Tagebuch

10. Januar 2024

Die Kälte dauert an, die Bauernproteste dauern an und Weselskys Kampfgruppen der Arbeiter-, pardon, der Lokführerklasse, legen lahm, was lahmzulegen ist. Wikipedia nennt ihn einen deutschen Lokführer, was besonders in Dresden, wo er 1959, noch rechtzeitig vor dem zehnten Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik, geboren wurde, wichtig scheint. Wenn die ersten Ersatz-Lokführer aus Lampedusa eingeflogen werden, könnte Konfliktpotential entstehen, denn auch andere Firmen im Weichbild der Semper-Oper schulen gern um. So weit, so schlecht. Werfe ich lieber einen Blick in meine Vergangenheit: Am 10. Januar 1994 empfing ich aus den zarten Händen meiner damaligen Hausärztin eine Desensibilisierungsspritze gegen meine Pollenallergie, die immer um den Jahreswechsel heftig wurde wegen Baumhasel und ähnlicher verbrecherischer Pflanzen. Am 10. Januar 1999, es war ein Sonntag, umkreisten wir den Trümmerhaufen unseres „Glasmachers“.

9. Januar 2024

Wenn der deutsche Kaiser stirbt und deutsche Bauern mit ihren deutschen Traktoren deutsche Autobahnen blockieren nebst Innenstädte, dann haben alle anderen das Nachsehen, verdammt noch mal. Lichtgestalten mit Schattenseiten zu haben, wer kann das noch von sich behaupten, wenn nicht wir? Wenn ich das Wort Libero höre, denke ich an die Nationalmannschaft der DDR, die in ihren besten Zeiten mit sieben Liberos spielte, was ihr niemand dankte und auch keine Titel einbrachte. Die Addition der besten Spieler, das wussten wir schon mitten im Unrechtsstaat, führt selten bis nie auch automatisch zu einer guten Mannschaft. Ansonsten erblickte mein müdes Morgenauge die Zahl 15 mit Minuszeichen davor, eine Temperatur draußen bezeichnend, die wir länger nicht hatten, aber uns wohl nun öfter besuchen wird. Wegen Klimawandel. Ist es warm, Klimawandel, ist es kalt, Klimawandel, ist es nass, Klimawandel, trocken dito. Und weit und breit kein Kaiser, der uns hilft.

8. Januar 2024

Es muss heute nicht viel passieren, mir reicht der Blick in alte Tagebücher. 1994 Rückblick auf die Silvestertour in die Vulkaneifel, Debatten über Studienzeit und Staatssicherheit. 1999 nach einer Pause von 14 Monaten wieder einmal eine Bierreise ins Fränkische, von der ich mit 45 neuen Sorten nach Hause kam. Vor der Abfahrt buchte ich kurz entschlossen eine Solo-Woche für mich im Landal Green Park Aelderholt in Holland, es folgten bis 2008 weitere sieben Besuche in anderen Parks der Firma. 2004 war der 8. Januar der erste Tag meines Krankenlagers in Kempense Meren mit leidlichem Befinden, etwas Sonne und dadurch animiert mit einer Fahrt nach Lommel zum großen Soldatenfriedhof. Anders als beim ersten Besuch war ich ganz allein, hatte Zeit für das Totenverzeichnis, schrieb mir alle Gefallenen auf, die Ullrich hießen, fotografierte ihre Kreuze. Am Morgen heute das Geräusch des Schneepflugs, obwohl an Schnee nicht viel liegt in unserer Straße.

7. Januar 2024

Wahnsinn: Es ist mir gelungen, tatsächlich die große Tagebuch-Lücke nach unserer Abreise gen Franzensbad zu füllen. Allein 32 Einträge stellte ich heute ins Netz, 26 davon mit dem Hinweis Nachtrag, für zwei sind mir schon Fehler signalisiert worden, die ich bei nächster Gelegenheit korrigieren werde. Es liegt etwas Schnee heute, die scharfe unangenehme Luft macht mir mehr Probleme, als mir lieb ist, unser Abendspaziergang fällt deshalb kürzer aus als sonst. Als erstes zu Ende gelesenes Buch des neuen Jahres trage ich „Maxim Gorki“ ins Register ein, Ende März des Vorjahres begonnen, dann liegengelassen. Es ist ein merkwürdiges Buch von Hans Ostwald, auf das ich nie gestoßen wäre, hätte nicht Arthur Eloesser Ostwald einmal besprochen. Jetzt erst sehe ich, dass die alten Übersetzungen, die er in seinem Literaturverzeichnis anführt, von 1901 bis 1903, für die große 24-bändige DDR-Gorki-Ausgabe ausgiebig genutzt wurden. Ich beachtete das früher nie.

