vor Verdun“ und war fast fünf Seiten lang. Da heißt es unter anderem: „Denn das Entartetste auf der Welt ist eine Mutter, die darauf noch stolz ist, das, was ihr Schoß einmal geboren, im Schlamm und Kot umsinken zu sehen.“ Es wäre mutig zu behaupten, dass solche Mütter inzwischen ausgestorben sind. Für eine ganze Zeitungsseite über linken Antisemitismus ist deutlich weniger Mut vonnöten. Mit Palästinensertuch um die Gurgel defilierten junge Einheitsdeutsche noch lange und länger.

13. Dezember 2023

Nachtrag: Der Vormittag zerhackt durch unseren Fußpflegetermin, der aber immerhin neben der zusätzlichen Runde über die Neue Welt ins Dorf zurück mit dem Kauf frischer Eier verbunden ist. Wir wissen von einer Frau, die zeitweise den ganzen Kühlschrank leer kaufte, um die Packung dann für 50 Cent mehr ihrerseits weiter zu verkaufen. Ein schönes Beispiel ländlicher Dreistigkeit. Jetzt kosten die Eier 3,50 Euro, die Raubkäufe haben aufgehört. Max Mell liefert mir Theaterkritiken zu Strindbergs „Fräulein Julie“, zu Gerhart Hauptmanns „Schluck und Jau“ und zu Franz Molnars „Theater“, einem Abend mit zwei Einaktern. Auch ich bin mal wieder bei den Einaktern. Ich begann „Die ungleichen Schalen“ von Jakob Wassermann doch systematisch zu lesen und nicht nur, wie ursprünglich geplant, den „Hockenjos“, dessen Langfassung noch Eloesser besprach. Von ihm ist eine ansehnliche Menge Text zu Wassermann inzwischen versammelt, Basis für Anfang Januar.

12. Dezember 2023

Nachtrag: Erst vier Tage in diesem Monat bin ich auf meine 10.000 Schritte gekommen, heute folgt Tag 5. Das stille Ziel von 15 Tagen ist noch locker erreichbar, wenn das Wetter mitspielt. Am 12. Dezember 1998 heftete ich die Abschluss-Quittung für unseren Peugeot ab, der damit vollständig abgezahlt war. Heute kaum noch Erinnerungen an diesen silbernen Wagen, dessen Kauf wir noch in Großbreitenbach abzuwickeln hatten, weil in Ilmenau die spätere Filiale erst gebaut werden musste. 1998 war ich noch Tee-Kunde bei Paul Schrader, der heute immer noch mit 400 Teesorten wirbt. Damals gab es als Geschenk zur Lieferung vor Weihnachten einen Tierkreiszeichen-Teller. Die Kataloge lagen noch lange in unserem Briefkasten, nachdem wir schon nichts mehr bestellt hatten. Von Schrader stammt meine mintgrüne Teekanne, die phasenweise sogar mit in den Urlaub reiste, wenn wir eine Ferienwohnung gemietet hatten. Ich war (und bin) einfach an ihr Maß gewöhnt.

11. Dezember 2023

Nachtrag: Lese ich heute, was ich vor zwanzig Jahren über das Gespräch mit meinem Personalchef notierte, keine Aktennotiz, sondern eben ein Tagebucheintrag, dann sehe ich, was ein Gedächtnis so verliert und was es behält. Ob vernichtende Sätze über unseren Chefredakteur, über unsere beiden Geschäftsführer als eine Art riskanter vertrauensbildender Maßnahme mir gegenüber gedacht waren oder einfach nur menschlich aus Frustration, weil er letztlich alles auszubaden hatte, auch vor Gericht, wenn es darauf ankam, erfuhr ich nie. Später war er abweisend, als ich noch einmal einen Wunsch hatte. Immerhin erfuhr ich erstmals, um welche Abfindung es für mich ging, erfuhr auch von Rechenbeispielen für eine bezahlte Weiterbeschäftigung. In der Redaktion zeigte mir meine Sekretärin, die noch meine Sekretärin war, das Weihnachtsgeschenk der Volksbank, das Südtiroler Weine enthielt, die ich mochte. Dafür schenkte ich den Kollegen das ganze Präsent der Sparkasse.

10. Dezember 2023

Nachtrag: Hätte die Süddeutsche Zeitung, zu deren Portfolio einst mein Suhler Laden gehörte und deren Anwälte mich später im Stich ließen, als es galt, zwei Mitarbeiter dingfest zu machen, die von ihren Firmencomputern aus gegen mich Stalking-Straftaten begingen, nicht eine Bibliothek von 50 Bänden herausgegeben, die 50 große Romane des 20. Jahrhunderts versammeln sollte, wäre noch heute Jorge Semprún auf meinen Regalen nicht vertreten. So aber steht „Was für ein schöner Tag!“ als Band 17 bei mir zwischen Camilo José Cela und Juan Goytisolo und wartet darauf, gelesen zu werden. Das Fernsehen hat ein Porträt, weil heute Sempruns 100. Geburtstag ist. Er wirkt eher wie der umtriebige und allpräsente Weltmann des Literatur-Jetset, was nicht ganz verwunderlich ist, weil er ja auch ein Kulturminister Spaniens war. In Weimar heißt der alte Sophienplatz, später Rathenauplatz, später Karl-Marx-Platz, später Weimarplatz, seit 2018 eben Jorge-Semprún-Platz.