6. Januar 2024

Plötzlich und unerwartet, für uns alle voll normal, werden die 1964 Geborenen in diesem Jahr 60 Jahre alt. Einige haben es schon hinter sich und dürfen aufatmen, viele müssen bis September warten, in dem die drei Tage liegen, an denen die meisten Menschen geboren werden. Warum sollte es den 1964 Geborenen besser gehen als den 1954 Geborenen, die sogar schon 70 werden, wir reden nicht von denen, die 1944 das Licht der Bombenkeller erblickten: die werden 80, darunter sind etliche, die früher statistisch längst tot gewesen wären. Babyboomer nennt es der Westsprech, der bekanntlich auch von „zwischen den Jahren“ faselt, als ob da etwas wäre. Westväter kannten seinerzeit einfach noch nicht den Marschbefehl von Otto Waalkes in Travemünde vorm Spielcasino: Absteigen! Und die Westmütter durften nicht verhüten, wenn der Papst nicht sein OK gegeben hatte. Heute vor sehr vielen Jahren waren drei allein reisende unbegleitete Könige unterwegs.

5. Januar 2024

„Wir sollen das arge Zuckerbrot, das jeder Erfahrungstag unserem historischen Pessimismus anbietet, nicht gierig schlingen, weil unser romantischer Instinkt heimlich an diesem Pessimismus hängt und ihn nicht lassen will.“ Schrieb Thomas Mann vor reichlich 100 Jahren am Ende seines vierten „Briefes aus Deutschland“. Es klingt mir, weil ich es noch vor dem Frühstück las, als wäre es das Wort zur Woche. Der Ungar László Krasznahorkai wird heute 70 Jahre alt, mein Archiv enthält eine stattliche Reihe von Artikeln über ihn, ausgeschnitten und ausgedruckt. Von seinen Büchern dagegen steht keines bei mir, er versteckt sich in Anthologien. Vor 20 Jahren, 5. Januar 2004, fuhr ich gesundheitlich arg angeschlagen via Belgien nach Kempense Meren, im Tank noch Benzin aus Österreich vom Achensee und brauchte allerhand zusätzliche Kilometer, weil ich einer falschen Anfahrtsbeschreibung im Prospekt folgte. Ich bezog den Bungalow 204 nah am Parkrand.

4. Januar 2024

Auch wenn unser volkstümlichster und am leichtesten lesbarer Erzphilosoph Immanuel Kant erst am 22. April im Kreise seiner Diener seinen 300. Geburtstag feiert: unsere Großmedien feiern vor. Meiner Mutter galt das als ganz schlechtes Zeichen, aber das waren eben noch Ansichten von früher. Die ZEIT hat heute den Immanuel mit Taube, die wir als Friedenstaube deuten dürfen, auf dem Titel und innen füllt er drei Seiten des Fülletongs. Am schönsten aber finde ich die Idee des Zeit-Reisen-Teams, spezialisiert auf schweineteure Touren für gehobene Kreise: man kann zwei Monate nach dem Großjubiläum selbiges im Nachbarland Litauen feiern. Man könnte in ähnlicher Weise eine Mao-Tse-Tung-Tour durch Japan organisieren oder eine Rousseau-Tour durch den Süden Englands. Alles hängt natürlich mit dem Unort zusammen, an dem Immanuel das Licht der Preußenwelt erblickte: Königsberg, die von Stalin an Putin vererbte Exklave des Reichs des Bösen.

3. Januar 2024

Dass zu Ehren eines Dichters ein Kolloquium veranstaltet wird, ist nicht ungewöhnlich, mehr noch, wenn sein 75. Geburtstag zu feiern ist. Ungewöhnlich nur, wenn der Dichter zu diesem Zeitpunkt bereits 50 Jahre tot ist wie Jiři Wolker. Er starb am 3. Januar 1924 in Prostějov in Nordmähren, seinem Geburtsort, wo auch Edmund Husserl zur Welt kam. Das Wolker-Kolloquium fand in Prag statt, am 20./21. Februar 1974. Einen Konferenz-Bericht durften Leser der „Weimarer Beiträge“ im Märzheft 1975 zur Kenntnis nehmen. 1971 veröffentlichte Reclam Leipzig eine Werkauswahl „Ich wachse wie der helle Tag“, 1977 gab es eine erweiterte und nun illustrierte Neuausgabe. Unter den Übersetzern der Gedichte auch Franz Fühmann und Reiner Kunze. Mein Exemplar hat lange still gestanden im Regal zwischen Vitězslav Nezval und Konstantin Biebl. Von dem aber besitze ich eine Rarität: „In Memoriam Jiři Wolker“, Privatdruck in 100 Exemplaren, meines trägt die Nummer 1.

2. Januar 2024

Den gestrigen 90. Todestag von Jakob Wassermann habe ich nicht vergessen, bin nur mit nichts zum Ende gekommen, was eigentlich hätte fertig sein müssen. Wir verließen die Bergstraße kurz vor 11 Uhr, fuhren noch einmal zu Edeka, um Weine und Biere für zu Hause einzuladen. Der angekündigte Schneeregen kam, kratzen mussten wir dennoch nicht, der Matsch ließ sich leicht entfernen. Die Ankunft zu Hause 13 Uhr. Weil Dresden fünf Tage mit uns am Tisch saß, Wasser und Wein trank, eine Erinnerung an Johannes Schönherr, der am 2. Januar 1894 in Dresden geboren wurde, am 29. Oktober 1971 in Leipzig starb. Sein 1924 veröffentlichtes Gedichtbuch „Herz der Zeit“ trägt im Exemplar meiner Mutter eine Widmung von Gertrude Mehlfärber, datiert mit 11. Oktober 1948 in Gehren, es war also ein Geschenk zum 20. Geburtstag, an mich war noch nicht zu denken. Der Name aber war mir geläufig aus manchen alten Erzählungen. Dauerregen ohne Pause, kaum Post.

1. Januar 2024

Weißenstadt: War es am Freitag schon trotz schier endloser Schlange am Eingang und vor den zwei Kassen letztlich erstaunlich leer für einen Tag „zwischen den Jahren“, wie es auf gut Westdeutsch heißt: wir hatten im „Siebenquell“ noch mehr Platz, konnten unsere Liegen, die man nicht belegen soll, belegen mit unseren Liegetüchern, Kopfhandtüchern, saßen allein im Dampfbad und die Aufgüsse boten bis auf einen am Nachmittag immer genug Restplätze. Das regnerische Wetter ließ uns am Abend dem eigentlich eingeplanten Fußmarsch zum „Deutschen Haus“ entraten und die schnöde Fahrt mit dem Tesla antreten. Der kurze Gedanke an eine eventuell nötige Suche nach einem Parkplatz entfiel sofort, als wir den Markt erreichten. Wir nahmen die vier Plätze, die uns schon vorgestern zugefallen waren und brauchten die Karte nicht erst zu studieren, weil wir das bereits vorab erledigt hatten. Traumhaftes Essen: Fischsuppe, Ente, ein Dessert wie im Bilderbuch.

31. Dezember 2023

Nachtrag: Wir beenden das Jahr mit einem Hecht-Essen in der Wohnung, ich werfe vorher und später meine beiden verbliebenen Riesling-Sekte extra trocken von der Nahe ins Rennen. Der vormittägliche Versuch, noch einmal kurz in die Therme zu gehen, scheitert an den Gruselpreisen für Kurzaufenthalte. Wir vertrösten uns auf morgen. Meine Jahresbilanz Nummer 1: 218mal hatte ich mehr als 10.000 Schritte auf der Uhr. Meine Jahresbilanz Nummer 2: 30 Übernachtungen außer Landes, davon zwei in Schiffskabinen, mehr hatten wir zuletzt 2011 mit 33 Übernachtungen. Und für 2024 sind fünf Reisen bereits gebucht, die Stammkundenrabatte eingeheimst, Osteuropa bleibt Nachholeziel, aber einmal geht es auch nach Italien. Heute umrunden wir bei leidlichem Wetter fast ohne Regen den Fichtelsee, sehen wieder Biberspuren, viele Leute mit Hunden, wenige Leute, die sich ins eiskalte Wasser stürzen. Planen für 2024 den nächsten Hecht, weil dieser so supergut war.

30. Dezember 2023

Nachtrag: Vor zwanzig Jahren war dieser vorletzte Tag des Jahres insofern ein besonderer, als ich erstmals seit vielen Jahren wieder eine Sauna besuchte, seither, trotz eines wenig guten Befindens danach, zum großen und begeisterten Saunagänger wurde. In Pertisau beging ich den Fehler, keine Ruhe zu genießen, und sofort loszulaufen. Damals widerlegte ich mein Vorurteil nicht gänzlich, die Sauna nicht zu vertragen, bald aber wusste ich es besser. Wir umrundeten heute den Weißenstädter See, sahen die Biberspuren an verschiedenen Stellen. Die Granitstelen mit den Gomringer-Versen sind inzwischen leicht bis mittel bemoost, die große Zahl der Bänke am Weg lässt auch fußlahmen Wanderern die Möglichkeit, mit zahlreichen Pausen herumzukommen. An Sara Lidman, die heute ihren 100. Geburtstag hätte, dachte ich nicht, weil ich schon zu Hause im Schwedenregal nach ihr geschaut hatte. Im „Deutschen Haus“ trank ich einen tollen Trester vom Silvaner nach dem Essen.


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