9. Dezember 2023

Nachtrag: Wolfgang Harich, der heute vor 100 Jahren in Königsberg geboren wurde, ist mir immer fremd geblieben, es bedurfte keiner Enthüllungen später Jahre. Ich erinnere mich an seine Arbeit „Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß“, 1973 in Sinn und Form gedruckt. Aber nicht Harich galt damals mein Interesse, sondern Heiner Müller, den ich dann nach der Biermann-Ausbürgerung in der Humboldt-Universität erlebte. Wie die Mütter an der Seiten- oder Rückwand eines Dorfsaals, wenn die Töchter zum ersten Mal tanzen dürfen, saßen hochrangige Germanistinnen im Senatssaal, um im Fall der Fälle eine aus dem Ruder laufende Debatte mit Müller an sich zu reißen. Es kam nicht dazu. Am 9. Dezember 2003 überraschte mich ein Anruf meines Personalchefs in Suhl, der mich zu einem Gespräch „von Mann zu Mann“ treffen wollte. Wir verabredeten uns zu diesem Zwecke in der „Tanne“ für den 11. Dezember, unser Gespräch dauerte volle anderthalb Stunden.

8. Dezember 2023

Nachtrag: Dass Guy Stern gestern im Alter von sagenhaften 101 Jahren gestorben ist, erfahre ich erst heute, was normal ist. Woher ich seinen Namen kenne, ist unspektakulär: eines Tages kaufte ich antiquarisch ein Buch mit dem Titel „Zum Verständnis des Geistigen“, Verfasser: Efraim Frisch. Über den habe ich inzwischen mehrfach geschrieben, zuletzt zum Termin 1. März in diesem Jahr. Herausgeber des Bandes von Frisch war Guy Stern, er schrieb auch die natürlich von mir benutzte Einleitung. Frischs „Zenobi“ liegt immer noch in Griffweite auf meinem Arbeitstisch. Vor 100 Jahren, am 8. Dezember 1923, präsentierte das Alte Theater Leipzig die Uraufführung von Brechts „Baal“. Alwin Kronacher war damals Schauspieldirektor, es gab einen soliden Theaterskandal, der noch nie einem Autor wirklich geschadet hat, wie wir nicht erst seither wissen. Nach Berlin kam das Stück erst 1926. Max Mell, den ich nun wieder systematisch lese, sah keinen Brecht als Kritiker.

7. Dezember 2023

Nachtrag: Die Theaterkritiken von Josef Hofmiller, die ich gestern und vorgestern las, sollten mir ein Thema für einen kleinen Text sein. Auch weil ich sowohl seinen 150. Geburtstag im vorigen Jahr als eben seinen 90. Todestag im Oktober verstreichen ließ. Nein, ein Theaterkritiker war er nicht. Was nur bedingt gegen ihn spricht. Viele waren es nicht und blieben es trotzdem. Ich kann mich seit heute wieder telefonisch krankschreiben lassen, was mir wenig hilft, denn niemand hat Interesse an meinem Krankenschein. Außerdem gehen Ärzte und Ärztinnen so selten ans Telefon ihrer Praxis, dass es am besten wäre, die Bundesregierung würde im nächsten Schritt erlauben, dass sich Menschen ohne Lese-/Rechtschreibschwäche selbst bei Bedarf krankschreiben. Zu überlegen ist, ob eine eventuell auftretende Häufung von Fällen mit einer Aussetzung der Lohnfortzahlung zu verbinden wäre. Fehlerfreie Selbstkrankschreibungen sollten als Sprachkompetenznachweis gelten.

6. Dezember 2023

Nachtrag: Zu Hause nun endlich die „Selbstbetrachtungen“ begonnen, die natürlich keinen anderen Wassermann bringen. „Jeder Versuch, sich selbst zu sehen, scheitert an der Unabänderlichkeit des Ichseins, und jeder Versuch, sich selbst zu erkennen, an der Ungewissheit des Selbstseins.“ Auf der Basis solcher Überzeugungen Romane und sogar durchaus nette Einakter zu schreiben, scheint mir abenteuerlich: abenteuerlich inkonsequent. Konsequent sind dagegen Lokführer. Ab morgen wollen sie uns wieder alle in Geiselhaft nehmen für ihre hehren Ziele. Vorbei sind die guten alten Zeiten, als Gewerkschafter und Sozialdemokraten den Acht-Stunden-Tag als Sieg feierten und zwar den in einer Sechs-Tage-Woche. Heute müssen es 35 Stunden in einer Fünf-Tage-Woche sein, voller Lohn natürlich inklusive. Als unser oller Karl aus Trier an sinkende Wochenarbeitszeiten dachte, gab es die Fachkraft Lokführer im Dutzend billiger, jetzt müssen sie aus Adams Rippe geschnitzt werden.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround